Der Rand der Welt
Sohn: Mutter, warum ist die Welt so schwer?
Mutter: Weil wir über ihren Rand geschwommen sind.
Sohn: Aber wieso?
Mutter: Unterbrich mich nicht und lausche. Ich will es dir doch erklären. Es ist nur schwer, zu sprechen. Also sei still, damit ich mich nicht wiederholen muss.
Sohn: Ich bin still.
Mutter: Die Welt als Ganzes ist schwerelos. Sie hängt im Gleichgewicht, perfekt gewogen am Schnittpunkt von oben und unten. Unten ist die Welt leicht und freundlich. Sie liefert Nahrung, Raum und Zeitvertreib. Oben ist die Welt schwer und alles zieht uns zurück ins Nass. Doch wie alles seinen Platz hat, liefert uns nur das Oben den Atem.
Sohn: Ich verstehe nicht. Wir sind oben und das Atmen ist so schwer! Die Welt ist kaputt. Was ist nur geschehen?
Mutter: (nachsichtig tadelnd) Du sollst mich nicht unterbrechen. Unsere Zeit im Oben ist begrenzt. Sind wir ihm ausgesetzt, läuft unsere Uhr rückwärts. Entfliehen wir ihm, finden wir Sättigung, aber auch Sehnsucht – die Gier nach Luft und einem Sprung, dem klatschenden Schlagen unserer Fluke – das ist unser Verderben. In dem Oben ist ein schleichendes Gift, das unser Leben stiehlt.
Sohn: (schweigt)
Mutter: (schweigt)
Sohn: Mutter, sprich weiter.
Mutter: (seufzt) Es ist so schwer. Aber gut. Dieses Gift ist aber gleichzeitig das, was unser Leben erhält. Wenn du zu tief tauchst, dich zu lang vom oben entfernst, weil du denkst, du seist stark und unserer Sucht nach Luft entwachsen, fliehen die Geister dich, dein Fleisch färbt sich schwarz und du wirst nimmermehr springen. Und auch die Menschen …
Sohn: (wimmert) Sprich nicht von den Menschen, ich fürchte mich!
Mutter: (gnadenlos) Und auch die Menschen leben im Oben. Gnadenlose Todesfeen, Raubhaie mit einem einzelnen stechenden mordenden Zahn, Blutvergießer, Fettabreißer, Flossenbeißer, Beinmalmer, Walratschlürfer, gemeine, gierige. (holt tief und keuchend Atem) Sie haben die Welt aus dem Gleichgewicht gebracht. Seitdem ist das Oben schwerer als das Unten leicht ist. Und trotzdem zieht es uns an, drückt es uns zur Luft.
Sohn: Schau nur! Ich kann ein Riff sehen. Es ist ganz weit. Die Spitzen voller weißer Korallen, die Flanken voll Seegras. Überall Vögel.
Mutter: Die Menschen sind verkehrte Wesen. Sie taugen nicht für das Unten. Sogar ihre Riffe sind falsch. Stell dir nur vor, sie schwimmen nicht durch ihre Luft, sondern werden auch vom Oben zu Boden gedrückt. Tauchen sie ein, so schnellen sie schon bald zurück nach oben wie ein aufgedunsener Robbenkadaver.
Sohn: Ich würde gern mit ihnen tauschen. Ich will laufen können. Will weg hier.
Mutter: (träumerisch) Stell dir das nur vor. Oben und unten vertauscht. Wir im Oben lebend. Frei zu atmen, wann immer wir wollen. Nichts, was uns zurück ins Unten drückt, in Dämmer und Tiefe. Frei, zu fliegen. Über diese fernen Riffe da. Gebirge nennen sie die Menschen.
Sohn: Was würden wir fressen?
Mutter: Wir könnten unsere Kalmare über den Wolken jagen. Unsere Lieder tief in die Schluchten und Täler singen.
Sohn: Und der Mensch wäre verbannt an den Grund des Unten. Müsste dort laufen. Und um uns zu jagen, müsste er auf die höchsten Riffe steigen, damit sein Zahn uns fangen kann.
Mutter: Selbst wenn, wir flögen über die Gipfel und wären sicher!
Sohn: Wovon träumen die Menschen?
Mutter: (selbstsicher) Davon, so zu sein, wie wir. Frei, in jede Richtung zu schwimmen. Nicht an den Scheitelpunkt von Oben und Unten gekettet. Durch das Blau gleitend, in jeder der drei Dimensionen ungebunden. Weißt du, sie müssen ihre Kälber tragen. Schwimmen können die auch nicht.
Sohn: (erstaunt) Sie können nicht schwimmen?
Mutter: Nein. Sie müssen es erst lernen.
Sohn: Dann will ich nicht mit ihnen tauschen.
Die Mutter rutscht, so gut es geht, nah an ihn heran. Ihr Atem geht immer schwerer. Sie genießt seine Nähe, schweigt.
Der Sohn rollt ärgerlich mit den Augen. Seine Fluke zuckt gelegentlich, aber er ist längst zu schwach, um mit ihr noch zu schlagen. Sein Mund steht offen, auch er hat Schwierigkeiten, zu atmen.
Mutter: (schwach) Du konntest schon immer schwimmen. Selbst in mir bist du geschwommen. Wir tauchten gemeinsam in die tiefsten Tiefen, haben gemeinsam gejagt. Du warst in mir in deinem eigenen Ozean. Ohne Sucht nach dem Oben hast du deinen Atem aus meinem Blut gestillt. Erst deine Geburt … erst die hat dich dazu verdammt, nach Luft zu gieren.
Sohn: (abwesend nachdenklich) Tragen die Menschen ihre Kälber dann in einem Sack voll Luft? Und die Vögel? Fliegen deren Kälber schon im Ei? Ich glaube, mit den Menschen will ich nicht tauschen. Am Ende bin ich doch mit der Schwere und dem Horizont verstrickt. Mutter, ich glaube, ich will lieber ein Vogel sein.
Mutter: (kaum hörbar) Dann sei ein Vogel.
Sohn: Mutter, kannst du mir noch einmal von den Vögeln erzählen, die ins Wasser stürzen und dann dort ebenso fliegen? Die das Unten und das Oben beherrschen?
Mutter: (stirbt)
Sohn: (redet unbeirrt weiter) Wenn ich wählen könnte, wäre ich am liebsten eines dieser Wesen. Wie es wohl ist, so vollkommen frei? Ich glaube, dann fürchtete ich nicht einmal die Menschen und ihre seltsamen Zähne.
(schweigt eine Weile) Aber ich hörte sie noch nie singen. Vielleicht können sie es gar nicht?
(schweigt noch eine Weile) Ich bin müde, Mutter. Sing mir was vor.
(wartet) Mutter? Mutter? Schläfst du schon?
(eine Gruppe von Menschen in Strandkleidung tritt auf)
Menschen: (reden durcheinander) … habe ich ja noch nie gesehen. / Seht, da liegt noch einer. / Der ist ja noch ganz klein. / Schaut nur! Er lebt noch! / Was ist das für einer? Das sind ja richtige Zähne. / Mann, das ist ein echter Pottwal! Früher wären wir reich gewesen. Der ganze Waltran, das Ambra, das Fett und Fleisch. Jetzt guck doch nicht so, ich sag ja nur.
Sohn: Verschwindet! Mich bekommt ihr nicht! (mobilisiert letzte Kräfte und schlägt mit der Fluke)
Menschen: Passt auf, dass er euch nicht erwischt. / Er braucht Wasser. Nehmt die Eimer. (sie begießen ihn)
Sohn: (hustet) Nicht doch! Nicht alles ins Blasloch! Ich bekomme kaum noch Luft. (jämmerlich) Sie verstehen mich nicht.
Menschen: Warum sind die Wale gestrandet? / Wir müssen ihn zurück ins Meer schieben. / Ich hab mal gelesen, dass man nicht am Schwanz ziehen darf. (sie zerren und schieben an ihm) Er ist so schwer. Wir brauchen Hilfe. (einer telefoniert) Ja, wir haben hier ein Walbaby. Es ist gestrandet. Wir brauchen … keine Ahnung. Feuerwehr? Polizei? Woher soll ich das wissen? (er ist fertig) sie schicken Hilfe.
Sohn: Jetzt wollen sie mich fressen. Sie sind schon rings um mich.
Menschen: Wie der zappelt. Er freut sich!
Sohn: Lasst mich!
Menschen: Keine Angst, wir retten dich. (mehr Helfer kommen)
Sohn: Ich bin noch zu jung. Ich brauche meine Mutter.
Menschen: Packt mit an! Jetzt schaffen wir es. (sie schieben ihn ins Meer)
Sohn: Ich bin zu schwach, ich kann kaum schwimmen. Wäre ich ein gestürzter Vogel, hättet ihr mich dann zurück in die Luft geworfen? Was gewinnt der Mensch, wenn er ein Sandkorn rettet, die Wüste aber verliert?