Autor Thema: Zeitlupen  (Gelesen 1975 mal)

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Zeitlupen
« am: 23.06.2004 | 17:48 »
Tipps für Zeitlupen

Begeben wir uns in eine Region, die weit jenseits aller Regeln für Bewegungsmanöver und Kampfrunden existiert. Möchte man seinen Rollenspielrunden einen surrealistischen oder auch betont actionorientierten Unterton verleihen, kann man sich eines erzählerischen Tricks bedienen, der im Kino sehr häufig verwendet wird: der Zeitlupe. Um sie auch im Rollenspiel effektvoll einzusetzen ist es notwendig, einmal alles, was man über die Gesetze der Physik und die Kampfregeln aus dem Regelbuch, für ein paar Momente zu vergessen.

Zeitlupen erzielen in Filmen wunderbare Effekte: Sie verzögern meistens spannende Momente, sodass die Spannung weiter steigt und die Handlung noch dramatischer wird. Eine Zeitlupe wird im Spiel im Prinzip bereits dadurch erreicht, dass du einen Prozess, der in der Wirklichkeit nur wenige Augenblicke dauert, detailliert erzählst. Das entspräche einer einfachen Zeitlupe im Film, wie man sie häufig sieht, wenn die Astronauten das Space Shuttle besteigen, der Wagen über den Rand der Klippe ausbricht oder Entsetzen sich langsam auf dem Gesicht des Helden ausbreitet. Wenn man jedoch an Filme wie "The Matrix" denkt, gibt es noch viel, viel mehr Möglichkeiten, Zeitlupen zu verwenden.

Der Bösewicht reißt seine Automatik hoch, feuert einen Schuss in den Rücken unseres ahnungslosen Helden. Quälend langsam sieht man, wie die Kugel in einer Rauchfahne den Lauf verlässt und durch die Luft gleitet. Durch den Knall gewarnt, dreht das Ziel sich um, als wäre die Luft zähflüssig wie Honig - Entsetzen in seinen Augen ...

Erzählerische Zeitlupen im Rollenspiel haben nichts mit Realismus zutun. Im Gegensatz zu den Zeitlupen bei Fußballspielen sollen sie nicht bestimmte Ausschnitte des Geschehens genauer beleuchten. Sie fokussieren nur die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten, spannenden Moment, der in der Wirklichkeit nur Bruchteile von Sekunden dauern würde. Meistens dienen Zeitlupen eher dazu, dem Helden einfach ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen - wie in unserem Beispiel.

Zeitlupen im Rollenspiel müssen also nicht unweigerlich für jeden Charakter gleich schnell ablaufen. Während sich die Kugel vor Hitze flirrend durch die Luft schraubt könnte unserem Helden noch die Gelegenheit gegeben werden, sich zu Boden zu werfen, seine eigene Waffe zu ziehen und eine Reihe von Schüssen abzugeben, bevor er auf den Boden aufprallt.

Für die ganz großen Fans des Action-Kinos und Superhelden-Genres könnte es dem Helden ja auch gelingen, die Kugel des Gegners in der Luft zu treffen, sodass sie aus der Bahn gerät und damit das Leben unschuldiger gerettet wird ...

Deiner Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wenn du der Ansicht bist, mit einer Zeitlupe die Dramatik des Abenteuers steigern zu können, dann verwende sie einfach, wie du es für richtig hältst - kümmere dich lieber nicht darum, ob sie "realistisch" oder "fair" ist. Frage dich lieber, wie viel Spaß sie dem betreffenden Spieler gerade machen könnte.

In manchen Rollenspielen ist die Zeitlupe sozusagen schon eingebaut. In fast allen Cyberpunk-Rollenspielen, wie z. B. Cyberpunk 2020 oder SHADOWRUN gibt es die Möglichkeit, mit Reflexboostern oder anderen Mitteln, seine Geschwindigkeit zu erhöhen. Auf diese Weise bekommt ein Spielercharakter mehr Aktionen pro Kampfrunde als seine Gegner - für ihn wird die Zeit also langsamer vergehen als für die Leute um ihn herum. Auch bei manchen Fantasy-Rollenspielen kann es durch bestimmte Zaubersprüche zu solchen Effekten kommen.

Wie aber beschreibt man als Spielleiter oder Spieler eine Zeitlupe?

Je nach dem, was du als Spielleiter mit der Zeitlupe erreichen möchtest, kannst du deinen Spielern signalisieren, dass sie ebenfalls aktiv an der Szene teilnehmen können. Möchtest du nur die Dramatik steigern, reicht es die Szene einfach detaillierter und langsam zu beschreiben: Ein Schwerthieb dauert normalerweise nur wenige Bruchteile von Sekunden. Möchtest du ihn aber in Zeitlupe schildern, brauchst du nur zu erzählen, wie elegant der Stahl die Luft mit einem pfeifenden Geräusch durchschneidet, sich das Sonnenlicht auf der Oberfläche bricht, sodass der Held noch sein entsetztes Gesicht mit seinen weit aufgerissenen Augen in der spiegelnden Schneide erkennen kann. Dunkles Blut tropft von der Klinge und löst sich in der Luft in kleine Tropfen auf ...

Damit hast du das Ereignis verzögert, die Dramatik gesteigert und die Wahrnehmung der Spieler auf diesen einen Hieb verengt.

Möchtest du diese Szene nur aus dramatischen Gründen einflechten, würfle nach deiner Erzählung den Schaden aus und gehe zu einem normalen Erzählmodus über. Willst du dem betroffenen Spieler noch eine Chance zum Handeln geben, dann sieh ihn einfach erwartungsvoll an, nachdem du mit der Beschreibung fertig bist und warte ab, was passiert. Wenn er das Leben seines Charakters retten will, wird er sowieso alles dran setzen, um jetzt noch etwas tun zu können.

Du wirst sehen, dass Zeitlupen ein schönes Mittel sind, um deine Spielrunden plastischer, aufregender und dramatischer zu gestalten.

 

© Marcus Johanus