Ich gehörte immer zu den Leuten, die nicht viel von Universalsystemen hielten, es gibt immer Systeme und Spielwelten, die sich der Erfassung durch ein Universalsystem entziehen, an GURPS scheiden sich die Geister, D20 tut dem ScienceFantasy-Flair von StarWars ganz grausige Dinge an und das Storytellersystem der weißen Wölfe ist dem Powerlevel von Exalted einfach nicht gewachsen. Ein Universalsystem, also ein System für alles, konnte für mich nicht funktionieren. Nun, ich habe mich geirrt…
"Daidalos" gelang das in meinen Augen Unmögliche.
Der Untertitel "freies Rollenspiel" ist durchaus doppeldeutig zu verstehen, "Daidalos" ist ein freies Rollenspiel, wird also von einem unabhängigen Autor, Jochen Eid mit Namen, zum kostenlosen Internetdownload angeboten, darüber hinaus ist es allerdings auch absolut frei von jeglichen Regeln: Es gibt keine Tabellen, keine Würfel, nicht einmal Charakterblätter. Einzig die Spieler setzten sich ihre Grenzen.
Für mich als Rezensenten stellt sich jetzt natürlich ein interessantes Problem:
Da "Daidalos" ein Universalsystem ist, also über keine eigene Spielwelt verfügt und es ferner keine Regeln gibt… über was soll ich dann hier schreiben?
Nun, viele werden jetzt vielleicht laut aufschreien: "Was? Ohne Regeln? Wie soll ich meinen Spielern da Grenzen setzten? Die tanzen mir doch auf der Nase rum!" Wer dieses Szenario tatsächlich befürchtet, der hat offensichtlich die falsche Gruppe erwischt, um "Daidalos" spielen zu können, denn dieses geht davon aus, dass Spieler und SL zusammen eine Geschichte erzählen wollen, in welcher die Charaktere der Spieler die Protagonisten sind, der Spaß erwächst hierbei aus dem Erleben einer spannenden Geschichte und dem überzeugenden Darstellen eines Charakters, bei entsprechenden Spielern wird es also niemals zu Ausschreitungen kommen, sie werden aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus nur innerhalb der Möglichkeiten ihres glaubwürdigen Charakters handeln und das Flair der gewählten Spielwelt sozusagen aus freien Stücken nicht verletzen. Wer also glaubt über eine entsprechend disziplinierte Gruppe zu verfügen, der kann im Prinzip schon loslegen.
Ich will jetzt einmal anfangen die Spielmechanismen nach denen "Daidalos" funktioniert näher zu erläutern.
Fangen wir mit der Charaktererschaffung an: Ich denke mir einen Charakter aus, mache mir ein Bild davon wer er ist, wie er aussieht und was er kann. Das war's. Keine konkreten Attribute, keine konkreten Fertigkeiten. Natürlich öffnet dies Munchkins scheinbar Tür und Tor, aber wer jetzt begierig beginnt sich seinen Supercharakter zu züchten, der hat die Idee hinter "Daidalos" schlicht nicht verstanden, es geht darum einen in sich stimmigen und glaubhaften Charakter zu spielen und nicht einen Alleskönner, der jedes Problem im Handumdrehen lösen kann.
Bereits bei der Charaktererschaffung wird deutlich, was "Daidalos" auszeichnet: Es wird auf einzig Beschreibungen gesetzt, so heißt es eben nicht "Beorn hat Schwertkampf auf 3 und Aussehen auf 2", sondern "Beorn ist mittlerweile durch die in vielen Abenteuern gewonne Erfahrung zu einem ganz passablen Schwertkämpfer geworden, der die meisten seiner Gegner nicht zu fürchten braucht, es aber beileibe noch nicht mit der Elite aufnehmen kann, leider haben die vergangenen Erlebnisse ihre Spuren hinterlassen und so manch hässliche Narbe verunstaltet seinen recht stattlichen Körper und ein Bad hat er wohl auch seit längerem nicht mehr genommen".
Mir gefällt diese absolute Freiheit bei der Erstellung meines Charakters ausgesprochen gut, die teils recht kruden Ergebnisse beim Auswürfeln eines Charakters, welches meiner Meinung nach ohnehin antiquiert ist, gehören der Vergangenheit an und ich muss mich auch nicht mehr auf irgendwelche Kuhhandel einlassen, um meinen Charakter so zu gestalten, wie ich es möchte, etwas wozu mich so manches Kaufsystem in der Vergangenheit gezwungen hat.
Der Ablauf des eigentlichen Spiels beruht auf der Annahme, dass Dramatik funktioniert, es geht also darum eine gute Geschichte mit spannenden Szenen zu erzählen. Unter dieser Prämisse werden dann auch "Fertigkeitsproben" absolviert: Der Spielleiter wägt ab ob es glaubhaft ist, dass der Charakter des Spielers eine bestimmte Aktion durchführen kann und inwiefern es mit der Geschichte korrespondiert, so wird ein Zeitungsfotograf eben nicht die Fassade eines Hochhauses hochklettern, ganz egal wie sehr der Spieler beteuert, sein Charakter sei in der Vergangenheit von einer Spinne gebissen worden, es sei denn natürlich man spielt in der Welt einer gewissen Comicreihe, deren Verfilmung gerade äußerst erfolgreich durch die Kinosäle dieser Welt flimmert…
Wenn der SL die Aktion eines Spielers allerdings aus Gründen der Dramaturgie untersagt, sollte er dem Spieler auch einen glaubhaften Grund dafür nennen, den Versuch eines professionellen Diebes ein Schloss zu knacken mit einem simplen "geht nicht" abzuschmettern ist einfach unglaubwürdig und atmosphäretötend.