Es geht mir hier nicht darum, Spielleiter-Bashing zu betreiben - nach dem Motto „Wofür brauchen wir eigentlich einen Spielleiter, zum Teufel“. Vielmehr würde mich interessieren, wie und warum sich die Rolle des Spielleiters eigentlich entwickelt hat, was sie umfaßt und welche Vorteile das Rollenspiel mit einem Spielleiter hat. Schließlich spielt ein Großteil (ach was, eigentlich alle) der mir bekannten Gruppen mit einem Spielleiter, die meisten Systeme werden für eine Gruppe mit Spielleiter entwickelt und selbst die meisten Theorie-Threads gehen davon aus, daß es einen Spielleiter gibt.
Zunächst sollte ich wohl versuchen, den Begriff ‘Spielleiter’ zu definieren (ja, wir wissen eigentlich alle, was damit gemeint ist. Aber vor 200 Jahren wußten auch alle, was mit dem Begriff ‘Luft’ gemeint ist...
).
Ein Spielleiter ist eine Person in einer Gruppe von Rollenspielern, die mit besonderen Erzählrechten und Verantwortungsbereichen ausgestattet ist. Meistens bedeutet das, daß der Spielleiter für die Darstellung und Präsentation der Spielwelt verantwortlich ist und den Plot (den roten Faden der von der Gruppe gespielten Erzählung) reguliert. Er ist für das Auftauchen und die Definition der Motivationen des Großteils der NSCs verantwortlich und führt selbst meistens keinen eigenen SC. Wenn es um Regelfragen oder Streitigkeiten innerhalb der Gruppe geht, hat der Spielleiter meistens das letzte Wort oder nimmt zumindest eine Schiedsrichterposition ein.
Das ist natürlich sehr grob gefasst und trifft (bis auf den ersten, fettgedruckten Satz) nicht immer und notwendigerweise zu. Genaueres zum Spielleiter im Verhältnis zu seiner Gruppe werde ich in einem anderen Thread sagen.
Warum gibt es nun einen Spielleiter? Wie schon verschiedene Leute angemerkt haben, brauchen Kinder bei Indianer-und-Cowboy-Spielen ja auch keinen - und kommen eigentlich auch nicht auf die Idee, einen zu bestimmen. Auch in Brettspielen oder Tabletops (aus denen die heutigen Rollenspiele entstanden sind) gibt es keinen Spielleiter, schließlich kann jeder selbst die Regeln lesen. Trotzdem ist die Position aus Rollenspielen nicht wegzudenken.
Natürlich war ich bei den ersten Sitzungen, in denen ein Spielleiter aufgetaucht ist, nicht dabei. Daher kann ich nicht mit Sicherheit sagen, was da passiert ist. Aber ich vermute, je stärker sich die Spieler mit einem einzelnen Charakter identifiziert haben, desto niedriger war ihre Bereitschaft, auch deren Gegner oder den Rest der Umwelt darzustellen. Dafür brauchte es einen speziellen Spieler - einen, der sich um die ganze Umgebung und die lustigen Monster kümmerte, der neue bunte Ideen hatte, der den Rahmen für die Heldentaten der Charaktere schuf: Einen Spielleiter.
Dungeon Crawling war die erste Ausprägung des Rollenspiels: Die Charaktere wanderten durch monster- und schatzgefüllte Kerker, schlugen Orks platt und sammelten magische Gegenstände ein. Aufgabe des SLs war es, die Gegner der Chars darzustellen, sich fiese Fallen auszudenken und gelegentlich Goodies in Form von materiellen Belohnungen und Erfahrungspunkten zu verteilen.
Irgendwann änderte sich das: Die Leute wollten mehr. Beim Rollenspiel ging es jetzt auch darum, eine spannende und plausible Geschichte zu erzählen. Es reichte nicht mehr aus, ein paar Räume auf Karopapier zu zeichnen und eine Handvoll Monster unterzubringen - die Charaktere mußten motiviert werden, NSCs tauchten nicht nur als Feinde, Händler oder Rettlinge (zu rettende Personen, meistens weiblichen Geschlechts und adlig) auf, die Welt wucherte über das Dungeon hinaus. Damit wuchs natürlich auch der Anspruch an den Spielleiter: Die Geschichte mußte die Spieler mitreißen und die Charaktere möglichst logisch motivieren. Stimmung, Anspruch und Tiefe hielten Einzug ins Rollenspiel. Der SL war für die gesamte Gestaltung der Welt und des Plots verantwortlich, und mittlerweile galt, daß er bei Regelstreitigkeiten das letzte Wort hat - schließlich hatte er auch die meiste Arbeit und war verantwortlich für den Spaß der Spieler.
Noch später stellte sich heraus, daß die Allmacht des SL gar nicht so nötig war: NSCs konnten abgegeben werden, die Spieler durften eigene Eckchen an der Welt und dem Plot mitbestimmen, und plötzlich kamen wir bei Player Empowerment und Bass Playing an (naja, ein paar von uns zumindest).
Das ist so ungefähr die Entwicklung meiner eigenen Rollenspielkarriere.
Manche Gruppen befinden sich immer noch in der Dungeon-Crawling-Phase, weil ihnen das einfach genug Spaß macht. In anderen Gruppen gibt es den allmächtigen SL (ich glaube sogar, daß das immer noch die häufigste Ausprägung ist), und es gibt auch Runden, in denen die Spieler den Plot und die Welt mit entwickeln.
Aber das erklärt noch nicht, warum so viele Gruppen gerne mit einem Spielleiter spielen - und zwar sehr gerne und sehr häufig mit einem allmächtigen Spielleiter (das soll bedeuten, daß der SL der einzige ist, der die Umgebung der Charaktere und die NSCs samt ihrer Motivationen entwirft, daß der SL den Plot kontrolliert und entscheidet, welche Auswirkungen die Aktionen der Charaktere nun haben oder auch nicht, und daß der SL die letzte Instanz bei Regelfragen ist). Mir sind einige Gründe eingefallen:
- Die Spieler können sich voll und ganz auf ihren Charakter konzentrieren. Das Gefühl der Immersion ist am höchsten, wenn der Spieler durch keinerlei Entscheidungen auf der Metaebene von seinem Charakter abgelenkt wird. Ein Spieler, der beschreibt, wie ein Raum aussieht, kann nicht zugleich überlegen, wie sein Charakter wohl auf diesen Raum oder die Aktionen seiner Mitspieler reagieren würde.
- Die Spieler können überrascht werden. Das macht das Spiel spannend - je weniger Wendungen in der Geschichte man vorraussagen kann, desto gespannter ist man auf die Fortführung. Je mehr man schon darüber weiß, wie es weitergeht, desto weniger Spannung baut sich auf. (Spannung kann auch auf andere Art und Weise erzeugt werden, das weiß ich auch. Das ist hier nicht der Punkt - Unwissenheit ist eine gute Möglichkeit, Leute bei der Stange zu halten).
- Es gibt eine definitive Hierarchie bei der Entscheidungsfindung, wenn es um Regelfragen oder andere Streitigkeiten geht - der SL hat das letzte Wort. Das kürzt Diskussionen ab und führt zu einem besseren Spielfluß. Außerdem werden Ressourcen (magische Gegenstände, Kontakte, Erfahrungspunkte), die der Gruppe zur Verfügung stehen, durch den SL reguliert, sodaß sie nicht ausufern.
- Der Plot ist meistens stringenter und plausibler. Ein Abenteuer voller Intrigen, eine komplexe Geschichte oder eine episch angelegte Kampagne erfordern lange Vorausplanung und genaue Kenntnis des Hintergrunds, damit sich alles ineinander fügt. Eine einheitliche kreative Vision ist von Vorteil, um die verschiedenen Plotfäden im Überblick zu behalten, zu verweben, zu verwirren und aufzulösen. Der Plot besteht aus einzelnen Puzzleteilchen, die alle zusammenpassen und am Schluß ein gesamtes Bild ergeben.
- Die Spieler können sich zurücklehnen und genießen. Häufig ist der SL die kreativste Person in der Runde, und die Spieler können sich von seiner Vision und seiner Geschichte mitreißen (oder zumindest berieseln) lassen. Das mag nun nicht jedermanns Sache sein (meine ist es auch nicht), aber ich denke, daß es Leute gibt, denen so etwas Spaß macht und die deswegen gern mit einem allmächtigen SL spielen, also gehört es hierher.
Vielleicht fallen euch ja noch mehr Gründe ein. Oder ihr seht das mit der Entwicklung der Rolle des SL ganz anders.
Um meine Behauptung, die meisten Gruppen würden gerne mit einem SL spielen, zu untermauern, habe ich übrigens hier eine Umfrage gestartet.