Crow erwachte. Alles drehte sich um ihn. Das Weiß der Wände schienen sich in seine Augen zu brennen. Neben ihm merkte er eine Bewegung, schemenhaft und sehr schnell. Das jahrelange Training und die letzen Monate sprangen in die Bresche, als sein Bewusstsein nicht direkt reagierte. Seine Hände packten den Arm, drehten ihn um neunzig Grad nach links und bogen ihn gleichzeitig nach oben… ein Knirschen und ein lauter Knall ließen ihn wissen, dass er es geschafft hatte. Der Arm, wem er auch immer gehörte, war nun mindestens an zwei Stellen gebrochen und die Bruchstellen würden bei jeder Bewegung grauenhafte Schmerzen verursachen. Die ganze Aktion hatte kaum eine halbe Sekunde gedauert. Die Krankenschwester brach weinend und vor Schmerzen schreiend zusammen, bevor Crow erkannte, was überhaupt los war oder wo er war. Während sich seine Wahrnehmung klärte, realisierte er, dass er bei Doktor Merryweather war. Und dass er Linda, einer der Helferinnen, weh getan hatte, um es sehr höflich auszudrücken. Phil stand nach wenigen Minuten neben Crow`s Bett und schüttelte den Kopf: „James, was fällt ihnen ein? Ich weiß um ihre ungefähre Situation und schon deswegen erwarte ich, dass sie sich umsichtig verhalten. Sollte es ihnen an dieser Fähigkeit mangeln, werden sie sich einen anderen Arzt suchen müssen.“ Crow erschrak. Einerseits, weil die Drohung Wirkung zeigte und zum anderen, weil der Tonfall schlimmer war als jeder Johnson, für den John in seiner Laufbahn bis jetzt gearbeitet hatte. Und die Zahl der Leute, mit denen er halbwegs vertraut war, nahm in letzter Zeit erschreckend ab. Zumindest erschien es ihm so…
Vor über zehn Jahren:
Ein junger Elf rannte eine Straße entlang, kurz vor dem Zusammenbruch. Hinter ihm liefen fünf andere Jungen, nur unwesentlich weniger erschöpft. Alle wurden sie von Urinstinkten angetrieben. John lief, um seine Haut zu retten. Er war schon öfter zusammen geschlagen worden, doch dieses Mal hatte er wirklich Angst. Erst letzte Woche war Elliot in einem Müllcontainer gefunden worden. Seine Rippen waren alle gebrochen, das Gesicht kaum noch zu erkennen und überall war Blut. John erinnerte sich in allen Details daran, schmeckte das Eisen auf seiner Zunge, meinte gar, die Wucht der Schläge zu spüren, die das Leben aus Elliot`s Körper getrieben hatten. Und nun rannte er. Würden sie es dabei belassen, ihn windelweich zu schlagen oder würde die Gewalt überhand nehmen? Genug Geschichten gab es allemal. Die Älteren flüsterten zwar, wenn sie so was erzählten, aber man bekam es auch so mit. Nur noch wenige Meter und gutes Timing, dann könnte er gerade noch die Monobahn Richtung Central erwischen und so seine Verfolger abschütteln. Er bog im vollen Lauf um die Ecke, schleppte sich die Stufen hinauf, keuchte unter der Anstrengung, blickte gehetzt nach rechts… und sah, wie die Bahn in die Kurve einbog. Vor Wut und Angst begann er zu weinen. Wenige Herzschläge traf ihn der erste Schlag. Dann folgten Stunden des Schmerzes und der Erniedrigung, bevor er endlich ins Dunkel versank.
Die Ärzte gaben ihm höchstens dreißig Prozent. Aber irgendwie schaffte er es, zu überleben und gesund zu werden. Seine Eltern besuchten ihn sogar ab und zu im Krankenhaus. Nach drei Wochen konnte er nach Hause, ob er wollte oder nicht. Nach drei weiteren Wochen fand er den ersten der Jungen, die ihn fast erschlagen hatten. Bis heute wusste er nicht, was aus seinem Opfer geworden war. Er hatte eine Stahlstange und eine Dose mit PepperPunch dabei. An mehr wollte er sich nicht erinnern.
Fünfter Juli 2060, General Custer Kaserne, Williston
„Sergeant Callahan, hiermit verabschiede ich Sie mit den besten Glückwünschen in ein ziviles und hoffentlich erfolgreiches Leben. Sie haben ihrem Land treu und zu voller Zufriedenheit gedient. Halten sie ihre Kameraden und die Armee der UCAS in guter Erinnerung. Mit soldatischem Gruß,
Colonel Taggert 3. Infanteriebatallion, Williston“
Das war es also. Dafür hatte sich John über vier Jahre durch Rassismus, Schikane und Kampf gequält. Für die ehrenhafte Entlassung als Sergeant in ein Zivilleben, in dem ihn nur Frust oder noch mehr Gefahr erwarteten. Langsam faltete er das Dokument zusammen und legte es in die Mappe zu den anderen Papieren, die er im Laufe seines Lebens angesammelt hatte. Die Armee musste sparen, trotz der Grenzkonflikte geben die Politiker in Washington keinen Cent mehr aus und Planstellen wurden auch nur im absoluten Notfall neu ausgeschrieben. Selbst die Angehörigkeit zu einer Metamenschenspezies half da nicht. Was blieb also zu tun? Nach Hause konnte und wollte er nicht. Das Mitleid oder die Ablehnung, je nach dem, war er nicht bereit zu ertragen. Lieber wurde er zum Wanderarbeiter, als sich das anzutun…
Seit bereits einem Monat zog er jetzt schon durch UCAS auf der Suche nach Arbeit, Lohn und Brot. Mit mäßigem Erfolg. Irgendwann kam John durch eine kleinere Stadt am Rande der Überlandstraße. Alles sah nach alter Fernfahrerromantik aus: Truckstops, Country-Musik und Kneipen, in denen man sich für nicht allzu viel Geld einen ordentlichen Rausch antrinken konnte. Um zum Beispiel eine Nacht im Freien zu überstehen… „Super, echt. Hoffentlich kann ich hier was besseres finden als Putzdienst. Himmel, wie kann man nur so eine Sauerei auf einer Toilette anrichten?! Ekelhaft! Und dann hat der Kerl noch die Eier, mir meinen Job zu erklären! War dumm von ihm. Sehr dumm. Egal, der Laden gefiel mir eh nicht. Schon der Name: „Bill`s Motel“. Welche Kreativität, fast so gut wie „Bob`s Motel“ in Terrence Fields oder, oder, oder.“ Vor sich hingrübelnd ging er auf den Pub zu, den Namen ignorierend. Endlich umfing ihn die muffige Wärme und der Dunst, den es in jeder guten (oder schlechten) Bar zu geben scheint. Dazu dudelte irgend eine Neuauflage von „Ghostriders in the sky“. An der Theke fand er mit einigem Drängen genug Platz, um sich bei einer jungen Bardame zwei Bier und einen Teller mit dem Tagesgericht zu bestellen. Während er auf die Bestellung wartete, ließ er seinen Blick eher beiläufig durch den Raum gleiten. Viele Leute in Arbeiterkleidung, einige sahen aus wie Trucker und gelegentlich sah er Prostituierte, zumindest nahm er stark an, dass es welche waren. Ab und an huschte sogar ein Kellner oder eine Kellnerin durch die Szene, meist schwer beladen mit Getränken und vereinzelten Tellern. Metamenschen saßen nur einige wenige in der Bar, meist in kleinen Gruppen. Die Wortfetzen, die er hörte, drehten sich um Privates oder die Arbeit, wobei viele für diverse Nahrungsproduzenten arbeiteten. „He, Soldat! Dein Essen wird kalt und das Bier schal, wenn du noch lange wartest.“ Die Frau grinste milde, als er mit leicht säuerlichem Blick bezahlte und dann kurz überlegte, ob er sich einen Tischplatz organisieren sollte oder ob es an der Theke nicht auch gemütlich werden könnte. Während er noch überlegte und dabei das erste Bier trank (Himmel, was heute alles als Bier durchgeht…) bemerkte er, wie jemand ihm zuwinkte. Es handelte sich um einen älteren Mann in abgewetzter Tarnkleidung, der mit fünf weiteren Leuten an einem Tisch in der Mitte des Raumes saß. John vergewisserte sich, ob wirklich er gemeint war und ging dann gottergeben zu dem Tisch rüber. „Nabend, ist hier noch ein Platz frei?“ Die Begrüßung war dämlich, aber was anderes fiel ihm nicht ein. „Setzen sie sich ruhig. Hier ist immer Platz für Amerikaner. Mein Name ist übrigens Will Orson.“ Dann stellte er noch den Rest der Truppe vor, die brummend nickten und dann ein wenig rückten, um John Platz zu machen. „Also, Fremder… wie lautet dein Name?“ John spürte die Blicke auf sich gerichtet. „Callahan. John Callahan.“ Probeweise spießte er mit der Gabel etwas auf, das wohl eine Kartoffel imitieren sollte, aber das Soy nicht verbergen konnte. Der Geschmack lag irgendwo zwischen Mehl und Pappe, aber nach einem ganzen tag ohne Essen ließ er es sich trotzdem nicht entgehen. Beim Bier musste er sich dagegen schon sehr zusammenreißen, um nicht sofort alles wieder auszuspucken. Widerlicher Synthahol und fade Geschmacksträger ohne Kohlensäure, aber für die paar NuYen konnte er kaum Fassbier erwarten. Nach fünf Minuten hatte er den Teller leer und das Bier halb getrunken. Die Runde hatte ihm die Zeit gelassen, in Ruhe zu essen, aber nun wandte man sich wieder ihm zu: woher er kam, was ihn hierher führte und, und, und. Meist stellte Will die Fragen, seine Kumpane schienen bis auf ein, zwei Einwürfe Zuhörer zu sein. Freundlicherweise gab es mehrere Runden regionales Bier (das seinen Namen schon eher verdiente) ausgegeben und auch John ließ sich hinreißen, seine knappen Mittel in eine Runde zu investieren. Der Abend verlief recht angenehm und die Themen drehten sich alsbald um Politik, Wirtschaft, die Kriegsgefahr und dass es kaum noch gute Dinge gab, die früher selbstverständlich waren. Wie in solchen Raststätten üblich gab es keine echte Sperrstunde, sondern irgendwann eine Art inoffizielles Signal des Abschlusses. John war blau, halbwegs gut gelaunt und sogar eingeladen worden, bei Ted, einem der Farmarbeiter in Will`s Truppe, zu übernachten.
Dröhnende Kopfschmerzen erfüllten seine Welt. Nur langsam drängten sich ein ekliger Geschmack im Mund und ein flaues Gefühl im Bauch dazwischen. John wälzte sich auf seinem Bett hin und her, während er mit dem Bedürfnis nach Schlaf, Wasser und einem Gang zur Toilette rang. Soweit er sehen konnte, befand er sich in einem kleinen Zimmer eines klassischen Plattenbaus ohne große Einrichtung: Stuhl, Bett, ein Spind aus Plastblech und ein Fenster mit simplen grünen Gardinen. Seine Kleidung lag verstreut auf dem Boden, sauber, aber mit dem üblichen Geruch nach Kneipe behaftet. Nach einer Weile zwang er sich dazu, aufzustehen und nach einer gründlichen Morgentoilette den Herrn des Hauses zu suchen.
Das Haus war schlicht, aber recht groß für einen Farmarbeiter mit Familie. John fand nach zwei Anläufen ein Bad und nahm sich Zeit, in Ruhe zu duschen, seinen Kopf zu klären und sich zu rasieren. Letzteres war zwar kaum nötig (einer der wenigen „Vorteile“, ein Elf zu sein), aber in über vier Jahren hatte es sich zur Gewohnheit aufgeschwungen und damit brach man nicht so leicht. Auf dem Weg ins Erdgeschoss, im ersten Stock schienen nur die Schlafzimmer zu sein, traf John auf zwei Kleinkinder, die ihn mit großen Augen anstarrten und, bevor er etwas sagen konnte, mit einem Quicken wegrannten. Er beschloss, ihnen zu folgen und ihrer Mutter zu erklären, wer er war und dass er den Kleinen nichts getan hatte. Nach wenigen Sekunden hörte er bereits eine weibliche Stimme, die beruhigend auf jemanden (wahrscheinlich die beiden Kleinen) einredete. Dann betrat er eine Küche, die sehr sauber und recht komfortabel eingerichtet war, besser als alles, was er bisher in Wohnungen gesehen hatte. An der Kochfläche stand eine recht kleine Frau in den frühen Vierzigern in leidlich modischer Aufmachung, an deren Beine sich die beiden kleinen Kinder klammerten und quengelten. „Äh, guten Morgen, Ma`am. Mein Name ist John Callahan. Ihr Mann hatte mich eingeladen, über Nacht zu bleiben. Naja und jetzt wäre ich sehr dankbar für einen Kaffee.“ Mit einem verlegenen Lächeln hielt er ihr die Hand hin. Sie sah ihn abschätzend an und ergriff dann zögernd die gebotene Hand. „Winston, geh mit Robin draußen spielen. Seht doch mal nach, ob Chloe und Robby da sind.“ Damit schickte sie ihre Kinder nach draußen, wo sich eine recht ruhige Straße, eine Menge Biosphären in einiger Entfernung sowie eine Stadt, an deren Rand das Haus zu liegen schien, zeigten. „Soso, also hat Ted Sie zu uns eingeladen? Wahrscheinlich habt ihr euch im Pub kennen gelernt und dann besoffen Freundschaft geschlossen, liege ich bis jetzt richtig?“ „Ja, so ungefähr war es wohl, Mrs. …?“ „Green, Juliet Green. Ok, einen Kaffee können sie gern haben. Wecken sie aber vorher Ted, sonst könnte er sauer werden. Das Zimmer oben links.“