29. Dezember 4997
Im zaghaften Dämmerlicht des frühen Morgens erreichen wir einen Hügelkamm, auf dessen höchster Erhebung die Überreste eines großen Feuers glosen. Wir sind die ganze Nacht fast ohne Unterbrechung gelaufen, und auch jetzt gönnen wir uns nur eine kurze Verschnaufpause. Brandgeruch liegt in der Luft, vermischt sich mit den dünnen Nebelschleiern, die aus dem Boden steigen. Die ersten Stahlen der Sonne berühren die archaischen Umrisse eines Steinkreises, in dessen Zentrum das Feuer gebrannt haben muss. Zwei Kreise aus Monolithen, deren Anblick unangenehme Erinnerungen weckt… Die Restwärme, die von der Glut aufsteigt, steht noch zwischen den dunklen Steinen, begleitet von einem harzigen, herbsüßen Geruch, wie von Weihrauch oder Kräutern. Um den Platz herum ist das taubedeckte Gras an vielen Stellen niedergedrückt, deutlich zeichnen sich menschliche Abdrücke im Lehmboden ab; es sind viele, sicherlich an die hundert, überall im Bereich des Steinkreises.
Doch hier ist niemand mehr; die nächtlichen Besucher sind verschwunden. Ob hier ein heidnischer Ritus gefeiert wurde?
Wir folgen den Spuren in den Wald, einen vagen Pfad entlang, der in ein Tal hinabführt. Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen und schickt ihr goldenes Licht durch die lichten Baumkronen; die Luft ist klar und frisch, aber bitterkalt. Außer dem Rascheln des Windes im spärlichen braunen Blattwerk und dem Keuchen unseres eigenen Atems ist im Wald kein Laut zu vernehmen. Das Gelände wird zerklüfteter, und der Pfad folgt einem kleinen Geländeabbruch, der nach Westen den Blick auf die Baumkronen eines tiefer gelegenen Waldteiles freigibt. Der Boden ist matschig und von den Spuren der vielen Menschen aufgeworfen, die hier noch vor kurzem entlanggegangen sein müssen. Plötzlich verliert Avalan den Halt und rutscht in einer Lawine von aufwirbelnden Blättern und losgetretenem Schlamm den Hang hinunter. Er verschwindet im wuchernden Dickicht eines gewaltigen Strauches, aber seinem Zetern und Fluchen nach, war der Sturz nicht weiter tragisch. Als ich endlich eine Stelle gefunden habe, an der es sich ohne ausgiebiges Schlammbad den Hang hinuntersteigen lässt und ich mich durch das störrische Gestrüpp gekämpft habe, finde ich Avalan in Begleitung vor…. Ein riesiges zottliges Untier hat sich vor ihm aufgebaut, ein Wesen das man wohl am besten als eine Mischung zwischen einem malignatischen Yak und einem Bison beschreiben könnte. Zu meiner Erleichterung scheinen die beiden bereits Freundschaft geschlossen zu haben… beruhigend zu wissen, dass falls Avalan uns eines Tages wirklich alle vergessen sollte, er wenigstens immer noch seine Tier- und Pflanzenfreunde um sich scharen könnte…
Das Wesen ist zu zutraulich für ein Wildtier, es muss zu dem Dorf oder der Siedlung, die wir in der Nähe vermuten, gehören. Vielleicht hat es sich im Wald verirrt und es wäre von Vorteil für uns, wenn wir es zum Dorf zurückbringen; als Geste unserer Freundschaft sozusagen. Noch während wir beratschagen, erklingt aus dem Unterholz eine rufende Stimme. Wenig später steht ein Mensch vor uns, der erste Eingeborene dieses Planeten. Der Mann ist von robustem Körperbau und in einfache Kleidung gehüllt, ein typischer Bauer oder Hirte, würde ich meinen. In seinen Händen hält er einen Hirtenstab, mit dem er argwöhnisch in unsere Richtung fuchtelt, als wäre es eine Waffe. Wir verstehen kein Wort des Redeschwalls, der uns entgegenschwappt, aber die Sprache klingt auf eine merkwürdige Art und Weise vertraut. Vielleicht ein sehr stark abgewandelter und degenerierter Dialekt des Aerdischen.
Nach einiger Zeit gelingt uns eine rudimentäre Verständigung mit dem Barbaren. Sein Name ist Kirpon und er scheint tatsächlich auf der Suche nach dem Zotteltier zu sein, das er Vonta nennt. Ob es sich dabei um die Bezeichnung der Wesen oder nur den Namen des Tieres handelt, ist schwer auszumachen. Nachdem wir klargestellt haben, dass wir keine „Hawkwojd“ sind und auch sonst keine feindlichen Absichten hegen, legt er sein anfängliches Misstrauen ab. Wir versuchen ihm zu vermitteln, dass wir einen kranken Freund haben, der dringend Hilfe braucht, und dass es sehr eilt. Zu unserer Verwunderung scheint er zu verstehen und führt uns aus dem Wald.
Etwa eine halbe Stunde später erreichen wir ein kleines Dorf, eine Handvoll einfacher Holzhütten mit hohen Rieddächern, umgeben von einem Palisadenzaun. Als man uns sieht, läuft das Dorf sofort zusammen. Wenig später sind wir von einem drängelnden Ring von Neugierigen umringt, die uns verwundert, aber nicht feindselig anstarren. Erst jetzt, als uns so viele Augenpaare mustern wird mir klar, dass wir mit unseren zerrissenen und dreckigen Kleidern auf sie einen weitaus wilderen Eindruck machen müssen, als sie auf uns… Es fällt auf, dass ein jeder der Dorfbewohner bewaffnet ist, sogar die Frauen. Zwar handelt es sich meist nur um einfache Waffen, wie Messer, Keulen oder der eine oder andere Jagdspeer, aber dennoch; das Leben hier draußen scheint eine Bewaffnung nötig zu machen. Glücklicherweise scheinen uns die Dorfbewohner vorerst nicht als eine Bedrohung einzustufen.
Nach kurzer Zeit teilt sich die Menge, und ein älterer Mann mit schlohweißem Haar und einem wettergegerbten Gesicht tritt vor; wir nehmen an, das er der Dorfvorsteher oder der Sprecher ist, was sich später bestätigt. Er nennt sich Bentrem Yotulis, wobei „Bentrem“ wohl sein Titel oder eine Amtsbezeichnung ist. Wieder dauert es einige Zeit, bis wir mit Händen und Füßen unser Anliegen vermitteln können; Avalan imitiert die Wolfswesen, die uns angegriffen haben, und sofort ist Verstehen in den Gesichtern der Menschen zu erkennen - und Besorgnis. Yotulis stellt einen kleinen Trupp von Männern zusammen, und wir brechen auf, zurück zu den anderen.
Kurz nach Mittag erreichen wir das Lager; zu unserer großen Erleichterung ist ihnen nichts zugestoßen, aber Daton geht es sehr, sehr schlecht. Seine Augen sind blutrot und er windet sich in Fieberkrämpfen. Bentrem Yotulis beginnt sofort, ihn zu untersuchen, während ich und Avalan erst einmal erschöpft niedersinken. Die Dauerläufe der Nacht und des Vormittags waren ausgesprochen kräftezehrend. Ich würde gerne etwas schlafen, aber eine Bemerkung Avalans reißt mich hoch. „Wer ist eigentlich der Mann, der von Yotulis untersucht wird?“
Augenblicke später rede ich mit Megan auf Avalan ein; aber wieder der gleiche Effekt. Er erinnert sich nicht an Daton, er hat ihn einfach aus seinem Gedächtnis ausgeblendet. Er ist für keines unserer Argumente zugänglich; er erinnert sich zwar vage an unseren Absturz und die letzten Tage, aber dass Daton bei uns war, hat er völlig verdrängt. Sämtliche logischen Widersprüche die sich in seinem Gedächtnis ergeben müssen, werden von ihm als unbedeutend abgetan.
Es ist mir ein Rätsel, und beunruhigender denn je. So wie es aussieht wird er uns in der Tat bald alle vergessen haben. Ich versuche, ihm das klar zu machen; dass er dann alleine ist, ohne Freunde auf einem fremden Planeten. Er hört nicht zu. Gut. Soll er doch. Wir können ihm eh nicht helfen.
Bentrem Yoltulis hat für Daton unterdessen eine grüne Kräuterpaste angerührt, aus verschiedenen Ingredienzien und Pulvern, die er aus den Tiefen seines Umhanges hervorgezaubert hat. Die Wunde unter den Verbänden sah nicht gut aus, die Entzündung ist weiter fortgeschritten, das Fleisch eitert und riecht ungesund. Ich kann nur hoffen, dass Yotulis weiß, was er tut. Nach dem Wechseln der Verbände hat er Daton einen Trank mit einem herb-stechenden Geruch eingeflößt, worauf Daton in einen tiefen Schlaf gefallen ist. Das Zittern hat nachgelassen, ein gutes Zeichen. Yotulis hat einen Singsang angestimmt, vielleicht eine Art Gebet? Oder spricht er mit irgendwelchen obskuren Naturgeistern? Was auch immer, solange es hilft.
Nach einiger Zeit weist Yotulis seine Begleiter an, Daton wieder auf die Tragebahre zu legen, und wir brechen auf. Die Rückreise ins Dorf verläuft gemächlicher, worüber ich nicht unglücklich bin. Gegen eine längere Ruhepause hätte ich auch nichts einzuwenden…
Gegen Nachmittag erreicht unsere kleine Reisegruppe das Dorf, und sofort umringen uns wieder neugierige Menschen. Man geleitet uns zu einem großen Langhaus, das größte Gebäude des Dorfes und das einzige, das aus Stein gemauert ist. Darin empfängt uns ein einzelner großer Raum mit mehreren langen Tischen, und ein Kamin, in dem ein Feuer wohlige Wärme verbreitet. Es ist wohl eine Art Versammlungshaus. Daton wird ein Lager nahe des Kamins bereitet, wir setzen uns derweil mit Yotulis an den Tisch. Erneut versuchen wir, ihm unsere Geschichte zu erzählen. Es ist nicht leicht, ihm zu erklären, woher wir kommen und wer wir sind; wie wir vor allem in das Dorf gekommen sind, unsere Flucht, der Absturz… Erst als Megan die Sprungtorkarte auf dem Tisch ausbreitet, kommen wir weiter. Yotulis ist fasziniert von der Karte. Wir zeigen ihm wo Hagarth liegt, und wo die Welten der verhassten Hawkwood; endlich können wir ihm klarmachen, dass wir nicht zu ihnen gehören, sondern von ganz unterschiedlichen Orten des Universums stammen. Er begreift schnell; wir stellen auch fest, dass er lesen kann, auch wenn er mit den Bezeichnungen auf der Karte nichts anfangen kann, kennt er zumindest die Buchstaben unserer Schrift.
Nach diesem für beide Seiten sehr fruchtbaren Gespräch verlässt Yotulis das Langhaus, um mit seiner Gemeinde zu sprechen. Man bringt uns Decken und ein paar Felle, so dass wir uns endlich etwas ausruhen können.