Nächster Teil:
Damit hatte er viellecht sogar recht gehabt, dachte Hannah. Diese Welt hat nicht gerade viel zu bieten, das einem spaßigem Abenteuer nahe käme. Sie schaute aus dem Fenster. Genau auf der anderen Straßenseite war eine Bushaltestelle. Jeden Morgen konnte Hannah die Menschen beobachten, die möglichst früh, so schien es, auf ihrem Arbeitsplatz eintreffen wollten oder sollten. Es waren fast jeden Morgen die gleichen Menschen, die um 7.00 auf den Bus warteten. Eine Frau mit weißer Blude, hochhackigen Schuhen und plattgeglätteten Haare, ein Mann mit Brille, rasiert und im schwarzen Anzug, eine ältere Frau mit weißen Haaren und ein Mann mit einer französischen Mütze und einem schwarzen Hund. Es bot sich ein sehr lustiges Bild, denn der Mann mit Hund und Mütze passte so gar nicht zu den anderen dreien, die so angepasst an die westliche Managementgeselschaft schienen.
Hannah rieb sich die Augen und gähnte. Sie hatte überhaupt keine Lust auf Schule. Nachdem sie kurz in die Küche geschaut hatte, machte sie sich mit einem Lächeln auf den Weg. Ob ihre Mutter immer so verpeilt sein würde?
Hannah lief jeden morgen fast eine halbe Stunde zu früh los. Dies ist kaum zu verstehen, wenn man bedenkt, dass Hannah gerne lange schlief. Allerdings wohnte Hannah nicht irgendwo, sie wohnte genau am Hafen. Jeden Morgen konnte sie das Plätschern des Wassers, das Kreischen der Möven und das Knacken der Masten im Wind hören. Nichts Schöneres gab es in dieser Stadt als morgens durch den alten Segelhafen zu laufen. Der Segelhafen bestand nicht aus irgendwelchen neuen, weißlackierten Segelschiffen, sondern aus alten, hässlichen, großen Holzschiffen, die Fred baute. Fred war ein großer,dürrer Mann, der auf dem Meer geboren und groß geworden war. Er widmete seine ganze Zeit dem Bauen neuer, alter Segelschiffe aus Holz. Wo er das Holz herbekam, war Hannah ein Rätsel, denn viel Geld konnte Fred nicht besitzen. Aber sie fragte auch nicht weiter nach, sondern bewunderte seine Bauwerke, die auch tatsächlich zu Wasser gelassen werden konnten.
Hannah klopfte an die Tür einer hölzernen Hütte. Nichts rührte sich. Vielleicht war Fred schon wieder unterwegs. Manchmal bleib er wochenlang verschollen und tauchte dann urplötzlich wieder auf. Hannah drückte die Klinke hinunter. Die Tür war offen. Komisch, Fred schloss immer ab. Aber gut, viel zu Klauen gab es hier sowieso nicht. Vielleicht hatte Fred das Abschließen einfach vergessen. Hannah betrat die Hütte. Es roch nach Holz und Öl, ein komisches Gemisch. Eine Katze miaute. Das war Mitternacht, Freds Katze, die aus den Mülltonnen der Nachbarschaft aß, es sei denn Hannah brachte ihr etwas anderes mit. Die Hütte war sonst fast leer, außer einem Bett und einem Schreibtisch voller Zettel und Ordner, gab es nichts in diesem Raum, außer Schrott. Hannah blickte zu Tür, schloss diese und ging zum Schreibtisch. Sollte Fred zurückkommen, würde er nicht denken, Hannah wolle ihm etwas klauen. Er hatte keine Geheimnisse, die auf Papier standen, er hatte Geheimnisse in seinem Kopf. Hannah betrachtete die Zettel auf dem Tisch. Schiffe in unterschiedlichen Farben und Formen waren zu sehen, aber was war das?... In der linken oberen Ecke lag ein vollgeschriebenes Stück Papier – ohne Rechtschreibfehler!, dachte Hannah. Fred war kein Vertreter der deutschen Rechtschreibung, er schrieb jedes Wort, so wie er es sprach. Aber dieser Zettel war voll mit Wörtern, die der deutschen Rechtschreibung sehr ähnelten.
Auf dem Zettel stand:
Hallo Hannah, ich heiße Anna und wohne nicht weit weg. Ich kann oft das sehen, was du siehst. Das wunderte mich, so habe ich dir diesen Brief geschrieben. Ich hoffe, er kommt an. Antworte!
Was hatte das zu bedeuten. Da schrieb ein Mädchen einen Brief an sie und behauptete, sie könne, dass sehen, was hannah sieht. Was sollte das denn? So etwas ging doch gar nicht. So ein Blödsinn. Hannah packte den Zettel ein und lief aus der Hütte. Sie musste in die Schule.
Hannah versuchte auf dem Weg das gerade Gesehene zu vergessen. Sie hatte keine Angst, aber irgendetwas sagte ihr, dass das, was sie gerade erlebte, nicht real sein konnte. Vielleicht träumte sie?
Aber wer denkt schon in einem Traum, dass er träumt. So etwas hatte Hannah noch nie geträumt. Im Traum schien der Mensch allen seinen Erinerungen und Gedanken ausgeliefert. Er konnte nicht selbständig nachdenken und irgendetwas in eine bestimmte Richtung entwickeln. Im Traum war Hannah Zuschauer ihres eigenes Lebens, wenn sie wach war, muste sie selbst Entscheidungen treffen und Situationen verändern. Das war im Traum unmöglich.
Hannah bleib stehen. Sie konnte jetzt nicht in die Schule. Selbst wenn ihr Lehrer einmal eine nicht einschläfernde Geschichte seiner Jugend, sondern eine spannende erzählen würde, gäbe es für Hannah keine anderen Möglichkeit als weiterzugrübeln. Sie konnte jetzt nicht aufhören, darüber nachzudenken, was dieser Zettel war. Auf der anderen Seite war eine Bushaltestelle. Hannah kramte in ihrem Portemonnaie. Sie benutze sonst nie den Bus, aber beim Sitzen konnte man besser nachdenken als beim Laufen. Sie öffnete das Protemonnaie und es kam ihr vor, als träfe sie ein Blitz in die Mitte ihrer Brust. Ihr Ausweis war verschwunden. Hanah blickte sich um, wo konnte sie ihn verloren haben? Ein Ausweis kann doch nicht einfach aus einem Portmonnaie, das sich in einem Rucksack befindet, herausfallen, geschweige denn, gestohlen werden.
Nichts ging mehr. Hannahs Gedanken drehten sich im Kreis. Sie rannte los. Der Bus und das Nachdenken beim Sitzen waren jetzt egal. Sie musste diesem ganzen Zeug auf die Spur kommen. Vielleicht hatte sie ja Glück und wachte doch irgendwann einmal auf.