Autor Thema: Balance - Ein kurzer Überblick  (Gelesen 977 mal)

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Offline 1of3

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Balance - Ein kurzer Überblick
« am: 27.08.2011 | 15:55 »
Guten Tag.

Ausgehend von eineraktuellen Frage im D&D-Bereich möchte ich kurz ein paar Dinge zum Thema Balancing sagen. Die Gedanken sind nicht unbedingt neuartig, einiges vielleicht sogar langweilig. Der ungeneigte Leser mag also an dieser Stelle abschalten.


Was ist Balance?
Balance ist, wenn sich keiner Tisch am benachteiligt fühlt. Es handelt sich also um etwas, dass man im Grunde nur in der Spielgruppe ausmachen kann. Was für die eine Gruppe ein Spielspaßtöter sein kann, ist für die nächste vielleicht völlig in Ordnung. Dies liegt nicht nur an der individuellen Wahrnehmung, sondern auch an unterschiedlicher Benutzung der gleichen Regeln. Bei D&D3 sind Schurken recht nutzlos gegen Untote. Das ist natürlich egal, wenn im Spiel keine Untoten auftreten.


Warum reden wir dann drüber?
Das Regelwerk kann also höchstens einen groben Rahmen geben. Trotzdem ist Balance ein häufiges und häufig hitziges Thema. Warum eigentlich? Hier muss man differenzieren. Zunächst gibt es in gewissen Kreisen das Charakter-Optimieren selbst als Spiel. (Die D&D-Gemeinschaft ist da ganz groß, bei anderen Spielen findet man das aber auch.) Hier ist also das Ausreizen der Möglichkeiten ein Gedankenspiel und die Ergebnisse sollen nicht unbedingt am Spieltisch landen. Oft werden hier bestimmte Fragestellungen beantwortet, etwa: Wieviel Schaden kann ein Charakter auf dieser und jener Stufe anrichten? Wie viele Fertigkeiten kann man kriegen?

Ein anderes Ziel ist die Chance für eine Unzufriedenheit am Spieltisch herunterzusetzen. Das Ziel ist also gleichsam robuste Regeln zu erschaffen, welche die Wahrscheinlichkeit für empfundene Unbalance reduzieren. Ich möchte mich im weiteren dieser zweiten Fragestellung widmen.


Wie kommt es zur Wahrnehmung von Unbalance?
Zunächst kann dies passieren, wenn ein Spieler deutlich weitreichendere Einflussmöglichkeiten auf einem Gebiet hat, bei dem ein anderer Spieler ebenfalls mitmischen wollte. Wenn also etwa der Charakter eines Mitspielers deutlich besser kämpft als meiner, obwohl mein Ziel war, einen fähigen Kämpfer zu spielen. Das ist in den meisten Spielen kein Problem. Beim Schach lerne ich von meinem Mitspieler, schaue mir seine Tricks ab und mache es dann genauso oder besser.

Das Problem beim Rollenspiel kann sein, dass ich keinen Elf spielen will. - Jetzt einmal unter der Annahme, dass Elfen die besseren Kämpfer sind. Das Problem ist hier, dass ein Regel-Element ("Kann besser kämpfen") gewisse fiktive Elemente transportiert, eben z.B. lange Ohren. Es ist also ggf. nicht möglich einfach die Taktik des Mitspielers nachzuahmen, weil das Charakterkonzept dazu nicht passt. Das Gefühl von Ungerechtigkeit stammt dann nicht aus der höheren Effektivität des Mitspielers, sondern daher, dass der Effektivitätsunterschied nur daher rührt, eben gewisse fiktive Elemente zu bevorzugen.

Eine triviale Lösung ist natürlich die Regelmechanismen und die Fiktion nicht zu koppeln. Elf zu sein, gewisse Waffen zu benutzen, an dieser oder jener Akademie studiert zu haben, hat dann einfach keine Auswirkungen. Alternativ kann man auch darauf achten, dass nicht zwei Leute um die gleiche Stelle konkurrieren. Wenn einer den Damage Dealer macht, macht der nächste etwas anderes. Man spricht hier davon, jedem eine Nische zu geben.

Spiele können diese Nischenbildung durch Klassen erleichtern. Wenn man also etwa weiß, dass Priester dies oder das können, erleichtert das die Nischenwahl, wenn der Spieler sagen kann: "Ich möchte Priester spielen." Es ist aber auch ohne solche Pakete möglich.


Ein anderer Grund für wahrgenommene Imbalance kann sein, dass die Spielzeit die ein anderer Spieler für seine Tätigkeit verbraucht bzw. die Aufmerksamkeit, welche er dafür bekommt, ungleich verteilt ist. Dieses Problem geht tiefer. Nehmen wir an, ein Charakter kann gut fallen finden. Es gibt sogar ab und zu Fallen im Spiel, die zu finden sich lohnt. Trotzdem wird beispielsweise viel gekämpft und der Fallensucher kann nicht gut kämpfen. Problem: Ein einzelner Kampf dauert so lange wie alle Fallen in der ganzen Kampagne zu suchen.

Auch hier gibt es wiederum zwei Möglichkeiten. Zunächst kann man das Problem regelseitig elemenieren. Wenn ich ein Spiel schreibe kann ich also sicherstellen, dass wenn es so ein Subsystem Kampf gibt, dort alle Charaktere etwas leisten können. Das Spiel wird gleichsam verdoppelt: Alle haben im Kampfspiel ihre Nische und alle haben im Rest-Spiel ihre Nische. (Theoretisch lassen sich auch noch weitere Subspiele denken.)

Eine zweite Möglichkeit ist bloße Manpower über Training zu stellen, also den Ablauf etwa so einzurichten, dass ein Bauernjunge mit nem Schwert einen sinnvollen Beitrag leisten kann. Er kann nicht glänzen, aber seine Mitarbeit ist geschätzt. Das lässt sich also etwa durch Regeln für Überzahl oder unterstützende Aktionen regeln.

Man kann natürlich auch ohne Regeländerungen versuchen das Problem zu mildern. Dann müssen die gesuchten Fallen noch viel zentraler für den Fortlauf der Handlung sein.


Drittens gibt es die Möglichkeit, dass einige Charaktere gewisse Probleme umgehen können. Das kann bei Magiern passieren, frei nach dem Motto: "Schön, dass du klettern kannst. Wenn's beliebt kann ich uns kurz alle hochfliegen." Das ist ein besonders bösartiges Problem von kaputten Nischen und tritt häufig in Verbindung mit Magiern auf. Der Spieler hatte also Klettern gesteigert in der Annahme, dass das hier und da nützlich sein könnte. Der Magier macht das Problem aber obsolet.

Auch hier kann man wieder regelseitig und im Spiel selbst das Problem angehen. Häufig sehen die Regeln vor, dass solche Tricks nicht ständig funktionieren. Der Magier kann nur begrenzt Probleme aus der Welt zaubern. Das kann funktionieren. (Dass es bei D&D3 ab gewissen Stufen nicht funktioniert, ist der häufigste Kritikpunkt.) Alternativ kann man gewisse Dinge festlegen, die Magie eben nicht lösen kann. Es gibt also beispielsweise keine Flugzauber, keine Gedankenbeherrschung usw. Das kann auch sehr stimmungsvoll sein und funktioniert gut, man hat nur eben keine Magier, die im Grunde alles können können.

Am Spieltisch lässt sich das Problem mildern, indem Magie z.B. dann und wann ausfällt. D&D bietet beispielsweise Antimagie-Felder. Das ist wohlgemerkt nicht immer opportun.


Viertens kommt das Problem vor, dass es "nicht abenteuerrelevante Fertigkeiten" gibt. Also beispielsweise Kochen, Nähen usw. Dieses Problem ist ziemlich simpel regelseitig zu lösen, indem man die entsprechenden Dinge, entweder aus dem Spiel streicht, sie umsonst macht oder mit Hobby-Punkten bezahlen lässt. Eine andere Möglichkeit wäre sie fantastisch aufzumotzen. Nähen (und  nur Nähen) erlaubt also z.B. die Fertigung magischer Umhänge.


Letztlich ist anzumerken, dass das Gefühl von Imbalance nicht unbedingt vom Benachteiligten ausgehen muss, um zum Problem zu werden. Möglicher Weise entsteht die Situation, dass etwa die Könner sich verpflichtet fühlen, die Schwächeren mit durchzuschleifen. Das kann interessant sein, ist es aber für gewöhnlich nur, wenn die Situation bewusst herbeigeführt wird. Und dann nimmt man meist eher narrative Spiele dafür.

Hier hilft dann meist nur ein Gespräch in der Gruppe. Beachtet, dass möglicher Weise der Benachteiligte das Problem nicht sieht oder es nicht als Problem ansieht.


Soweit erst einmal. Ich wollte aber auf etwas ganz bestimmtes hinaus, weshalb ich diesen langen Angang gewählt habe.

Wenn es nicht um das erwähnte Optimierungsgedankenspiel geht, ist es egal, ob ein Charakter zwei oder drei Punkte Schaden mehr anrichtet.

Die hier aufgezeigten Quellen für Unzufriedenheit am Spieltisch haben für gewöhnlich weitergehende Gründe und solche, die weniger graduell, sondern viel eher konzeptionell sind.


Offline Oberkampf

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Re: Balance - Ein kurzer Überblick
« Antwort #1 am: 27.08.2011 | 16:10 »
Die vier Punkte geben die Probleme schön zusammengefasst wieder. Tatsächlich sind bei Unausgewogenheitsproblemen geringe statistische Unterschiede völlig belanglos, auch wenn diese sich in längeren Kampagnen summieren. Wenn der Dieb im Schnitt 5% öfter trifft und 1 Schadenspunkt mehr verursacht als der Kämpfer, ist das auf lange Sicht hin eine ganze Menge Schaden mehr, in den jeweils speziellen Kämpfen an einem Abend bemerkt das meistens kein Mensch.

Etwas anderes ist es, wenn eine Klasse mehr Nischen gleichzeitig ausfüllen kann als andere Klassen. Also der Dieb Kämpfen, Scouten/Einbrechen und Informationen ermitteln kann, der Kämpfer aber nur Kämpfen. Dann ist Stress vorprogrammiert.
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killedcat

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Re: Balance - Ein kurzer Überblick
« Antwort #2 am: 27.08.2011 | 16:46 »
Weitestgehend Zustimmung von mir. Allerdings ....
Zitat
Wenn es nicht um das erwähnte Optimierungsgedankenspiel geht, ist es egal, ob ein Charakter zwei oder drei Punkte Schaden mehr anrichtet.
Manchmal geht es aber um mehr als zwei oder drei Punkte Schaden. Da geht es um ein Vielfaches an Schaden. Da geht es darum, dass ich in einem System mit einem Heiler problemlos zwanzig Trolle hintereinander töten kann, wohingegen der Krieger meist beim ersten tot ist. Rein wertetechnisch.

Ich sehe es aber auch so, dass das eher seltener das Problem ist.

Eulenspiegel

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Re: Balance - Ein kurzer Überblick
« Antwort #3 am: 27.08.2011 | 17:22 »
Spiele können diese Nischenbildung durch Klassen erleichtern. Wenn man also etwa weiß, dass Priester dies oder das können, erleichtert das die Nischenwahl, wenn der Spieler sagen kann: "Ich möchte Priester spielen." Es ist aber auch ohne solche Pakete möglich.
Hier ist zu beachten, dass viele Klassen aber nicht nur regelseitig wirken sondern auch einen fiktiven Zwang haben.

Nehmen wir zum Beispiel an, wir spielen D&D und ich möchte einen guten Heiler spielen. Dann muss mein Charakter die Klasse Kleriker haben und somit religiös sein.
Es ist nicht möglich, einen Arzt bzw. Medicus zu spielen.

Falls man also ein RPG mit Klassen entwickelt, ist darauf zu achten, dass dies rein regeltechnische Klassen sind, die keinen fiktiven Zwang ausüben. (Nach dem Motto: Kleriker können besser heilen als Ärzte. Schurken können besser schleichen als Ninjas, Shaolin-Mönche können besseren waffenlosen Nahkampf als Gladiatoren etc.)