Autor Thema: Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels  (Gelesen 11772 mal)

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Offline Lord Verminaard

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Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« am: 19.01.2004 | 21:48 »
Das hier ist kein Modell mit Allgemeingültigkeitsanspruch, nur ein kleiner Artikel über meine persönliche Rollenspielphilosophie, den ich mal geschrieben habe, und der gleichzeitig die Grundlage meines "Leitfadens für atmosphärisches Rollenspiel" bilden soll. Mit der Bitte um Kritik und Anmerkungen:

Viel Hirnschmalz ist darauf verwendet worden, was der Sinn, das Ziel des Rollenspiels sei. Es sind Spielertypen beschrieben worden, es sind drei angebliche Hauptmotive skizziert worden. Es ist von den Gegnern der Theorien und Modelle immer wieder unterstrichen worden, dass es doch letztlich nur darauf ankäme, Spaß zu haben. Doch wann hat man den meisten Spaß am Rollenspiel?

Ich kann hier nur für mich antworten, doch ich glaube, dass die meisten meiner Mitspieler, mit denen ich persönlich gespielt habe, mir zustimmen: Ich hatte den größten Spaß beim Rollenspiel, wenn es mir gelungen ist, völlig in die Spielwelt und meinen Charakter abzutauchen. Wenn die im Spiel dargestellten Situationen und Ereignisse mir so plastisch erschienen, dass ich fast glaubte, sie anfassen zu können. Wenn die Gedanken und Gefühle meines Charakters meine eigenen wurden.

Doch wie erreicht man diesen Punkt? Ist es, wie manche sagen, die erzählte Geschichte, auf die es ankommt? Konflikte, Prämissen, Dramaturgie? Ist es die Herausforderung, die es zu meistern gilt? Ist es die Emulation und Erforschung des Settings und der Charaktere? Eine Mischung aus allem? Etwas ganz anderes? Hier ein paar Beispiele für besonders denkwürdige Szenen, die mit selbst aus meinen Runden in Erinnerung geblieben sind:

- Unsere DSA-Gruppe wanderte durch einen nebligen Sumpf, der von Geistern und Irrlichtern heimgesucht wurde. Mein abergläubischer Gaukler hatte furchtbare Angst und betete zu Praios, dem Gott des Lichts und der Gerechtigkeit, und während er betete, linderte sich seine Furcht.

- Wir wanderten durch einen verwunschenen Elfenwald, und ein Mitstreiter und ich sahen in der Ferne ein Einhorn.

- Unsere Star-Wars-Gruppe, die in die Vergangenheit zurückgereist war, um den 10jährigen Luke Skywalker vor einem Anschlag von ebenfalls zurückgereisten Siths zu beschützen, kämpfte gemeinsam mit Obi-Wan Kenobi in den Straßen von Mos Eisley gegen drei Sith, und der Kampf stand auf Messers Schneide.

- Die Gruppe, von mir als SL in eine ausweglose Situation manövriert, wurde in buchstäblich letzter Sekunde von einem alten, todgeglaubten Kampfgefährten gerettet.

- Ein einzelner Charakter schlich sich in ein vor Feinden strotzendes Haus, um einen Gefangenen zu befreien, und musste dabei sehr vorsichtig und geschickt agieren, sonst wäre er erledigt gewesen.

- Einer meiner Gefährten behandelte seine Geliebte achtlos und brachte sie in Gefahr. Ich rettete sie, und wir hatten eine Affäre. Später kam es zu einem erbitterten Streit zwischen mir und meinem Gefährten.

- Nach vielen Tagen des anstrengenden Marsches durch eine Eiswüste fanden wir eine heiße Quelle und nahmen ein wohltuendes Bad.

All diesen Szenen war gemein, dass sie über eine besondere Qualität verfügten, die ich einmal so umschreiben möchte, dass sie besonders atmosphärisch waren. Sie waren einfach sehr stimmungsvoll und packend und zogen mich in ihren Bann. Solche Szenen zu erschaffen, solche besonders atmosphärischen Szenen, möchte ich als mein Ziel beim Rollenspiel definieren.

Damit ist nun noch nicht die Frage beantwortet, wodurch Atmosphäre entsteht. In jedem Fall dürfte gute sprachliche Beschreibung hierfür wichtig sein. Eine passende Umgebung beim Spielen und die richtige Hintergrundmusik können die Atmosphäre ebenfalls fördern. Auch schadet es nicht, wenn alle Mitspieler ausgeruht sind und für das leibliche Wohl gesorgt ist. Böse Zungen behaupten darüber hinaus, ein gewisser Alkoholkonsum sei dem atmosphärischen Rollenspiel förderlich...

Im Zentrum aber meine ich hauptsächlich vier verschiedene Faktoren zu erkennen, die – jeder für sich genommen – dazu geeignet sind, die Spieler zu fesseln und zum „Eintauchen“ in ihren Charakter und die Spielwelt zu bewegen:

1) Identifikation mit dem Charakter: Wenn Spieler einen Charakter lieb gewinnen und sich mit ihm identifizieren, fühlen sie mit ihm. Wenn dem Charakter besonders erfreuliche oder unerfreuliche Dinge passieren, steigert dies den Bezug der Spieler zu diesen Ereignissen. Das kann das Erreichen eines lang gehegten persönlichen Ziels ebenso sein wie eine schlichte Annehmlichkeit oder eine Geste der Anerkennung durch einen coolen NSC.

2) Angst um den Charakter: Wenn es für den Charakter richtig gefährlich wird und die Spieler das Gefühl haben, dass sie den Charakter wirklich verlieren könnten, sind sie oft auch sehr bei der Sache. Gefahr erzeugt Spannung, und Spannung erzeugt Atmosphäre. Das ist ein Vorteil, wenn man nicht mit „unantastbaren“ SCs spielt.

3) Dramaturgie: Manchmal können auch außerhalb des Charakters stehende Ereignisse die Spieler in ihren Bann ziehen. Wenn die Charaktere Teil einer größeren Geschichte sind, deren Dramatik und Spannungsbogen besonders packend sind, kann sich das auf die Spieler übertragen. Das ist es wohl, was mit der „erzählten Geschichte“ gemeint ist. Ich halte diesen Faktor allerdings eher für den schwächsten der hier genannten.

4) Faszination: Oft führt das Rollenspiel die Charaktere an außergewöhnliche Orte oder lässt sie außergewöhnlichen Personen oder Geschöpfen begegnen. Sich diese Dinge vorzustellen, ist faszinierend und begeisternd, und je einzigartiger und wundervoller sie sind, desto eher werden sie auch in der Lage sein, die Spieler in ihren Bann zu ziehen, vor allem, wenn sie gut und plastisch beschrieben werden.

Diese vier Faktoren dürften m.E. die wesentlichen sein, aus denen ein guter SL einen Cocktail mixen kann, der zu einem wirklich atmosphärischen Rollenspiel gereicht. Und wenn man als SL spürt, dass sich die Atmosphäre, die man kreiert, auf die Spieler überträgt, wird man in der Regel auch selbst mit hineingezogen, das ist jedenfalls meine Erfahrung. Das Gefühl, die Spieler in seinen Bann zu ziehen, ist großartig. Deshalb haben dann auch alle was davon.

Demgegenüber kann man sich, wenn man nicht aufpasst, die Atmosphäre aber auch schnell ruinieren und die Spieler aus der mühevoll erzeugten Stimmung „wachrütteln“. Dafür kann einerseits ein blöder Kalauer oder der Pizzabote zur Unzeit sorgen. In solchen Situationen hat man noch eine faire Chance, wieder zurückzufinden. Schlimmer jedoch sind die Faktoren, die die Atmosphäre nachhaltig zerstören. Im Wesentlichen sehe ich da drei Punkte:

1) Plausibilitätsschwächen: Wenn etwas geschieht, das einfach keinen Sinn macht, und zwar offensichtlich keinen Sinn macht, stört das ungemein. Egal ob der SL schuld ist oder das Regelwerk. Es geht dabei nicht um Realismus, sondern um die Stringenz und innere Schlüssigkeit der Spielwelt. Natürlich müssen die Spieler die Plausibilität nicht sofort erkennen. Aber im Nachhinein schon. (Man kann als SL zwar die Gegebenheiten den Ereignissen anpassen, muss dabei jedoch berücksichtigen, was die Spieler schon wissen.)

2) Antiklimax: Ist die Dramaturgie auch nicht unbedingt der magische Schlüssel, um sofort die richtige Atmosphäre zu erzeugen, so kann eine schlechte Dramaturgie doch umgekehrt sehr schnell die Atmosphäre killen. Ein schlechter Wurf zur falschen Zeit oder das offensichtlich zwanghafte durchprügeln des Plots durch den SL können ziemlich nervig sein.

3) Umständliches Regelwerk: Wenn man zu viele Dinge nachschlagen und rechnen muss, dann ist das ein ständiges Ärgernis. Das heißt noch nicht, dass komplexe Regelwerke schlecht für die Atmosphäre sind. Entscheidend ist der reibungslose Spielablauf.

Wenn es einem gelingt, die oben genannten vier Pro-Faktoren zu betonen und die letztgenannten drei Contra-Faktoren zu vermeiden, wenn man dazu noch möglichst konsequent in Character spricht und sich auch mit der Darstellung von SCs und NSCs Mühe gibt, dann steigen die Chancen für ein wirklich intensives und stimmungsvolles Spielerlebnis erheblich.

Diese Überlegungen beziehen sich zunächst nur auf die Ebene des tatsächlichen Spiels. Welche Konsequenzen sich daraus für die Systemwahl ergeben, darüber bin ich mir noch nicht ganz im klaren, abgesehen von der Aussage, dass das System schnell und flüssig sein muss. Letztlich halte ich (bisher noch) ein „klassisches“ System mit dem Fokus Task Resolution für das beste, aber vielleicht auch nur, weil ich bisher nichts anderes ausprobiert habe.

Edit: Das "anstößige" Wort Immersion entfernt.
« Letzte Änderung: 26.01.2004 | 09:44 von Lord Verminaard »
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #1 am: 20.01.2004 | 13:52 »
Sehe schon, wir haben ähnliche spielstile, oder besser Idealvorstellungen.

Bei Identifikation würde ich noch etwas hinzufügen:

Auf die Charakterkozepte und die Erwartungen der Spieler eingehen.
Das beinhaltet besipielsweise, die welt so zu beschreiben, dass man bestimmten charakteren anreize gibt, ihre charaktere auszuspielen. So stellt man der rauhbeinigen söldnerin vieleicht mal einen Macho vor, mit dem sie gezwungen ist zusammenzuarbeiten, und gibt ihr somit gelegenheit ihn eines besseren zu belehren, und kann zugleich seine rolle besser ausspielen.
Mit den erwartungen ist es ähnlich,  das bedeutet, dass man mal sondiert, was der spieler mit seinem char erleben möchte, und entsprechende szenen herbeiführt, und auf Anreize und ideen die einem der spieler für solche gibt eingeht.

« Letzte Änderung: 20.01.2004 | 13:53 von Minneyar »

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #2 am: 20.01.2004 | 18:40 »
Äußerst interessanter Beitrag, sehr schön zu lesen. :)

Ich hätte da mal ein paar Verstehensfragen:

Habe ich das richtig verstanden, dass Dir Rollenspiel den größten Spaß macht, wenn Du eine möglichst intensive Immersion erreichst?
Dem weiter folgend, ist es so, dass für Dich die Atmosphäre die Immersion ausmacht?
Wenn also die Atmosphäre stimmt, ist auch die entsprechende Immersion da und Du bist total zufrieden mit dem Rollenspiel?
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Offline Lord Verminaard

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #3 am: 20.01.2004 | 21:02 »
@ Minne: Nun ja, auf die Erwartungen der Spieler einzugehen ist etwas, das bei keinem Spielstil schaden kann. Aber du hast recht, besonders beim Punkt "Identifikation" ist es wichtig, zu erkennen, wie der Spieler seinen Charakter sieht und was er sich für ihn wünscht. Im übrigen macht es auch durchaus Sinn, Vorlieben der Spieler anzusprechen, die außerhalb des Charakters liegen. Ich persönlich liebe Schiffe, egal ob mein Charakter ein Landei ist oder ein alter Seebär. Wenn unsere Gruppe zur See fährt, bin ich immer voll dabei und greife dem SL unter die Arme.

@ Cay: Nun ja, ich habe mit Absicht formuliert: "ich möchte es mal mit Atmosphäre umschreiben", oder so ähnlich. Letztlich bin ich mir nicht sicher, ob der Weg wirklich von meinen oben genannten Faktoren über die Atmosphäre hin zur Immersion führt, oder von den Faktoren direkt zur Immersion. Aber da Immersion so ein blödes Wort ist, bleibe ich bei Atmosphäre, und solange ich genau umschreibe, worauf es mir letztlich ankommt, sollte es mit der Nomenklatur auch keine Probleme geben, oder doch?

P.S.: Danke für die Blumen! :D
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #4 am: 20.01.2004 | 21:14 »
*lässtblütenaufihnregnen*

Nett geschrieben. Für ernst gemeintes eignet sich das aber mehr als Vorwort. Denn wie man nun genau bestimmte Punkte betont / vermeidet fehlt.

Offline Lord Verminaard

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #5 am: 21.01.2004 | 01:23 »
@ 1of3: Ja, ich habe nur mal versucht, einen Ausgangspunkt zu definieren. Im ersten Anlauf zu meinem "Leitfaden" hatte ich nämlich einen katastrophalen Aufbau gewählt. Mit den jetzt herausgearbeiteten Faktoren kann ich das ganze strukturierter angehen. Etwa so:

Einleitung - die Idee (etwa nach dem obigen Vorbild, vielleicht noch ein "was ist Rollenspiel" für N00bs)
Teil I - Grundlagen (Spielumgebung, Beschreibung, Darstellung)
Teil II - Die "vier Schlüssel" oder wie man Spieler fesselt
1. Identifikation mit dem Charakter - Charakterkonzept, Abstimmung der Abenteuer auf selbiges, Wünsche der Spieler berücksichtigen, usw.
2. Angst um den Charakter - Plädoyer gegen "Script Immunity" (Charaktere können sterben), wie man das richtige Maß an Gefahr findet und wie man den Spielern die Gefahr verdeutlicht
3. Dramaturgie - Spannungsbogen, Pacing, Tricks wie Cut-Szenen oder Cliffhanger, die Frage, inwieweit Dramaturgie planbar ist, usw.
4. Faszination - ein paar Tipps für Beschreibung und Darstellung, vielleicht ein paar Ideen
Teil III - Die drei "Atmosphäre-Killer" und wie man ihnen aus dem Weg geht
1. Plausibilitätsschwächen - der Konflikt Dramaturgie/Plausibilität, die Kunst, die Umstände so anzupassen, dass die Spieler es gar nicht merken, warum manche Regelwerke unplausible Ergebnisse liefern, usw.
2. Antiklimax - ein paar Tipps, ihn zu vermeiden, Alternativen zum Railroading und ein paar Worte mehr zum Charaktertod
3. Umständliches Regelwerk - woran man ein umständliches Regelwerk erkennt und warum es schlecht ist

Das ganze noch mit ein paar Beispielen versehen, das wäre dann der ungefähre Fahrplan. Die 45 Seiten, die ich schon geschreiben hatte, werde ich wohl komplett einstampfen. Waren eh zu weitschweifig. Allerdings hatte ich dort nach Informationen für Spieler und Spielleiter unterteilt, was jetzt fehlt. Darüber muss ich noch mal grübeln.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #6 am: 21.01.2004 | 20:41 »
Ich bin ja sehr gespannt auf das "Machwerk", weil ich zwar Immersion durchaus auch als Fundament für den Rollenspielspaß sehe, aber nicht davon ausgehe, dass da die Atmosphäre entscheidend ist.

Nichtsdestotrotz bin ich an einer entsprechenden Darstellung dieses Standpunktes sehr interessiert. Neue Perspektiven machen das Leben spannender.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #7 am: 21.01.2004 | 21:19 »
Ich bin ja sehr gespannt auf das "Machwerk", weil ich zwar Immersion durchaus auch als Fundament für den Rollenspielspaß sehe, aber nicht davon ausgehe, dass da die Atmosphäre entscheidend ist.

Interessante Aussage... bisher bin ich immer davon ausgegangen, daß "Atmosphäre" durch die Immersion der gesamten Spielgruppe in ihre Charaktere und das Setting geschieht. Welche Art von Atmosphäre das dann ist, sei ja nun mal dahingestellt - Horror, Entspannung, Spannung, Drama... Verminaard hat da ein paar sehr schöne Beispiele gebracht.

Ich habe früher mal eine Runde geleitet, in der sich diese Atmosphäre nur schwer aufbauen ließ - aber einmal haben wir es doch geschafft... es ging (ganz banal) darum, daß einige uneheliche Kinder vorhanden waren und der Priester und der Lord des Dorfes das nicht in Ordnung fanden (alle Beteiligten waren SCs). Jetzt mußten also Ehemänner für die beiden Mütter her... wir haben 4 Stunden lang fast nur Ingame diskutiert, und es hat unglaublich Spaß gemacht...

Mir fällt noch ein Atmosphärekiller ein - Spieler, die nicht bereit sind, sich auf die Atmosphäre einzulassen und die jedesmal, wenn es irgendwie emotional wird, blöde Sprüche von sich geben. Das stört die Dynamik der ganzen Gruppe. Solche Leute dazu zu bringen, sich auf emotionale Probleme, Horror oder anderes einzulassen, ist ein hartes Stück Arbeit...  :( Bis heute weiß ich keinen anderen Weg, als den entsprechenden Spieler anzuquengeln und zu versuchen, solche Kommentare weitgehend zu ignorieren...
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #8 am: 22.01.2004 | 16:51 »
Hallo zusammen,
was mir an dem Atmosphärendiskussion hier fehlt ist die Gemeinschaftskomponente. Natürlich ist die Immersion (die btw. im englischen zwar ein passender Begriff ist, als deutsches Fremdwort aber eher etwas seltsam ist --> "1. Eintritt eines Himmelskörpers in den Schatten eines anderen, 2. Einbetten eines Objekts in  eine Flüssigkeit mit besonderen lichtbrechenden Eigenschaften :-)  eine wesentliche Voraussetzung für Atmosphäre und ich stimme  dem grundsätzlich zu, dass Immersion in den eigenen Charakter und Spielatmosphäre sehr eng miteinander verbunden sind.

Was ich mit Gemeinschaftskomponente der Atmosphäre meine, ist so etwas wie kollektive Imagination:
Nur wenn jeder Spielteilnehmer innerhalb bestimmter Grenzen dasselbe sieht, riecht, hört und schmeckt kann Atmosphäre entstehen, da nur dann alle eine annähernd gleichen Eindruck der Spielumwelt haben und entsprechend darauf reagieren können. Wenn die kollektive Imagination nur schwach ausgeprägt ist oder fehlt, dann kommt es zwangsläufig zu Störungen der Atmosphäre. Die jeweils eigene Imagination eines Spielers wird durch störende Einflüsse aus der Imagination (und den daraus folgenden Handlungen) anderer Mitspieler beeinträchtigt.
Beispielsweise könnte die Beschreibung eines NSC von Spieler A als bedrohlich wahrgenommen während Spieler B in derselben Beschreibung einen harmlosen NSC zu erkennen glaubt. Wenn nun der Charakter von Spieler A mit gezogenem Schwert und einem lauten "Stirb Schurke!!!" auf den NSC los stürmt, wäre die Imagination von Spieler B empfindlich gestört. Aktionen oder Beschreibungen der Mitspieler passen dann nicht mehr in die Imagination des Spielers und führen zu logischen Brüchen bzw. zu atmosphäretötenden Diskussionen.

Was ich im übrigen nicht teile ist die Gleichsetzung von Spaß und Atmosphäre. Auch rumblödelei am Spieltisch ausserhalb der Spielebene kann Spaß machen und ist wohl kaum atmosphärisch.

Beim Thema Plausibilitätsschwächen würde ich auch noch das Thema "Suspension of Disbelief" erwähnen, das imho viel damit zu tun hat.
Viele Grüße
Syntax
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #9 am: 22.01.2004 | 17:34 »
@Leonie: Ich will hier nicht des Lords Thread "hijacken", daher nur eine kurze Antwort. Ich meinte mit meiner obigen Äußerung, dass ich zwar die Immersion als grundlegend - auch wenn nicht ausschließlich - fürs Rollenspiel und den Spaß daran sehe. Allerdings bin ich nicht der Auffassung, dass Immersion hauptsächlich durch das Schaffen einer entsprechenden Atmosphäre erreicht wird bzw. bei Fehlen dieser nicht aufkommen kann. IMO gibt es andere, wesentlichere Gründe für Immersion und Spaß am Rollenspiel.
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Offline Lord Verminaard

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #10 am: 22.01.2004 | 21:28 »
Jetzt könnten wir natürlich über die Definition der Atmosphäre diskutieren. Ich denke auch, dass Atmosphäre viel mit fehlender Distanz und plastischer Vorstellung zu tun hat, so dass sie in der Tat bereits sehr nah an der Immersion ist.

@ Cay: Das würde mich jetzt aber schon mal interessieren, welche Faktoren für dich für die Immersion maßgeblich sind. Ist auch kein Hijacken des Threads, sondern voll on topic (find ich)! :)

@ Syntax: Das mit der kollektiven Komponente ist ein interessanter Einwand. Werde ich einbauen.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #11 am: 23.01.2004 | 17:39 »
Na, wenn der Chef des Threads meint, das sei kein Hijacken, dann los: :D

Als alte Klugscheißerin vom Dienst würde ich zunächst gerne eine gemeinsame Defintion von Immersion anstreben, als Diskussionsbasis sozusagen.
Ansonsten reden wir über etwas, wovon ggf. jeder eine andere Vorstellung hat.

Mein Definitionsversuch:
"Mit Immersion ist beim Rollenspiel das komplette Eintauchen/Abtauchen des Spielers in das von allen Spielern zusammen erschaffene Produkt ihrer Immagination gemeint."

Ich habe absichtlich vom 'Produkt der Immagination' geschrieben, weil die einzelne Spieler ggf. in Unterschiedliches hinabtauchen, sei dies die Spielwelt, die Gefühlswelt ihres Charakters, die entstehende Erzählung, etc, aber alle diese Bestandteil zum Produkt der Immagination gehören.

Auch möchte ich den Begriff der Immersion von der 'suspension of disbelief' eindeutig abgrenzen, bei dem es um das Aufgeben des realistischen Zweifelns geht.

So genug geschlaumeiert. Was sagt der Rest dazu?
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #12 am: 23.01.2004 | 17:45 »
Mein Definitionsversuch:
"Mit Immersion ist beim Rollenspiel das komplette Eintauchen/Abtauchen des Spielers in das von allen Spielern zusammen erschaffene Produkt ihrer Immagination gemeint."

Damit hast Du, im Kern, überhaupt nichts definiert.
Du sagt im wesentlichen:
Immersion ist die Identifizierung mit dem Produkt der Imagination.

Definieren wir doch mal dieses Produkt.
Was wollen wir imaginieren ?

Bei einen ist das eine komplette Story, bei anderen nur ein kleiner Ausschnitt (und zwar der in dem ihr Charakter vorkommt), andere gehen kosmoglobalgalaktischer an die Sache heran.

Die Definition des "Produkts der Imagination" sagt viel über die Frage "Was erwarte ich von Rollenspiel" aus.
Vielleicht sollte man damit mal anfangen.

Sonst haben wir am ende eine tolle Definition die aber auf unterschiedlichen Erwartungen (und Anforderungen) aufbaut.
« Letzte Änderung: 23.01.2004 | 17:54 von Wawoozle »
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #13 am: 23.01.2004 | 17:55 »
Damit hast Du, im Kern, überhaupt nichts definiert.
Du sagt im wesentlichen:
Imersion ist die Identifizierung mit dem Produkt der Imagination.
Genau das wollte ich damit aussagen! Das ist für mich der kleinste gemeinsame Nenner beim Rollenspiel.

Zitat
Die Definition des "Produkts der Imagination" sagt viel über die Frage "Was erwarte ich von Rollenspiel" aus.
Genau darauf will ich hinaus, wenn ich meine, dass Atmosphäre nicht grundsätzlich der maßgebliche Bestandteil von bzw. die maßgebliche Ursache für Immersion ist.
Ich gehe davon aus - kurz gefasst - dass Immersion nur dann für alle entstehen kann, wenn die Spieler am Spieltisch grundsätzlich ähnliche Erwartungen an das Rollenspiel haben und auch versuchen diese durch ihr Rollenspiel umzusetzen. Ist dies nicht der Fall, kommt es zu Störungen im Spiel, in der Immersion und in der Erfahrung von Spielspaß.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #14 am: 23.01.2004 | 18:09 »
Nun... für die Immersion ist die gleiche oder ähnliche Erwartungshaltung "hilfreich", für die Atmosphäre aber genauso.

Ich kann nachvollziehen, dass die Atmosphäre des Spiels entscheidend für den Grad der Immersion ist.

Nichts desto trotz bleibt die Frage:
"Was erwarte ich von Rollenspiel"

Momentan beobachte ich da zwei Trends:
Die einen betreiben eine Art von "klassischem Rollenspiel" das nur aus dem Wort selbst besteht "Eine Rolle spielen".
Mit mehr oder weniger Varianz in den Bereichen "Schnetzeln", "Labern" und "Emotionalität".

Die anderen gehen darüber hinaus und vermischen den klassischen Ansatz mit etwas, dass ich mal "Co-Authoring" nennen möchte.

Beide Haltungen sind gänzlich verschieden, aber beide beanspruchen für sich dasselbe Wort.
Das macht die sache mit der "Anspruchs- und Erwartungshaltung" etwas schwierig ;)

Denn atmosphärisches Rollenspiel beim einen ist nicht dasselbe wie beim anderen.
« Letzte Änderung: 23.01.2004 | 18:16 von Wawoozle »
Ihr wollt doch alle den Nachtisch zuerst !

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #15 am: 23.01.2004 | 18:25 »
Die anderen gehen darüber hinaus und vermischen den klassischen Ansatz mit etwas, dass ich mal "Co-Authoring" nennen möchte.
Meinst Du damit das Übertragen von Spielgestaltungsaufgaben, die sonst nur dem SL zustehen, an die Spieler?

Zitat
Beide Haltungen sind gänzlich verschieden, aber beide beanspruchen für sich dasselbe Wort.
Ich denke, dass dies die Grundfrage trifft: Was verstehe ich unter Rollenspiel = Was erwarte ich vom Rollenspiel = Was will ich im Rollenspiel machen.

Zitat
Denn atmosphärisches Rollenspiel beim einen ist nicht dasselbe wie beim anderen.
Also ist auch die Definition von Atmosphäre bzw. atmosphärischem Rollenspiel notwendig. Aber zuerst die von Immersion, wenn ich davon ausgehe, dass Atmosphäre für Immersion sorgt - wie vom Autor des Threads behauptet.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #16 am: 23.01.2004 | 20:29 »
Unter Atmosphäre kann man ja grundsätzlich zwei verschiedene Dinge verstehen:
a) die Atmosphäre am Spieltisch, die Stimmung der Spieler. Diese Atmosphäre kann gespannt sein, wenn zwei Spieler sich nicht abkönnen, oder albern, wenn alle zu viel getrunken oder zu wenig geschlafen haben. Um Immersion (also die Versenkung in den Charakter und die Spielwelt) zu unterstützen, sind einige "Atmosphären" geeigneter als andere: Entspannt, aber aufmerksam würde für mich ideal klingen.
b) die Atmosphäre, die eben durch das Versenken im Spielgeschehen entsteht (ich benutze jetzt mal "Versenken" im Sinne von Immersion, da mir kein gescheites Verb dazu einfällt  :)). "Wir hatten beim Rollenspiel richtig Atmosphäre" ist ein Ausdruck, den ich schon öfter gehört habe - genauso, wie Leute über einen atmosphärischen Film reden. Was genau diese Atmosphäre ist, wie sie entsteht und wie man sie am besten hervorrufen kann, ist ziemlich schwierig zu fassen... meiner Meinung nach ist die Immersion in Charakter, Welt und Geschichte dafür maßgeblich.

Wie man jetzt Immersion von Suspension of Disbelief abgrenzt, ist mir nicht so ganz klar... ohne Suspension of Disbelief (die Bereitschaft, sich auf die Logik der Welt und der Charaktere einzulassen), sehe ich nicht, wie Immersion erreicht werden kann.
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #17 am: 24.01.2004 | 20:17 »
Ich würde Rollenspiel-Immersion durchaus auch mit 'Versenken im Spielgeschehen' erklären. Die Frage ist, was man unter Spielgeschehen bzw. dem Spielgeschehen, das man erreichen will, versteht.

Ich kann in das Erfahren der Spielwelt abtauchen. Ich kann in das Erleben der kreierten Geschichte abtauchen. Ich kann in das Kreieren der Geschichte abtauchen. Ich kann in das Nachfühlen der Persönlichkeit des Charakters abtauchen. Ich kann in das Entwickeln der Charakterpersönlichkeit im Bezug auf einen bestimmten Aspekt abtauchen. Ich kann in das Erschaffen von Hindernissen für meine Mitspieler abtauchen. Ich kann in die Taktik beim Überwinden von Hindernissen abtauchen. Weitere Beispiele bitte entsprechend ergänzen. :)

'Suspension of disbelief', also die Fähigkeit den rationalen Zweifel zu überwinden, um sich in die Vorstellungswelt einer Geschichte zu versetzen, ist nur in einigen der oben genannten Fälle für die Immersion notwendig; nämlich in denen, in den das Erleben einer fiktiven Realität als Spielziel gilt. In diesem Fall würde ich auch zustimmen, dass das Erzeugen von Atmosphäre beides unterstützt, Immersion und 'suspension of disbelief'.
Nicht weil die Dinge schwierig sind, wagen wir sie nicht,
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aga g.

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #18 am: 25.01.2004 | 20:18 »
Ich denke, wenn man sich in das "Nachfühlen eines Charakters" versenken will, muß man seine rationalen Zweifel ebenso beseite lassen wie beim Erdenken einer Geschichte. Schließlich ist es äußerst unhilfreich, wenn man sich mitten in der dramatischen Szene mit dem wiedergefundenen Sohn, von dem man gar nichts wußte, daran erinnert, daß eine solche Szene auch in der Seifenoper letzte Woche vorgekommen ist.  ;)

Gut, beim Erdenken der eigentlichen Geschichte hilft rationales Denken natürlich weiter als rein emotionales Reagieren, aber selbst da muß man sich auf die Logik der Spielwelt einlassen und die Logik seiner eigenen Realität beiseite lassen. Vielleicht klingt es für mich übel, wenn die Leute in der Vulkanstadt immer mal wieder jemanden in den Vulkan schmeißen, um ihn zu besänftigen - aber für die ist das ein Mittel, um in einer feindlichen Umgebung zu überleben. Um einen NSC aus dieser Stadt glaubhaft darstellen zu können, muß ich mich auf seine Sicht der Dinge einlassen, und meine rationalen Zweifel an seiner moralischen Haltung unterdrücken...
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #19 am: 25.01.2004 | 22:10 »
@ Cay: Oh Gott, du verbringst zu viel Zeit mit dem Elch! ;) Also ich meinte mit Immersion diejenige, die mit der besagten "Suspension of disbelief" einhergeht. Im übrigen hatte ich dir eine einfache Frage gestellt: Was erzeugt bei dir Immersion? Ich warte! :)

Zitat
Ich kann in das Erfahren der Spielwelt abtauchen. Ich kann in das Erleben der kreierten Geschichte abtauchen. Ich kann in das Kreieren der Geschichte abtauchen. Ich kann in das Nachfühlen der Persönlichkeit des Charakters abtauchen. Ich kann in das Entwickeln der Charakterpersönlichkeit im Bezug auf einen bestimmten Aspekt abtauchen.

Ja, und jedes Mal tauche ich umso intensiver ab, umso weniger ich mich distanziere. Wenn ich aufhöre, darüber nachzudenken, dass das ganze nicht real ist, habe ich den höchsten Grad erreicht. Ich frage mich, wie man das von der "willing suspension of disbelief" abgrenzen will. Das "Abtauchen" ist das Produkt, die "Suspension" ein Faktor. Beides steht nicht im Verhältnis der Alternativität, sondern in einem Stufenverhältnis.

Zitat
Ich kann in das Erschaffen von Hindernissen für meine Mitspieler abtauchen. Ich kann in die Taktik beim Überwinden von Hindernissen abtauchen.

Das will ich sehen. Du bist GNS-geschädigt, das ist alles. In diese Sachen kann kann man nicht abtauchen. Man kann sie sehr intensiv betreiben, aber man kann nicht in sie abtauchen.

P.S.: Wenn man in eine Geschichte "abtaucht", gehört für mich auch dazu, den ganzen Meta-Ebenen-Quatsch zu vergessen. Man kann nicht in Erzählgewalt und Prämissen abtauchen, sondern nur in Situationen, Personen und Ereignisse. :P
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Offline Lord Verminaard

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #20 am: 26.01.2004 | 09:42 »
P.P.S.: Äh, ich glaube, mein Beitrag klingt etwas härter, als er eigentlich gemeint war, insofern sorry. Wahrscheinlich war es mein Fehler, ein Wort zu benutzen, über dessen exakte Bedeutung ich mir nicht sicher war. Am besten, ich editiere die "Immersion" aus meinem obigen Beitrag heraus. Allerdings muss ich auch sagen, dass ich bisher davon ausgegangen war, die Immersion sei etwas besonderes, gerade dem Rollenspiel eigentümliches. Nach deiner Auslegung allerdings könnte man auch beim Häkeln eines Spitzendeckchens Immersion erreichen.
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Offline Syntax Sohn des Errors

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #21 am: 26.01.2004 | 13:48 »
Vielleicht könnte man das Verständnis des Begriffes Immersion erleichtern, wenn man das Abtauchen (ich finde ja Eintauchen besser, das andere klingt so nach U-Boot :-) ) mit dem Annehmen einer anderen Persönlichkeit gleichsetzt.
Damit wäre der ganze Meta-Ebenen-Zirkus ausgeblendet und es wäre noch keine Aussage darüber getroffen, ob es sich nun um das Eintauchen in eine Geschichte, einen Charakter, um Charakterzüge oder sonst so etwas handelt.  Allen diesen Dingen ist ja in der Regel gemein, dass ich mich in sie durch eine angenommenen Persönlichkeit hineindenke (kaum einer wird beim Rollenspiel als echter auktorialer Erzähler fungieren, am ehesten noch der Spielleiter).
Also um es mal auf eine Definition zu bringen:
Mit Immersion wird das Eintauchen des Spielers in seinen Avatar und dessen Spielwelt verstanden. Dabei wird gleichzeitig das Geschehen auf der Spielmetaebene (Regeln, Werte, Würfel, event. Plot)  und der realen Welt (Pizzadienst, Mama, Klo gehen) möglichst vollständig ausgeblendet.
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Offline Wawoozle

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #22 am: 26.01.2004 | 14:03 »
Mit Immersion wird das Eintauchen des Spielers in seinen Avatar und dessen Spielwelt verstanden. Dabei wird gleichzeitig das Geschehen auf der Spielmetaebene (Regeln, Werte, Würfel, event. Plot)  und der realen Welt (Pizzadienst, Mama, Klo gehen) möglichst vollständig ausgeblendet.

Ja... das ist eine Definition die:
a) auch eine Aussage beinhaltet und
b) der ich zustimmen kann
« Letzte Änderung: 26.01.2004 | 14:05 von Wawoozle »
Ihr wollt doch alle den Nachtisch zuerst !

Offline Lord Verminaard

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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #23 am: 26.01.2004 | 14:41 »
@ Syntax: So in der Art habe ich es gemeint, also einerseits sich die Situation in der Spielwelt möglichst plastisch vorzustellen und andererseits die Gemütslage des eigenen Charakters möglichst authentisch nachzuempfinden. Keine Ahnung, ob das jetzt mit der Bedeutung des Fremdwortes "Immersion" gleichzusetzen ist, aber es ist jedenfalls das, was ich persönlich beim Rollenspiel anstrebe.

[Modellbauer-Modus]
Diese Überlegungen bewegen sich in der Tat auf einer von den GNS-Typen unabhängigen Ebene, allerdings m.E. anders, als Caynreth angedeutet hat. Bei GNS geht es darum, wie jemand an das Rollenspiel herangeht, wie er den Prozess "Rollenspiel" strukturiert. Das Ergebnis dieses Prozesses sind aber immer fiktive Situationen und Ereignisse, die sich in meiner Vorstellung (und der meiner Mitspieler) abspielen, und dort liegt m.E. des Pudels Kern. Je intensiver nämlich diese (kollektive) Vorstellung ist, desto mehr haben alle Mitspieler auch das Gefühl, Teil von etwas besonderem und erinnerungswürdigem zu sein. Das unterscheidet das Rollenspiel ja gerade von anderen Gesellschaftsspielen.

Wie ich mit meinen Ausführungen im Eingangspost deutlich machen wollte, sind die Faktoren, die jedenfalls bei mir persönlich zu einem derart intensiven Erleben der vorgestellten Situationen und Ereignisse beitragen, vielfältig und lassen sich nicht an einem zentralen, alles beherrschenden Motiv festmachen (der Begriff Atmosphäre ist ja selbst nur eine Umschreibung, die noch nichts darüber aussagt, wie sich diese erzeugen lässt.)

Jedenfalls kann man jede der drei GNS-Spielweisen als "atmosphärisches Rollenspiel" nach meiner obigen Definition betreiben, da man nicht alle von mir genannten Faktoren zwingend dafür braucht. Natürlich würden, wenn es den "reinen" GNS-Typen gäbe, Narrativisten am leichtesten den Atmosphäre-Killer "Antiklimax" vermeiden, und Simulationisten würden selten Probleme mit der Plausibilität haben. Meiner Erfahrung nach versuchen die meisten "fortgeschrittenen" Spieler jedoch von vornherein, beides abzustellen, und das ist auch gut so.
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Re:Die Schule des atmosphärischen Rollenspiels
« Antwort #24 am: 26.01.2004 | 17:39 »
Okay, soweit finde ich das klar und stimme Vermi zu.

Mir ist noch ein Atmosphäre-Killer eingefallen (oder vielleicht auch ein Atmosphäre-Förderer ?): Die Umgebung. Die hat nämlich einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Stimmung in der Spielgruppe. Wenn es kalt und zugig ist und eine nervige Mucke läuft, ist es einfach schwieriger, völlig in das Spielgeschehen einzutauchen. Ich sage nicht, daß es unmöglich ist, aber ich denke, eine bequeme, aber nicht zu gemütliche Umgebung, stimmungsvolle, aber nicht aufdringliche Musik, helfen durchaus dabei, bei der Spielgruppe für die richtige Stimmung zu sorgen.

Ob Kerzen da gut oder nicht sind, ist die Frage... klar, das Licht ist angenehmer und sorgt für eine geheimnisvolle Stimmung - aber dadurch, daß Kerzen Sauerstoff verbrauchen, auch für stickige Luft und Kopfschmerzen. Und Kopfschmerzen helfen echt nicht dabei, in Charaktere einzutauchen...  :)
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