Das hier ist kein Modell mit Allgemeingültigkeitsanspruch, nur ein kleiner Artikel über meine persönliche Rollenspielphilosophie, den ich mal geschrieben habe, und der gleichzeitig die Grundlage meines "Leitfadens für atmosphärisches Rollenspiel" bilden soll. Mit der Bitte um Kritik und Anmerkungen:
Viel Hirnschmalz ist darauf verwendet worden, was der Sinn, das Ziel des Rollenspiels sei. Es sind Spielertypen beschrieben worden, es sind drei angebliche Hauptmotive skizziert worden. Es ist von den Gegnern der Theorien und Modelle immer wieder unterstrichen worden, dass es doch letztlich nur darauf ankäme, Spaß zu haben. Doch wann hat man den meisten Spaß am Rollenspiel?
Ich kann hier nur für mich antworten, doch ich glaube, dass die meisten meiner Mitspieler, mit denen ich persönlich gespielt habe, mir zustimmen: Ich hatte den größten Spaß beim Rollenspiel, wenn es mir gelungen ist, völlig in die Spielwelt und meinen Charakter abzutauchen. Wenn die im Spiel dargestellten Situationen und Ereignisse mir so plastisch erschienen, dass ich fast glaubte, sie anfassen zu können. Wenn die Gedanken und Gefühle meines Charakters meine eigenen wurden.
Doch wie erreicht man diesen Punkt? Ist es, wie manche sagen, die erzählte Geschichte, auf die es ankommt? Konflikte, Prämissen, Dramaturgie? Ist es die Herausforderung, die es zu meistern gilt? Ist es die Emulation und Erforschung des Settings und der Charaktere? Eine Mischung aus allem? Etwas ganz anderes? Hier ein paar Beispiele für besonders denkwürdige Szenen, die mit selbst aus meinen Runden in Erinnerung geblieben sind:
- Unsere DSA-Gruppe wanderte durch einen nebligen Sumpf, der von Geistern und Irrlichtern heimgesucht wurde. Mein abergläubischer Gaukler hatte furchtbare Angst und betete zu Praios, dem Gott des Lichts und der Gerechtigkeit, und während er betete, linderte sich seine Furcht.
- Wir wanderten durch einen verwunschenen Elfenwald, und ein Mitstreiter und ich sahen in der Ferne ein Einhorn.
- Unsere Star-Wars-Gruppe, die in die Vergangenheit zurückgereist war, um den 10jährigen Luke Skywalker vor einem Anschlag von ebenfalls zurückgereisten Siths zu beschützen, kämpfte gemeinsam mit Obi-Wan Kenobi in den Straßen von Mos Eisley gegen drei Sith, und der Kampf stand auf Messers Schneide.
- Die Gruppe, von mir als SL in eine ausweglose Situation manövriert, wurde in buchstäblich letzter Sekunde von einem alten, todgeglaubten Kampfgefährten gerettet.
- Ein einzelner Charakter schlich sich in ein vor Feinden strotzendes Haus, um einen Gefangenen zu befreien, und musste dabei sehr vorsichtig und geschickt agieren, sonst wäre er erledigt gewesen.
- Einer meiner Gefährten behandelte seine Geliebte achtlos und brachte sie in Gefahr. Ich rettete sie, und wir hatten eine Affäre. Später kam es zu einem erbitterten Streit zwischen mir und meinem Gefährten.
- Nach vielen Tagen des anstrengenden Marsches durch eine Eiswüste fanden wir eine heiße Quelle und nahmen ein wohltuendes Bad.
All diesen Szenen war gemein, dass sie über eine besondere Qualität verfügten, die ich einmal so umschreiben möchte, dass sie besonders atmosphärisch waren. Sie waren einfach sehr stimmungsvoll und packend und zogen mich in ihren Bann. Solche Szenen zu erschaffen, solche besonders atmosphärischen Szenen, möchte ich als mein Ziel beim Rollenspiel definieren.
Damit ist nun noch nicht die Frage beantwortet, wodurch Atmosphäre entsteht. In jedem Fall dürfte gute sprachliche Beschreibung hierfür wichtig sein. Eine passende Umgebung beim Spielen und die richtige Hintergrundmusik können die Atmosphäre ebenfalls fördern. Auch schadet es nicht, wenn alle Mitspieler ausgeruht sind und für das leibliche Wohl gesorgt ist. Böse Zungen behaupten darüber hinaus, ein gewisser Alkoholkonsum sei dem atmosphärischen Rollenspiel förderlich...
Im Zentrum aber meine ich hauptsächlich vier verschiedene Faktoren zu erkennen, die – jeder für sich genommen – dazu geeignet sind, die Spieler zu fesseln und zum „Eintauchen“ in ihren Charakter und die Spielwelt zu bewegen:
1) Identifikation mit dem Charakter: Wenn Spieler einen Charakter lieb gewinnen und sich mit ihm identifizieren, fühlen sie mit ihm. Wenn dem Charakter besonders erfreuliche oder unerfreuliche Dinge passieren, steigert dies den Bezug der Spieler zu diesen Ereignissen. Das kann das Erreichen eines lang gehegten persönlichen Ziels ebenso sein wie eine schlichte Annehmlichkeit oder eine Geste der Anerkennung durch einen coolen NSC.
2) Angst um den Charakter: Wenn es für den Charakter richtig gefährlich wird und die Spieler das Gefühl haben, dass sie den Charakter wirklich verlieren könnten, sind sie oft auch sehr bei der Sache. Gefahr erzeugt Spannung, und Spannung erzeugt Atmosphäre. Das ist ein Vorteil, wenn man nicht mit „unantastbaren“ SCs spielt.
3) Dramaturgie: Manchmal können auch außerhalb des Charakters stehende Ereignisse die Spieler in ihren Bann ziehen. Wenn die Charaktere Teil einer größeren Geschichte sind, deren Dramatik und Spannungsbogen besonders packend sind, kann sich das auf die Spieler übertragen. Das ist es wohl, was mit der „erzählten Geschichte“ gemeint ist. Ich halte diesen Faktor allerdings eher für den schwächsten der hier genannten.
4) Faszination: Oft führt das Rollenspiel die Charaktere an außergewöhnliche Orte oder lässt sie außergewöhnlichen Personen oder Geschöpfen begegnen. Sich diese Dinge vorzustellen, ist faszinierend und begeisternd, und je einzigartiger und wundervoller sie sind, desto eher werden sie auch in der Lage sein, die Spieler in ihren Bann zu ziehen, vor allem, wenn sie gut und plastisch beschrieben werden.
Diese vier Faktoren dürften m.E. die wesentlichen sein, aus denen ein guter SL einen Cocktail mixen kann, der zu einem wirklich atmosphärischen Rollenspiel gereicht. Und wenn man als SL spürt, dass sich die Atmosphäre, die man kreiert, auf die Spieler überträgt, wird man in der Regel auch selbst mit hineingezogen, das ist jedenfalls meine Erfahrung. Das Gefühl, die Spieler in seinen Bann zu ziehen, ist großartig. Deshalb haben dann auch alle was davon.
Demgegenüber kann man sich, wenn man nicht aufpasst, die Atmosphäre aber auch schnell ruinieren und die Spieler aus der mühevoll erzeugten Stimmung „wachrütteln“. Dafür kann einerseits ein blöder Kalauer oder der Pizzabote zur Unzeit sorgen. In solchen Situationen hat man noch eine faire Chance, wieder zurückzufinden. Schlimmer jedoch sind die Faktoren, die die Atmosphäre nachhaltig zerstören. Im Wesentlichen sehe ich da drei Punkte:
1) Plausibilitätsschwächen: Wenn etwas geschieht, das einfach keinen Sinn macht, und zwar offensichtlich keinen Sinn macht, stört das ungemein. Egal ob der SL schuld ist oder das Regelwerk. Es geht dabei nicht um Realismus, sondern um die Stringenz und innere Schlüssigkeit der Spielwelt. Natürlich müssen die Spieler die Plausibilität nicht sofort erkennen. Aber im Nachhinein schon. (Man kann als SL zwar die Gegebenheiten den Ereignissen anpassen, muss dabei jedoch berücksichtigen, was die Spieler schon wissen.)
2) Antiklimax: Ist die Dramaturgie auch nicht unbedingt der magische Schlüssel, um sofort die richtige Atmosphäre zu erzeugen, so kann eine schlechte Dramaturgie doch umgekehrt sehr schnell die Atmosphäre killen. Ein schlechter Wurf zur falschen Zeit oder das offensichtlich zwanghafte durchprügeln des Plots durch den SL können ziemlich nervig sein.
3) Umständliches Regelwerk: Wenn man zu viele Dinge nachschlagen und rechnen muss, dann ist das ein ständiges Ärgernis. Das heißt noch nicht, dass komplexe Regelwerke schlecht für die Atmosphäre sind. Entscheidend ist der reibungslose Spielablauf.
Wenn es einem gelingt, die oben genannten vier Pro-Faktoren zu betonen und die letztgenannten drei Contra-Faktoren zu vermeiden, wenn man dazu noch möglichst konsequent in Character spricht und sich auch mit der Darstellung von SCs und NSCs Mühe gibt, dann steigen die Chancen für ein wirklich intensives und stimmungsvolles Spielerlebnis erheblich.
Diese Überlegungen beziehen sich zunächst nur auf die Ebene des tatsächlichen Spiels. Welche Konsequenzen sich daraus für die Systemwahl ergeben, darüber bin ich mir noch nicht ganz im klaren, abgesehen von der Aussage, dass das System schnell und flüssig sein muss. Letztlich halte ich (bisher noch) ein „klassisches“ System mit dem Fokus Task Resolution für das beste, aber vielleicht auch nur, weil ich bisher nichts anderes ausprobiert habe.
Edit: Das "anstößige" Wort Immersion entfernt.