Nach langer - wohl auch wohltuender Ruhe - in meinem Thread von umstrittener Sinnfälligkeit grabe ich ihn jetzt noch mal aus, um ein kleines vorläufiges Fazit zu ziehen.
Kurzer Disclaimer zum derzeitigen Stand meiner Kompetenz. Inzwischen fühle ich mich durchaus halbwegs OSR-belesen - ich habe mir LotFP ein zweites Mal, diesmal eingehender, zu Gemüte geführt, und Crypts & Things, die B/X-Regeln von Necrotic Gnome Pr. und die Blueholme Journeymenne Edition gelesen. LabLord und Swords&Wizardry habe ich nicht weiterverfolgt, weil mir beides einfach von Anfang an zu sperrig und rätselhaft war. Außerdem lese ich gerade in der 2nd Edition von Stars Without Number und Godbound herum, habe aber den Eindruck, dass beides eigentlich nur noch sehr eingeschränkt der OSR zuzurechnen ist. An Kampagnenmaterial kenne ich bisher Wormskin/Dolmenwood näher. Außerdem hat die Lektüre und das gelegentliche Spiel von DungeonWorld in mancher Hinsicht dazu beigetragen, mir die OSR zu erhellen (dazu unten mehr).
Es fehlt mir nach wie vor an Praxis - etwas öfter gespielt habe ich bisher nur DCC sowie in meiner Schulzeit ein bisschen AD&D 2nd, es sind aber nie echte Kampagnen daraus geworden (was, so mein Eindruck, ziemlich wichtig ist, um etwas aus OSR-Spielen zu ziehen).
Was ich interessant finde: Ich habe den Eindruck, dass ich die OSR-Regeln weit besser verstehe, wenn ich sie als "Storygame"-Regeln betrachte, sie also eher eine eine Schublade mit Polaris, Fiasko und pbtA stecke als mit RuneQuest, Cthulhu oder DSA. Dazu komme ich vor allem über die Gemeinsamkeiten von OSR-Regeln mit pbtA-Regeln: Beide kodifizieren in erster Linie typische Spielsitituationen in Regeln und in zweiter Linie dann noch Spezialfähigkeiten der Charaktere, interessieren sich aber weniger dafür, ein umfassendes Bild von Charakterfähigkeiten zu liefern (egal, wie grob- oder feinkörnig das nun ist), die dann nach gleichbleibenden Grundprinzipien auf immer neue Situationen angewandt werden. Beide betrachten das öffnen einer verklemmten Tür nicht von der Körperkraft des Charakters her (und auch nicht von seinem Willen, die Tür einzutreten oder so), sondern von den Regeln her, die das Spiel für diese kodifizierte Situation liefert. Und das kann dann evtl. noch durch einen Stärkewert o.Ä. modifiziert werden. Muss aber auch nicht.
Analog dazu ist auch klar, dass HP anders als in Spielen der BRP-Familie in praktisch gar keinem Bezug zur Toughness stehen müssen, sondern nur ein Maß dafür darstellen, wie schnell eine Figur sich im Kampf aus dem Spiel nehmen lässt. Und auch die Rettungswürfe sind für meinem Gefühl nicht vom Charakter her gedacht, sondern von der Wahrscheinlichkeit, mit der eine Figur, die eine bestimmte Zeit erfolgreich gespielt wurde (dann dafür sind XP ja ein Maß), durch einen Effekt vorübergehend oder permanent aus dem Spiel genommen werden soll.
Mein Eindruck: Das sind Storygame-Elemente, die eine bestimmte Kampagnendramaturige hervorbringen - in etwa das, was bei DCC zum Funnel verdichtet ist. Über langfristiges Spiel soll sich eine Gruppe überlebender Helden herauskristallisieren, die oft durch Storyregeln wie die HP weitgehend immun gegen reguläre Angriffe gewöhnlicher Feinde sind, aber durch Spezialeffekte nach wie vor bedroht werden (wenn auch in geringerem Maße als blutige Anfänger). Ich würde das als eher mythische Dramaturgie bezeichnen oder als eine Dramaturgie, die darauf abzielt, Mythengestalten hervorzubringen, samt langem Anlauf und immer vorhandenem Potenzial zum tragischen Scheitern. Wichtig dabei: Der Story-Aspekt kann sich nur über Kampagnen entfalten.
BRP-Spiele verhalten sich da ganz anders und binden alles sehr klar an die Fähigkeiten der imaginierten Figuren zurück. Dadurch erhalten sie z.B. immer die eher "simulationistische" Möglichkeit des One-Hit-Kills selbst gegen weit überlegene (menschliche oder menschenähnliche) Gegner, einschließlich der SC. Systeme wie Fate setzen, so mein Eindruck, eigentlich auf diese Philosophie auf und erweitern sie um einen punktewährungsbasierten Storymechanismus, der die Storyelemente tendenziell von der Kampagnenlänge auf die Einzelsitzungslänge herunterbricht. Die Fate-Punkte-Ökonomie könnte somit auch ein Ausdruck davon sein, dass ältere Spieler keine Zeit mehr haben, lange Kampagnen zu spielen, damit sich endlich mal eine Dramaturgie organisch aus dem Spielgeschehen entfaltet. So was wie PbtA scheint mir dagegen eigentlich sehr viel direkter von Old School D&D herzukommen, insofern eben typische Situationen verregelt werden - nur wird hier bei den möglichen Ergebnissen ebenfalls in die Fate-Richtung gegangen und die dramatische Entwicklung innerhalb einer einzigen Sitzung begünstigt.
OSR-Spiele verstehe ich sehr viel besser, wenn ich sie so einsortiere und z.B. HP oder Rettungswürfe nicht als irgendeinen Ausdruck der Fähigkeiten eines mehr oder weniger erfahrenen Kriegers oder Zauberers zu verstehen versuche, sondern als eine Regel, die eigentlich ähnliche Ziele verfolgt wie Gummipunkte - Regulierung der Überlebenswahrscheinlichkeit der SC -, allerdings bezogen auf Kampagnenlängen (in denen Levelling und statistische Wahrscheinlichkeiten bei Rettungswürfen dann zum Tragen kommen) und nicht auf einzelne Spielsitzungen.
So weit erst mal. In zwei Wochen werde ich voraussichtlich einen Dungeoncrawl in der Abbbey of St. Clewd mit LotFP leiten - wieder mal nur ein One-Shot, wie fast alles in den letzten Monaten bis Jahren, aber vielleicht verschafft es mir ja trotzdem noch weitere Einblicke. Bin neugierig auf Kommentare zu meiner Vermutung, dass sich OSR-Systeme erst in längeren Kampagnen wirklich entfalten.