Ich bin kein Historiker und bei Recherche fürs Rollenspiel achte ich vor allem darauf, was mich interessiert inspiriert, auch wenn ich mich dabei auf Unwichtiges konzentriere, Wichtiges in den Hintergrund stelle und manche Ereignisse ein paar Jahre vor- oder zurückverlege.
Nach dem Ende des Sezessionskriegs (1865) beginnt für die USA ein Goldenes Zeitalter mit gewaltigem Wirtschaftsboom und rasendem technologischen Fortschritt und hängt dabei langsam das alte Europa ab, was von Krisen und Konflikten, alten Eliten und politischen Verstrickungen gebremst wird. Um das ganze Wachstum zu ermöglichen, hat man seit Jahren millionen von Einwanderern aus Irland, Deutschland und Skandinavien angeworben.
In den 1870ern beginnt aber weltweit ein wirtschaftlicher Rückgang, der "Große Depression" genannt wurde und die USA weniger arg trifft als Europa und keinesfalls so vernichtend ist, wie es die "Große Depression" 1930+ sein wird. Richtung 1885 werden auch die Zuwanderer nicht mehr benötigt, gleichzeitig beginnt 1890 herum eine Einwanderungswelle aus den ärmeren und rückständigeren Ländern Süd- und Osteuropas, was vielen Amerikanern missfällt.
New York steht im Zentrum des Ganzen, einerseits ein Wirtschaftszentrum mit viel Reichtum, das es sich leisten kann, praktisch das Showcase des amerikanischen Fortschritts zu sein und dessen Bewohner stolz darauf sind, dass neue Erfindungen ihre Stadt ständig verändern. Andererseits das Haupteinfalltor für Einwanderer mit schrecklichen ungelösten sozialen Problemen.
Die positive Seite lässt sich gut mit dem Stand der Technik und Kultur zu der Zeit darstellen.
Was zum Alltag gehört (wenn auch nicht für jeden erschwinglich ist):
- Asphaltierte Straßen
- Wolkenkratzer mit Stahlskelett und Aufzug
- Stromversorgung durch E-Werk und elektrische Straßenbeleuchtung
- Effiziente Dampfmaschinen in allen möglichen Einsatzgebieten
- Nähmaschinen für jedermann
- Phonograph mit Wachszylinder
- Telefon
- Coca-Cola mit Strohhalm
- Bühnenstars (Lillian Russell etc.)
- Stadtparks (Central Park, Madison Square Park)
- Nichtmilitärische Festparaden
Was neu und hip ist:
- Freiheitsstatue
- Automobile (zu der Zeit eher Motorkutschen)
- elektrische und Dieselmotoren
- Solarstrom
- Schallplatten
- U-Boote
- Frühe Kinofilmtechnik
- Flugmaschinen und Luftschiffe
- Fahrräder (speziell New York erleidet eine monströse Radfahrwelle)
- Sportkleider für radfahrende Frauen
- Erdölförderung (in NY nicht die Förderung selbst, aber der Einfluss an der Börse)
- Verkehrsschilder
- Proto-Frühstücksflocken (eher so ein Weizenmüsli)
- Ragtime-Musik (Vorläufer des Jazz)
- Sportlicher, muskulöser Look des "arbeitenden Mannes", weg vom schlanken, feinen Bild des europäischen Aristokraten, Frackmode und Zylinder verschwinden im Alltag
- Bei Frauen wird die Wespentaille schick, akzentuiert mit weit fallendem Rock und aufgepufften Schultern ("hourglass-look")
Die
Weltausstellungen zu der Zeit bieten auch einen ganz coolen Einblick darauf, was damals Hightech war.
Viele New Yorker haben allerdings nichts von den ganzen schönen Dingen, sie leben eingepfercht in grusligen Mietskasernen und arbeiten für einen Hungerlohn. 1890 wird das der New Yorker Öffentlichkeit durch das Buch "
How The Other Half Lives" nahegebracht wird. Der Journalist Jacob Riis schreibt dort nicht nur über die Zustände, sondern präsentiert sie in Form einer modernen Fotoreportage (mittels supermoderner mobiler Blitzlichtkamera), weswegen das Buch auch noch heute eine
Superquelle ist.
Riis ist für unsere Zeit eklig rassistisch, aber er führt die Probleme mit Slums wie "The Five Points" auf äußere Einflüsse wie Armut, Hunger und Wohnungsnot zurück, die zu Problemen wie Alkoholismus, Seuchen, Gewalt und Kriminalität führen.
Gerade kriminelle Banden sind immer noch ein großes Problem und die Polizei liefert sich immer wieder Händel mit der "Five Points Gang" unter Paul Kelly (praktisch der Vereinigung all der Banden, die in "Gangs of New York", der 1862 spielt, eine Rolle spielen), die unter anderem in ein paar Jahren der "Ausbildungsbetrieb" von Al Capone und anderen Gangstern der Prohibitionsära werden wird. Größte Konkurrenz ist die "Eastman Gang", eine richtige Mafia mit Schutzgelderpressung, Prostitution, Glücksspiel, Drogenhandel und Auftragsmordservice unter dem Mafiaboss Monk Eastman, der die Einwandererslums an der Lower East Side von Manhattan fest im Griff hat.
Beide Gruppen haben Verbindungen zu korrupten Politikern und Verwaltungsbeamten, weswegen sie bis zum ersten Weltkrieg bestehen bleiben.
Andererseits sind die 1890er aber auch die Zeit, wo Wohltätigkeit in New York "in" wird. Die Reichen veranstalten Spendenevents und finanzieren Gesundheits- und Erziehungsprojekte besonders für Kinder. Besonders Kinderarbeit und die Wohnsituation in den "Tenement Houses" wird lange Zeit ein Problem bleiben. Aber eine weitere landesweite Wirtschaftskrise 1893 (die wieder mal "Große Depression" heißt) führt zu einer so radikalen Verschlechterung der Zustände, dass als Antwort die Wohltätigkeitsbewegung (zu der Zeit "Progressivimus" genannt) richtig anzieht und die Ärmsten der Armen mit Nahrung, Kleidung und Brennmaterial versorgt und z.B. Milchausgabestationen einrichtet, damit Kinder Zugang zu unverseuchter Milch haben.
Was ich als Quelle immer wieder interessant finde, sind Zeitungsarchive, z.B.
das von Google, Kopien alter Zeitungsausgaben im Internet verfügbar sind. Die Archive der wichtigsten New Yorker Zeitschriften der Zeit liegen leider aus Gründen
supernutzerfeindlich bei der Universität von Texas, aber es gibt zumindest
einzelne Ausgaben anderer Blätter frei zu haben.
Außerdem bietet mir speziell zu New York
dieses Blog immer wieder interessante Details quer durch die Geschichte. Mit "The Gilded Age in New York" haben sie auch ein
ganz anschauliches Buch für die Zeit 1870-1910 im Angebot.