Um mal den Bogen zurück zur Frage aus dem Eingangspost zu schlagen:
Welche Klischees bringen euch dazu einen Roman wieder aus der Hand zu legen, bei welchen Klischees würdet ihr sagen, das kann man noch hin nehmen?
Grundsätzlich sehe ich bei Klischees zwei ungesunde Extreme: "Klischee erfüllen auf Biegen und Brechen" vs. "Klischee vermeiden um jeden Preis".
"Auf Biegen und Brechen" ist dann erfüllt, wenn es keine Überraschungen mehr gibt; wenn jede Figur sich genau so verhält, wie es von dem tumben Krieger/dem weltfremd-gelehrten Magier/dem menschenscheuen Waldläufer erwartet wird. Dies gilt sogar für (vermeintliche) Brüche der Rolle, wenn sich der Zwerg und der Elb herzlich anfreunden, obwohl sich die beiden Völker ja eigentlich nicht leiden können. (Hand aufs Herz: Wer hat schon mal ein Zwerg-Elb-Gespann erlebt, das sich
ehrlich auf den Tod nicht ausstehen konnte? Die beiden freunden sich doch immer an wie Laurel und Hardy.)
"Vermeiden um jeden Preis" hingegen führt dazu, dass nichts mehr überrascht, weil die "Überraschung" zur Norm wird. Wenn es darauf hinausläuft, dass es eigentlich keine Gruppenklischees mehr gibt -- keinen typischen Elb, Zwerg, Klingonen, Ferengi, was auch immer --, dass nur noch die Individualität entscheidet und jedes Volk im Grunde zu jeder Regung fähig ist und sie irgendwann auch mal auslebt, dann brauche ich keine verschiedenen Völker, Charakterklassen und, ehrlich gesagt, auch keine verschiedenen Individuen mehr. Dann reichen mir viele baugleiche Roboter, auf denen überall dieselbe Software mit der vollen Breitband-Emotionspalette läuft.
Um das Beispiel Spock aufzugreifen: Wenn er irgendwann tatsächlich ausrasten und jemandem die Fresse polieren würde, hätte er für mich keinen Reiz mehr. Bei den Vulkaniern geht es für mich nicht um "Klischeeerfüllung", sondern um das reizvolle Gedankenexperiment: Was, wenn wir einem kulturschaffenden Volk begegnen, das tatsächlich keine Leidenschaften besitzt bzw. sie sich gründlich abtrainiert? Ein solches Gedankenexperiment konsequent durchzuhalten ist für mich sehr viel größere Kunst, als den Vulkanier irgendwann in einem Befreiungsschlag "menschlich" agieren zu lassen.
Ein weiteres brillantes Beispiel, das das Klischee durch Übererfüllung bricht, ist Batman in dem Comic-Klassiker "The Dark Knight Returns". Batmans starrsinnige "Ich weiß, was richtig ist, und ich ziehe es durch!"-Haltung, wegen der er auch gelegentlich auf die Schnauze fliegt, macht ihn zu einem echten, lebendigen Charakter -- sehr viel mehr, als wenn er zwischendurch doch ein weiches Herz zeigen oder Fehler zugeben würde.
Das alles ist jetzt natürlich etwas schwammig und wahrscheinlich für taurussieben keine allzu konkrete Hilfe. Daher will ich noch eine Beobachtung nachschieben, die ich in den letzten Jahren als Leser und Autor gemacht habe: "Originalität" ist für den Lesenswert einer Geschichte zweitrangig. Das elaborierteste, innovativste Spielweltgefüge kann zu Tode langweilen, wenn es konstruiert und blutleer ist. Die abgegriffenste, schon hundertmal dagewesene Teenager-Romanze kann zu Herzen gehen, wenn sie nur mit Herzblut geschrieben ist.
In diesem Sinne, taurussieben: Schreibe die Geschichte, die du selbst lesen willst. Solange du deine Klischees unter der Haut fühlst und sie dein Blut zum Singen bringen und in deinem Kopf und Herzen leben und atmen, bist du auf dem richtigen Weg.
EDIT:
Noch ein Nachtrag: Viel wichtiger als die Frage "Klischee oder nicht" ist bei einem Charakter die Frage, ob du seine Handlungsmotivationen nachempfinden kannst.
Beispiel: Als ich für eine Rollenspielsitzung eine Tavernenschlägerei geplant habe, habe ich mich u.a. auch in die Stadtwächter hineinversetzt, die irgendwann eingriffen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie lediglich zielgerichtet agieren, ohne spezifische Emotionen vorauszusetzen.
Dabei wurde mir klar: In einer mittelalterlichen Infrastruktur wäre es eine Katastrophe, wenn die Stadtwache von den Raufbolden in der Kneipe überwältigt würde. Es gibt keine Bereitschaftspolizei, die man per Telefon benachrichtigt und die binnen einer Stunde aus der nächsten großen Stadt angerückt kommt. Die paar Männer vor Ort haben entweder Erfolg, oder die Stadt ist danach ohne Stadtwache. Also lief das Vorgehen der Wache darauf hinaus, lieber schnell und hart durchzugreifen, als Verluste zu riskieren. Als Ergebnis kam für das Verhalten der Wache genau das Klischee des knallharten Schlägertrupps raus, dem man in der Fantasy so oft begegnet -- obwohl ich überhaupt nicht diese Absicht hatte.
Fazit: Lass dich beim Schreiben nicht von den Klischees beeinflussen -- weder im Sinne, sie erfüllen zu wollen, noch im Sinne, dagegen anzuschreiben. Wenn du hinterher bei einer fertigen Szene feststellst: "Hm, jetzt entspricht es dem Klischee", dann soll es manchmal einfach so sein.