Warum ist Charakterentwicklung in einem Film oder in einem Buch so wichtig, vor allem den Rezensenten? Warum liest und hört man oft, Film X oder Buch Y sei schlecht, weil die Charaktere seicht bleiben, sich nicht weiter entwickeln?
Weil die Rezensenten nicht besonders gut sind.
Ist überhaupt "seicht" das Gegenteil eines nicht weiterentwickelnden Charakters?
Nein. "Statisch" ist das Gegenteil eines sich nicht weiterentwickelnden Charakters. "Seicht" oder "flach" ist das Gegenteil eines... mal einen deutschen Begriff ersinnen... tiefen Charakters, also einer Figur, deren Eigenschaften umfassend beschrieben werden. Das ist natürlich eine Skala und keine Dichotomie.
Cruff war ein böser Räuber, der die Armen ausraubte. Eines Tages kam ein weiser Mann zu ihm und sagte: "Das ist böse, was Du tust. Sei besser ein guter Räuber!" Cruff antwortete "Recht hast Du!" und raubte seitdem die Reichen aus, um den Armen zu geben. Cruff ist ein dynamischer Charakter mit klarer Entwicklung, aber natürlich grotesk flach und uninteressant, zumal die Entwicklung lediglich zwischen zwei Stereotypen stattfindet. Man könnte auch Wrestler, die einen
heel face turn vollziehen, als Beispiel nehmen.
Es kann also flache und dynamische Charaktere geben, genau so wie es tiefe und statische Charaktere geben kann.
Noch eine Anmerkung, weil das ja oft im Zusammenhang mit Filmen genannt wird: Ein
character arc, wie er in diesem Geschäft gerne verwendet wird, ist
a.) nicht unbedingt deckungsgleich mit dem, was in der Literatur unter einem dynamischen Charakter verstanden wird (da die Entwicklung oft eher äußerlich ist) und
b.) nicht mit dem
narrative arc zu verwechseln. Dass sich die Geschichte entwickelt, muss ja nicht im Mindesten heißen, dass sich die Figuren entwickeln.
Beispiele für gute Medien mit statischen Charakteren gibt es zuhauf - obwohl ich die Tragödie als Genre da nicht einordnen würde, aber das führt zu weit. Ich versuche mal, an einem einzelnen populären Beispiel alle Punkte deutlich zu machen: Columbo. Columbo selber ist ein
relativ tiefer, aber völlig statischer Charakter. Gleiches gilt meistens für den Täter, der zwar nach manchen Maßstäben einen
arc hat, aber in der Regel keine psychologische Entwicklung durchmacht. Natürlich gibt es jedoch eine klassische Entwicklung der Geschichte selbst.