Das ist eine Frage, die mich die letzten Jahre immer wieder mal beschäftig hat: Warum ist Fantasy im Rollenspiel mehr oder weniger Standard, und nicht z.B. Science Fiction? Ein Teil der Antwort liegt mit Sicherheit darin, daß Fantasy einen sehr soliden Genre-Kern hat, also ein ziemlich stabiles Bündel von Merkmalen, die prototypische Fantasy kennzeichnen. (Strukturalistisch ist das übrigens ziemlich interessant und ein Fest für jeden Philologen.)
Wenn einer sagt »wir spielen typisches Fäntelalter« oder auch »kitchen-sink fantasy«, weiß jeder, aber wirklich jeder, was ansteht. Quasi-mittelalterliches Setting, Schwerter, Pferde, Karte, Reise, Magie, Queste, Königstum, alte Blutlinien, Prophezeiung, Dark Lord … man muß nur zugreifen.
Standard-Genre-Fantasy eben. Das Modell ist supersolide etabliert, vom Setting über »Colour« bis zu Strukturelementen, und wenn man mal zurückverfolgt, wo das alles herkommt, dann landet man im Jahr 1965: da hat sich die große Genre-Explosion ereignet, als der Verlag Ace seine »pirate edition« des Herrn der Ringe auf den amerikanischen Markt geworfen hat. Vorher hatte Tolkien keine großen Wellen geschlagen, aber dann auf einmal, BAMM. Das fiel auch auf fruchtbarsten Boden, vor allem im Kalifornien der Zeit: Gründung der Society for Creative Anachronism, allererste Renfairs (d.h. erste Mittelaltermärkte), Cons, Cosplay … und später dann, daraus herauswachsend, das Rollenspiel. Die ganze Nerd-Subkultur, die wir hier ganz offen genießen, kommt daher – Photos aus der Zeit wirken ziemlich seltsam, weil sie gleichzeitig weit weg und ganz nah dran sind.
Jedenfalls, damit war in der Fantasy das zuvor dominierende Modell Conan/Grey Mouser erstmal weg vom Fenster, Fantasy war von da an für eine lange Zeit vom Tolkien-Epigonismus beherrscht. (»High-Brow Fantasy« und Gegenmodelle gab es natürlich schon in den 70ern, aber wirklich durchsetzen konnten sich erst Urban Fantasy und die Vampirschiene – bis vor recht kurzer Zeit dann im Rahmen des wieder aufgeflammten Kulturkampfes in den USA völlig neues Leben in das Genre kam. Bei Fantasy tut sich gerade so einiges, und das ist ziemlich interessant. Jedenfalls für mich als Anglist.)
In der SF gab es mal ein ähnliches Genre-Kernmodell: Raketenschiffe, Strahlenpistolen, Roboter … das Äquivalent zu Sword & Sorcery. Dann dominierte Hard SF eine Weile, aber etwas wie die Tolkien-Standardschablone konnte sich nie etablieren – SF hat nie ein derart standardisiertes Erzählmodell entwickelt wie Fantasy und sich auf sehr unterschiedliche Subgenres verspreizt.
Wenn ich zusammenfassen sollte, wie ich im Augenblick darüber denke, würde ich sagen: Fantasy zieht ihr Leben aus Mythologie und Vergangenheit, und blickt großen Teils in die selbe Richtung; SF zieht ihr Leben aus Gegenwart und strebt, je nachdem worauf der jeweilige Autor sein Augenmerk gerichtet hat und wie er es angeht, in völlig unterschiedliche Richtungen davon.
Oder, anders gesagt, bei Fantasy weiß man, was man kriegt und was zu tun ist, damit es läuft; bei SF muß man erst mal schauen, worum es gehen soll und wohin man kommt. Fantasy ist deshalb sehr dankbar fürs Rollenspiel. Daß die starke Schablone mit einer riesigen Flut von literarischem »pink slime«-Fantasy-Schrott einhergeht, ist halt die andere Seite der Medaille.