EinleitungDie meisten von uns sind mit einer Reihe von Wahrheiten groß geworden: Der SL hat immer Recht. Der SL kennt die Geheimnisse der Welt, die Spieler nicht. Der SL entscheidet, was gespielt wird. Das System ist egal, wenn man einen guten SL hat. Es folgte dann ab ca. 2003 eine dekonstruktivistische Phase, gipfelnd in einer ganzen Reihe spielleiterloser Rollenspiele. Dieser Trend setzt sich bis heute fort. Gleichzeitig kann man, wenn man will, die OSR (auch) als Gegentrend begreifen.
Aus meiner heutigen Sicht sind die Versuche, die hergebrachte Aufgabenteilung durch etwas anderes abzulösen, weitgehend gescheitert. Es gab dahinter zwei Triebfedern, einerseits Negativerfahrungen mit egomanischen und stümperhaften SLs, andererseits die Situation, dass in der Gruppe keiner den Aufwand betreiben wollte, der zur adäquaten Ausfüllung der SL-Rolle erforderlich war. Tja Pech, ein guter SL ist durch nichts zu ersetzen.
“War doch klar”, sagst du? Nein, klar war das überhaupt nicht. Deshalb erlaube ich mir, etwas auszuholen.
Verhandlungsleiter mit Sonderbefugnissen“Der SL hat immer Recht” findet seine Begründung oft in einem Verständnis, das den SL in einer qualitativ grundverschiedenen Funktion gegenüber den Spielern sieht. Aus dieser Funktion erwachsen sozusagen kraft Naturrecht Befugnisse. Dieses Verständnis ist falsch. Rollenspiel ist ein Prozess, bei dem zwischen allen Beteiligten fiktionale Inhalte verhandelt werden. Ein Verhandlungsergebnis wird in die Fiktion aufgenommen, wenn alle Beteiligten es akzeptieren. Der SL ist also ebenso wie jeder andere darauf angewiesen, seine Mitspieler zu überzeugen. Es gibt kein Naturrecht, alles leitet sich von den Menschen am Tisch ab. Der SL hat nicht immer Recht, er hat manchmal auch Unrecht und kann überstimmt werden.
Gleichwohl hat es sich bewährt, dass der SL als Verhandlungsleiter fungiert, der über strittige Fragen entscheidet und den Verhandlungsprozess moderiert. Er (und kein anderer Mitspieler) ist für diese Rolle geeignet, weil der SL oft Dinge weiß, die die Spieler (noch) nicht wissen, und das ist auch gut so. Insofern ist es erforderlich, dass der SL manchmal intransparent bleibt und seine Verhandlungsposition nicht offen begründen kann. Hieraus entsteht ein Konflikt, zu dessen Auflösung die hergebrachte Lösung sich als die Beste herausstellt: Der SL muss sagen können, “das ist jetzt so, keine Diskussion.”
Daraus folgt: Ein guter SL ist einer, der den Verhandlungsprozess souverän moderiert, seine Beurteilung nicht grundsätzlich über die der anderen stellt, aber nötigenfalls eine strittige Frage pragmatisch entscheidet. Er macht von seiner Befugnis, die anderen ohne Begründung zu überstimmen, nur insofern Gebrauch, als dies zur Wahrung von SL-Geheimnissen erforderlich ist.
Wahrer notwendiger GeheimnisseDer unreflektierte Umgang mit Geheimnissen geht so: Der SL weiß alles, die Spieler sollen am Besten nur das wissen, was auch ihre Charaktere wissen. Diese Herangehensweise behindert das Spiel, da sie den SL zur Intransparenz zwingt. Die fiktionalen Inhalte werden weniger kontrolliert und verhandelt, was im Zweifel schlechtere Ergebnisse bedeutet. Die Spieler haben nicht die Chance, ihre Gedanken und Vorlieben einzubringen, der SL muss versuchen, diese zu erraten.
Das hergebrachte Verständnis ist also genau falsch herum, Geheimnisse und Intransparenz sind nicht grundsätzlich gut und richtig, sondern sie sind grundsätzlich falsch und schlecht. Der Grundsatz sollte die transparente Verhandlung auf Augenhöhe sein, Ausnahmen sind davon nur für
notwendige Geheimnisse zu machen, deren Wahrung (mit der Chance auf spätere Enthüllung) das Spiel wirklich bereichert. Die Frage ist durchaus legitim, ob das überhaupt je der Fall ist, die praktische Erfahrung sagt jedoch “ja”.
Daraus folgt: Ein guter SL ist grundsätzlich transparent und lässt sich nicht schon aus Prinzip nicht in die Karten gucken. Er hütet Geheimnisse vor den Spieler nur, wenn es das Spiel wirklich bereichert.
Leitfigur des SpielstilsSpielspaß entsteht, wenn alle Beteiligten “das gleiche Spiel spielen”. Da es kein SL-Naturrecht gibt, leitet sich auch nicht aus diesem her, dass der SL das System auswählt und darüber entscheidet, wie man es “richtig spielt”. Allerdings sind alle Versuche gescheitert, einen Spielstil in Worte zu fassen und dadurch reproduzierbar zu machen. Im Wesentlichen muss eine Gruppe ihren Spielstil selbst finden. Das System (und Setting) ist dabei keineswegs egal, sondern zentral, jedoch gibt es weite Interpretationsspielräume. Manche Entwickler haben versucht, diese Interpretationsspielräume stark einzuengen, dies hat sich aber nicht als allgemein gangbarer Weg erwiesen.
Gerade in der Konstellation “neues System, neues Setting, neue Gruppe” hat es sich bewährt, dass ein SL durch sein Beispiel und seine Moderation einen Spielstil vorgibt. Dies ist nicht der Endpunkt, wohl aber der Ausgangspunkt. Nimmt der SL sich zurück, ist Orientierungslosigkeit die Folge und in vielen Fällen kommt die Gruppe gar nicht bei einem gemeinsamen Spielstil an.
Der SL ist für die Rolle der Leitfigur aus zwei Gründen prädestiniert: Erstens kann er seine Rolle als Verhandlungsleiter hierfür nutzen. Und zweitens hat der SL die meiste Arbeit, damit das Spiel ein Erfolg wird, daher braucht der SL eine hohe Motivation, und die hat man nicht, wenn man als “Dienstleistungs-SL” seine eigenen Vorstellungen zurückstellt und sich nach dem richtet, was andere wollen.
Daraus folgt: Ein guter SL leitet das System und Setting seiner Wahl, und kommuniziert klar, welchen Spielstil er damit verbindet. Gleichzeitig bleibt er offen für die Signale der Spieler, und erlaubt dem Spielstil der Gruppe, sich zu entfalten.
SitzungsvorbereiterIst es ein Qualitätsmerkmal des SL, wenn er viel Aufwand in seine Sitzungsvorbereitung steckt? Diesen Aufwand scheuen ja viele, und schon immer gab es SLs, die im Wesentlichen improvisierten. Heute werden ganze Spiele dafür geschrieben. Dieser Ansatz liefert aber in vielen Fällen nicht die gleiche Qualität wie gute Vorbereitung. Ein SL, der voll im Thema ist, alles durchdacht, sein Material gut organisiert hat, kann reibungsloser und souveräner leiten als einer, der “schwimmt”. Die Inhalte werden konsistenter sein, oft auch die Ideen besser. Es ist auch nicht automatisch so, dass viel Vorbereitung zu wenig Flexibilität am Spieltisch führt, das ist eine Frage der Einstellung.
Viele effektive SL-Hilfsmittel wie z.B. Props, Handouts oder Playlists sind ohne Vorbereitungsaufwand gar nicht denkbar. Auch Regel- und Hintergrundkenntnis erfordert Arbeit.
Daraus folgt: Ein guter SL macht sich wenigstens so viel Arbeit, dass er reibungslos und souverän leiten kann, ggf. auch mehr für zusätzlichen Effekt. Er bleibt jedoch flexibel und geht auf die Ideen der Spieler ein.
Schummler?Ein SL darf Geheimnisse haben und intransparent sein. Dies bietet ihm die Möglichkeit zum Schummeln, also im weitesten Sinne, die Fiktion während des laufenden Spiels so nachzujustieren bzw. die Regeln so zu missachten, wie es ihm in den Kram passt. Ob er das darf, darum rankt sich eine ewige Kontroverse. Wenn man die praktischen Fälle analysiert, dann wird man jedoch feststellen, dass der SL mindesten einen von zwei Fehlern gemacht hat: Er servierte ein Ergebnis, das die Spieler doof fanden, oder er ließ sich erwischen.
Es gibt keinen moralischen Imperativ, der den SL dazu anhält, nie und unter keinen Umständen zu schummeln. Wer stümperhaft schummelt, wird wahrscheinlich auch ohne Schummeln ein Stümper bleiben. Insofern ist handwerkliche Kritik geboten, moralische Kritik nur dann, wenn das Gebot der Fairness verletzt wurde, durch eine über den Akt des Schummelns selbst hinausgehende Sauerei.
Daraus folgt: Ein guter SL schummelt allenfalls dann, wenn das Ergebnis das Spiel bereichert, und lässt sich nicht erwischen.
SchlusswortEin guter SL ist durch nichts zu ersetzen. Das bedeutet aber noch nicht, dass ein guter SL alleine bereits eine gute Runde garantiert. Ohne gute Spieler ist der beste SL verraten und verkauft.
Lob, Kritik, Kommentare? (Jaja ich weiß, habt ihr eh schon alle gewusst.
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Euer Vermi