Ich hab mittlerweile auch selbst etwas weiter recherchiert und bin über die beiden "Wizards Presents"-Bücher gestolpert, die wirklich interessante, einmalige Einblicke in den Entwicklungsprozess partiell bis runter auf Stimmung/Miteinander im Team und fachliche Entwicklung der Mitglieder entlang des Projekts. Ich kann die Lektüre nur empfehlen!
Hier kurz die Zusammenfassung der Argumente und Ideen für den Wechsel, die aus zwei Blickwinkeln präsentiert werden:
1. Gesinnung als Eigenschaft der Spielfiguren mit Auswirkungen auf Regeleffekte und CharakterspielAufgrund der polarisierende und streitfördernden Wirkung des Spielelements unter Fans in den Vorgänger-Editionen hatte das Designteam die Gesinnung als wichtige und nicht ganz einfache Baustelle früh im Blick. Auch innerhalb des Teams war das komplette Spektrum an Vorstellungen von "Unverändert beibehalten" bis "Abschaffen!" komplett vertreten.
Man suchte daher einen Kompromiss, der die Probleme wie das Konfliktpotential des klassischen Systems beseitigt und gleichzeitig den hohen, begrifflichen Wiedererkennungswert sichert.
Die Lösung: Gesinnung wird die Außnahme, nicht die Norm. Der Großteil ist gesinnungslos, offen, nicht-festgelegt, unvoreingenommen, Ideologiefrei und wahrscheinlich (meine Interpretation) auch einfach "gemäßigt".
„Most people just never choose sides, and never dedicate themselves to an ideal—they just do what they can to get by. Alignment is now a system you don’t have to play in if you don’t want to. Only characters with strong ideals will take up the cause of Good or Evil.”
Davon versprach man sich z.B. auch mehr Flexibilität in der Gruppenbildung. Gesinnung fällt damit endgültig als Grund für typische Konfliktfälle wie tendenziell zwielichtige Figuren zusammen mit dem typischen, strahlenden Klischee-Paladin in einer Gruppe aus. Gesinnung ist nicht Persönlichkeit das Spiel soll durch sie an Möglichkeiten nur erweitert, aber nicht eingeschränkt werden.
Mit der reduzierten Bedeutung von Gesinnung für das Spiel in der Fläche wurden bekannter maßen dann auch die ganzen mechanischen Zöpfe wie Sprüche und Fähigkeiten für/gegen Gesinnung XY abgeschnitten. Gesinnung wird dadurch quasi Optional und ist kein integraler Bestandteil des Regelwerks, mit welchem sich Spieler beschäftigen müssen, wenn sie nicht wollen.
„Shades of gray can make a campaign deeper and ultimately more rewarding. PCs should decide for themselves whether they think someone is evil, not rely on spells to make their decisions for them.“
2. Gesinnung als "Naturgesetz" bzw. Ordnungskonzept des Spielwelt-KosmosAls logische Konsequenz der Überlegungen auf der Charakterebene wurde dann wohl auch auf die Setting-Ebene projiziert, denn auch da sah das Designteam durch das alte Gesinnungssystem einigen Ballast ohne Mehrwert für Kampagnengestaltung und Spiel. Das betrifft zum Bleistift gesinnungsbedingte Konflikte zwischen Gegnergruppen an denen sich Spielerfiguren eigentlich nicht beteiligen,
"Too much in previous editions deals with evil fighting itself: Demon lords and archdevils war on each other rather than threatening the PCs. We don’t want to waste space on things players can’t use. Make sure conflicts are important and useful to making the game fun."
v.a. aber auch das hochkomplexe Ebenenmodell „Great Wheel“, welches ein Sammelsurium an dutzenden Ebenen für jede Gesinnung, Übergänge zwischen Gesinnungen, äußere und innere Ebenen mit weiteren abstrakten Grundthemen bereithielt. Die waren nicht nur für die meisten Spieler unüberschaubar und schlecht zu merken, sondern auch ein Krampf für die Autoren.
“[…]—an unfortunate circumstance that has resulted in creatures such as ooze mephits.
The planes were there, so we had to invent creatures to fill them. Worse than the needless symmetry of it all, though, is the fact that many of those planes are virtually impossible to adventure in. Traversing a plane that’s supposed to be an infinite three-dimensional space completely filled with elemental fire takes a lot of magical protection and fundamentally just doesn’t sound fun. How do you reconcile that with the idea of the City of Brass, legendary home of the efreet? Why is there air in that city?”
Der 4E-Kosmos bekam daher vor allem einen Fokus auf interessante und attraktive Abenteuersettings mit Wiedererkennungswert, durchaus auch auf Kosten der als wenig hilfreich empfundenen Gesinnungs-Symmetrie, passte daher zur allgemeinen Marschrichtung, die Bedeutung von Gesinnung aufzuweichen.
Die Huhn oder Ei-Frage, ob zu erst der Kosmos oder die Charaktergesinnung angegangen wurde, wird nicht abschließend geklärt. Für mich sieht es so aus, als ob der Universum-Umbau eine Konsequenz der Design-Entscheidung für die individuelle Gesinnung erfolgte, um beides wieder mit einander abzustimmen, andererseits wird aber auch erwähnt, dass die Kosmos-Umstrickung auf Überlegungen aus einer älteren Forgotten Realms Revision basierten, die noch für D&D3 geplant war. Es kann also auch umgekehrt sein.