(war ursprünglich im X-Karten-Thread, aber ist eigentlich grundsätzlicher, daher verschoben)
Okay, das wird jetzt unter Umständen unangenehm, und ich bitte euch, meinen Tonfall nicht übel zu nehmen, aber ich kann hier gerade ganz schwer ruig bleiben
Rollenspiel ist Konsens-Spiel. Man einigt sich auf System, Welt, Spielweise und soziale Regeln, teilweise bewusst - teilweise unbewusst. Als SL führe ich mit neuen Spielern ein Gespräch unter vier Augen, um sich gegenseitig kennenzulernen und zu prüfen, ob man miteinander auskommt. In diesem Gespräch ist es meine Aufgabe, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, in dem die Spielerin versteht, dass sie jederzeit während der Spielrunden die Reißleine ziehen kann, sei es über ein "Stopp" oder sich zurückzuziehen und die Bitte um ein kurzes 4-Augen-Gespräch... es gibt da verschiedene Möglichkeiten die sich im Rahmen eines gesellschaftlichen Zusammenlebens etabliert haben und die für verschiedene Menschen unterschiedlich gut oder schlecht funktionieren.
Ich anerkenne, dass man psychische Vorbelastungen haben kann, mit denen man zT erst am Spieltisch konfrontiert wird. Das ist dann doof - zum einen für den Betroffenen, aber ebenso für die Gruppe - den das will man eigentlich nicht.
Aber was man nicht weiß, kann man nicht vermeiden. Und damit klarzukommen, das liegt letzlich immer in Eigenverantwortung. Eine Spielgruppe muss anerkennen, dass das vorkommen kann und darf dem betroffenen Spieler daraus keinen Vorwurf machen.
Ich wage mal zu behaupten, dass das in funktionierenden Spielrunden bisher ganz gut läuft - ob mit oder ohne X-Karte.
Viele haben ja schon von negativen Erfahrungen berichtet, wo sie die X-Karte eingesetzt hätten. Allein: Das Kind war dann schon in den Brunnen gefallen. Daraus hat jeder seine Konsequenz gezogen: Der eine hat die Runde (temporär oder für immer) verlassen, die Andere sich der Situation gestellt (und sich dabei unwohl gefühlt).
Das Nutzen der Karte entbindet von der Selbstverantwortung und überträgt die Verantwortung, dass hier Schaden vorgefallen ist, auf die Gruppe, gekoppelt an die Forderung, "das" (was immer gerade getriggert hat) zu unterlassen - und schlimmer noch: Das nicht zu diskutieren.
Damit entwächst aus einem konsens-orientierten Zusammensein potentiell (! Muss nicht so sein!) eine Kopfzensur in der man immer mehr und mehr in eine Spielweise hineindriftet, in der jeder versucht, den Einsatz der X-Karte möglichst zu vermeiden und am Ende landet man nicht beim kleinsten gemeinsamen Nenner (wie das konsens-orientiertem Spiel, wo man über seine GOs und NOGOs kommuniziert) sonder weit davor, weil man ja nicht weiß, wo und warum _eventuell_ eine Grenze ist.
Rollenspiel war jahrzentelang ein "schräges" Hobby von komischen Vögeln. Diejeniegen mit viel Fantasie, die gerne mal quer und angepasst denken. Die nicht mit Gewalt (als Punk, Skin oder wasweißich) rebellieren müssen und sich den gesellschaftlichen Normen fügen. Die aber in ihrem Schutzraum des gemeinsamen, eskapistischen Hobbies sich ausleben wollen und können, in Rollen schlüpfen, die für Leute außerhalb "gar nicht gehen" (Diebe? Psychisch Kranke? Werwolf-Nazis? ... You name it).
Die sich mit unangenehmen Realitäten auseinandersetzen und im Spiel nachvollziehen, wie sich ein Mensch in einem autokratischen System zurechtfindet. Was das aus einem machen kann.
Und jetzt? Jetzt kommen aus dieser seltsamen, amerikanischen Unkultur der Befindlichkeits-Zensur so ein Werkzeug wie die X-Karte und erinnert uns daran, dass man mit all diesen DIngen ja Menschen vor den Kopf stoßen könnte.
JA! JA VERDAMMT! Das kann passieren. Im Rollenspiel. In der Disko. Im Café. In der Bahn. Ständig reden Leute über Dinge und handeln auf Arten und Weisen, die irgendwen vor den Kopf stoßen könnten. Aber das kann ich Ihnen nicht verbieten. Wenn das in mir was auslöst, dann muss ich daran arbeiten, eine Lösung für mich finden. Das muss jeder.
Manchmal (Oft) ist das schwer, aber es ist die einzige Chance zu wachsen und zu Erkenntnissen und Weiterentwicklung zu gelangen. Man kann sich nicht vor allem schützen, was VIELLEICHT passieren kann.
Ich beobachte diese Strömung (ich weiß nicht, ob es dafür einen Namen gibt) schon länger und sie ist mir zutiefst zuwieder. Das Ganze nimmt in den USA schon extreme Ausmaße an (ich empfehle zBps
diese Artikel aus der Zeit als Einstieg).
Das Schlimme daran: Die zugrunde liegenden Probleme werden dadurch nicht gelöst, man schließt nur die Augen davor und unterbindet jegliche Diskussion.
Ach Sorry, ich komm ja schon zurück aus der Speakers Corner
Ich lehne die X-Karte nicht ab, wohl aber den philosophischen Unterbau dahinter. Wenn in einer bestehenden Runde jemand eine X-Karte einfodert und die Gruppe einverstanden wäre... so what, das wäre mir prinzipiell egal. Wenn ich in die neue Gruppe komme und die das auch nutzt, wäre das für mich auch kein Problem.
Aber selbst einfüren: Never. Dafür halte ich der Errungenschaften der Aufklärung als zu wichtig, als dass ich mir diesen gedanklichen Klotz selbst ans Bein binde.
Ein Con, die das einfodert... hmm. Ich fahre nicht viel auf Cons, daher ist das für mich eh akademisch. Aber vermutlich würde ich ernsthaft in Erwägung ziehen, diese zu meiden - was insbesonder für das Grosse eine echt schwere Entscheidung wäre. Ich hoffe nur, die bleibt mir erspart...