Ich mache hier jetzt mal meinen ordentlichen Lesethread draus.
Die Facts:
Shadows over Sol von Thorin Tabor
240 Seiten, A5 (bzw. etwas höher)
Formales:
Ich habe die über Studio2 zu beziehende Offset-Ausgabe. Die Druckaqualität ist gut, Layout zweckmäßig, haut einen aber nicht vom Hocker; Illustrationen tendenziell gut, wirken aber zusammengestückelt, der Settingbezug ist (insbesondere bei den Illustrationen zu den Subcultures) manchmal nicht erkennbar, bzw. gibt es wenig, was den Eindruck macht, explizit das Setting zu illustrieren.
Den Schreibstil finde ich persönlich angenehm, es gibt allerdings relativ viele Typo-Fehler, die ein Rechtschreibprogramm übersieht ("do" statt "no" und so was).
Aufbau:
90 Seiten Setting (Einführung, Geschichte, Technologie, Lebensweise im 23. Jhdt, Subkulturen, Megacorps, Verschwörungen und Projekte, Rundgang durchs Sonnensystem) - bis dahin alles komplett Crunch-frei.
103 Seiten Regeln, einschl. Ausrüstung
8 Seiten SL-Tipps
8 Seiten NSC-"Bestiary"
8 Seiten Einführungsabenteuer
Diverse Anhänge
Mein Eindruck:
Bisher habe ich gut die Hälfte des Settingteils gelesen, und eines ist mir schon mal klar: Verkauft wird hier auf jeden Fall das Setting als Spiel, d.h. weder Regeln noch eine Core Story stehen im Vordergrund, sondern die Beschreibung eines frühen 23. Jahrhunderts, in dem die Menschheit das Sonnensystem teilweise besiedelt hat, Nationalstaaten als Ordnungsmächte weitgehend von den Megacorps abgelöst wurden und die Menschheit sich in zahlreiche Subkulturen aufgespalten hat, bei denen die Zugehörigkeit oft in der Familie weitergegeben wird und die allgemein gehaltenen Ideen (Rückbesinnung auf die Vergangenheit, Konfliktbereitschaft, Eingedenk des Todes das Leben genießen, Selbstperfektionierung mit technischen Mitteln) anhängen.
Angenehm fällt mir auf, dass auf den ersten Blick eher abgedroschene Themen auf knappen Raum trotzdem vielschichtig behandelt werden. Die Aushöhlung der Nationalstaaten und der Aufstieg der Megacorps bringen zwar jede Menge Dreck mit, aber SoS verfällt trotzdem nicht in eine platte Post-Cyberpunk "Es geht alles nur noch um Profit"-Dystopie. Die Gesellschaft bleibt eine komplexe Angelegenheit von kulturellen Regeln und Macht- und Interessengruppen.
Überhaupt ist SoS, so weit ich das bisher erkennen kann, gar nicht so "düster", wie ich das von einem SF-Horror-Rollenspiel, dessen erste Überschrift "Dark Future" lautet, erwartet hätte. Die Menschheit hat es trotz zwei weiterer Weltkriege im 22 Jahrhundert ins All geschafft und ein halbwegs funktionierendes Gesellschaftssystem. Der Horror-Aspekt kommt bisher nur sehr am Rande ins Spiel und scheint auch nicht in einer geschlossenen Horrormythologie zu bestehen, sondern eher aus Andeutungen zu dunklen Machenschaften einzelnen Konzerne im Bereich genmanipulierte Supersoldaten, KI oder Biotech-Experimente auf entbehrlichen abgelegenen Minenbergbaustationen zu bestehen. So, wie ich das bisher lese, kann man SoS sicher auch gut einfach als ausgewogenes Hard-SF-Setting mit pessimistischen, aber auch einigen optimistischen Elementen lesen.
Wissenschaftlich wirkt das meiste, was ich bisher gelesen habe, durchdacht und plausibel, ohne, dass dabei groß ins Detail gegangen wird - in Sachen Raumschiff- und Stationsdesign, Reisezeiten usw. bezieht man sich allerdings soweit ich das beurteilen kann durchaus auf den heutigen Stand der Wissenschaft.
Insgesamt bleiben die Pinselstriche bisher recht grob, ich weiß noch nicht so recht, ob mir das zum tatsächlichen Spiel in dem Setting reichen würde - gerade, weil SoS da so durchdacht wäre, ist es wahrscheinlich auch nicht so leicht, die Lücken selbst plausibel zu füllen. Trotzdem packt mich das Setting, vor allem, weil es eine so glaubwürdige Future History liefert. Nur in der Technologieentwicklung wundern mich ein paar Entscheidungen des Autors: So wird Augmented Reality auf einem Niveau, auf dem sie jetzt schon fast technisch machbar ist, als große Neuerung der zweiten Hälfte des 22. Jahrhunderts beschrieben - eine Zeit, in der es schon Kolonien und Stationen auf dem Mars und den Jupitermonden und in der Venus-Atmosphäre sowie Bergbau im Asteroidengürtel und einen Sonnensystemweiten Wasserhandel gibt. Das klingt doch nach einer ziemlichen Ungleichzeitigkeit der Entwicklung. Das trübt ein bisschen den Eindruck durchdachter Hard-SF.
Je nachdem, wie lange ich noch weiterlese, dann demnächst vielleicht noch mehr zur Beschreibung des Sonnensystems und zum Regelteil.