Erst mal meine Lieblingsnebenschauplätze:
Die realweltliche Balance ist im Rollenspiel sowas von egal, da man den Kampf niemals wirklich realistisch abbilden kann.
Wieso sollte man das nicht können?
Was man nicht kann, ist jedes noch so winzige Detail in epischer Breite spielmechanisch behandeln. Und was man auch nicht sinnvoll kann, ist einen Kampf mit möglichst genauem und kleinteiligem Input deterministisch zu berechnen.
Genau dafür gibt es aber spielmechanische "Trichter", in die ich diesen ganzen Kleinkram reinschmeißen und damit schnell und einfach abdecken kann - ganz grundlegend z.B. die Stellen, wo gewürfelt wird
Natürlich muss man diesen Anspruch erst gar nicht haben, aber wenn man ihn hat, lässt sich da schon was machen.
Niemand, auch nicht die Programmierer von Computerspielen, setzt sich hin und misst die Aufschlagenergie einer Kugel im Winkel von 43,7 Grad und berechnet daraus die Einwirkung auf eine Kugelsichere Weste.
Lese ich da die Haltung heraus, dass Realismus zwingend mit gigantischem Aufwand und irrsinnigem Detailreichtum verbunden ist?
Das ist nämlich keineswegs so. Der Realismus-Anspruch hat zunächst mal überhaupt nichts mit dem Detailgrad zu tun.
Grundsätzlich sind seltene Dinge selten, große Einflüsse groß und kleine Einflüsse klein. Wenn ich das schon mal grundsätzlich in die richtigen Bahnen gelenkt habe, bin ich schon ganz weit vorne dabei (und für das konkrete Beispiel: Es ist ja nicht so, als gäbe es da nicht zigtausend Mannjahre an praktischer Erfahrung. Das kann ich bis auf die letzten paar Prozent und die abstrusesten
edge cases alles aus der Empirie ableiten und fertig - die einzige echte Arbeit besteht hier darin, die Halbwahrheiten und Scheißhausparolen rauszufiltern).
Ich verstehe beim besten Willen nicht, wie man von "man kann nicht alles perfekt bis ins allerletzte kleine Detail berechnen" zu "und deswegen darf man da selbst den allerersten Schritt nicht gehen, weil man sich sonst total lächerlich macht und das alles ist sowieso immer automatisch zum Scheitern verurteilt und völlig sinnlos" kommt.
Aber ich muss doch kein Experte sein, um in einem Rollenspiel eine bestimmte Figur überzeugend zu spielen. Schau dir einfach ein paar Actionfilme und Thriller rund ums Hacken und und gut ist. Da bekommst du genügend Ideen.
Die Frage ist immer: Überzeugend für wen?
Wen habe ich da als "Publikum" sitzen, sprich was bringt der mit und welche Erwartungshaltung hat der?
Wenn ich als Experte tatsächlich überzeugt werden soll (warum eigentlich?), dann reichen die üblichen Actionfilme & Co. eben ganz entschieden
nicht.
Aber natürlich kann sich auch ein Experte in eine Bier & Brezel-Runde setzen, sein Fachwissen mal in der Schublade lassen und einfach seinen Spaß haben.
Also wie gesagt: Wer will hier was vom Spiel? Das ist meistens viel mehr eine Genrefrage als eine nach "echten" Inhalten und ihrer Anwendung.
Aktuelles Beispiel vom T-Treffen:
Da habe ich bei einer Runde zugeschaut, in der der SL öfter mal bei Sachen, mit denen ich mich auskenne, rübergeschielt hat, ob ich vielleicht protestiere.
Mir würde ganz besonders als Zuschauer (!) im Leben nicht einfallen, hier mit "Das geht aber gar nicht und ihr müsst das ganz anders machen" anzufangen. Höchstens gebe ich andersrum konstruktiven Input, wenn es an so einer Stelle mal hakt.
Aber offensichtlich gab es da ein Problembewusstsein dafür, dass Fachwissen Erwartungshaltungen prägen kann - den Hut hat aber der Fachmann mindestens genau so sehr auf wie Regelwerk und SL. Um der "Wahrheit" willen braucht man da nicht diskutieren, obwohl das viele Nerds sehr gern tun. Da sind viel spielbezogenere Überlegungen i.d.R. deutlich wichtiger.
Jetzt aber zum eigentlichen Knackpunkt:
D.h. erstmal geht mir eine gewisse Spieltiefe verloren, die sich dann diejenigen, und nur diejenigen zurückerobern können, die sich am weitesten in das Feld rein-generdet haben.
Jein.
Man kann es machen wie z.B. Fate und alles mögliche mit der selben Spielmechanik abbilden - dann diskutiert man schon mal nicht mehr über ggf. recht kleinteilige und obskure Inhalte, sondern darüber, wie man das wann/wo in Spielmechanik umsetzt (siehe Boba). Das ist mMn schon mal eine ganze Ecke dankbarer.
Natürlich ist man dann an den Stellen auf die reine Spielmechanik beschränkt, wo keiner Ahnung hat. Oder man lebt damit, dass man da ggf. grad ganz schönen Unsinn erzählt - aber es gibt eben niemand, dem das auffällt oder den es stört, von daher ist das ja unproblematisch.
Aber: Sobald da
einer Ahnung hat, ist die zentrale Frage: wie gehe ich damit um?
Wenn man schon mal nicht zuallererst drüber nachdenkt, warum irgendwas garantiert
nicht geht, ist man schon auf dem richtigen Weg.
Da sollte der Experte dann eher damit rausrücken, welche Umstände gegeben sein müssten, damit es funktioniert - oder welche gangbare Alternative mit vergleichbarem narrativem Ergebnis es gäbe.
Den SL mit irgendwelchen Grundsatzbedenken vollsabbeln* oder sich per Fachwissen über die anderen Spieler stellen ist halt schon ziemlich schlechter Stil, wenn man genauso sagen kann, warum es funktioniert - und das nicht nur für sich selbst, sondern auch für die anderen.
*In Freeform-Runden geht es mir persönlich oft genug zu weit in die andere Richtung: "Das ist alles ganz einfach" im Zusammenhang mit Thermit, Sprengstoff u.Ä. ist da ein Klassiker. Herstellen vielleicht, aber das ist nicht deckungsgleich mit zielführender Anwendung. In der Hinsicht fehlt dann meistens die Perspektive, wie weit man mit (eigenem) theoretischem Wissen wirklich kommt.
Und zuletzt sollten bei solchen freieren Ansätzen alle zumindest so viel Spaß an der jeweiligen Materie haben, dass sie sich halbwegs reinfuchsen und dann für Spielzwecke mitreden können.
Das ist meistens immer noch viel weniger Aufwand, als sich ein Regelwerk draufzuschaffen, das mir diese Art der Einarbeitung abnimmt, indem es schon alles in feste Spielmechanik gegossen hat.