Was mir bei meiner -- vielleicht etwas erratischen, aber sehr bereichernden -- Lektüre immer wieder auffällt im Vergleich zu anderen großen Fantasy-Settings, die ich so kenne, das ist eine gewisse Schamlosigkeit bei Glorantha. Bei etlichen der "gewachsenen" Settings aus der Rollenspielpionierzeit wurde später öfter mal geretcont, überschrieben, geändert oder verschwiegen. Aventurien ist das wohl prominenteste Beispiel für so etwas. Werden dort Dinge aus dem ersten Dutzend Abenteuern ins aktuelle Aventurien übernommen, merkt man der Sache oft ein gewisses Bemühen an, Dinge werden stark erklärt, umgedeutet oder gar abgeändert, damit sie auch für die reifen, anspruchsvollen Settingliebhaber von heute erträglich sind.
Bei Glorantha dagegen habe ich den Eindruck, dass es sich keiner seiner vielleicht manchmal etwas jugendlich-leichtsinniger Ideen schämt. Sicher kann man heute in den super ausgetüftelten Heldenkrieg in Drachenpass einsteigen und Weltgeschichte schreiben, aber -- zumindest wirkt es auf mich so -- die Kasernenruine im Großen Schutt mit ihren Monstern und Balastors Axt als Hauptgewinn ist deshalb noch lange nicht passé.
Was ich daran insbesondere auch reizvoll finde, ist der spirituelle Aspekt, den auch Abenteuer ganz selbstverständlich haben können. Natürlich die Idee der Hero Quest, die ich großartig finde, aber auch ganz banal so Dinge wie in dem Einführungsabenteuer "The Broken Tower" im Quickstarter zum aktuellen RQ:G:
Die Gruppe verfolgt ein paar Viehdiebe und stößt auf die Szene eines Kampfes, offenbar gab es Streit unter Ihnen und die Sieger haben die Leichen der Besiegten hier einfach liegen gelassen. Was ist der erste Gedanke? Ganz klar: Den Seelen der Toten den Übergang ins Jenseits zu ermöglichen!
Das ist so ein Punkt, wo, finde ich, die mythische Qualität des Settings deutlich wird. Wenn man bei Aventurien von "mythisch" spricht, dann meint man geheimnisvoll, traum- und nebelhaft. Das ist in Glorantha viel weniger gegeben, weil hier eben bereits zahlreiche Alltagshandlungen in irgendeiner Weise göttlich/magisch sind. Das Spannungsfeld profan-magisch gibt es in Glorantha nicht in dem Maße. Aventurien gibt sich selbst das Label des phantastischen Realismus, und hier bedeutet es, dass alles, auch das Phantastische, Magische auf Plausibilität etc. abgeklopft wird, Magie und Phantasie werden "realistisch" gezähmt. Für Glorantha fände ich den Begriff magischer Realismus auch in gewisser Weise passend, allerdings vollkommen anders ausgelegt: In Glorantha ist nämlich nichts real, wenn es nicht magisch ist. Magie erschafft die Realität von Glorantha. Gut, das könnte man aufgrund irgendwelche Schöpfungsmythen bei anderen Settings auch pauschal sagen, aber anderswo zieht sich dieses Konzept nicht so durch jedes Detail der Spielwelt und ist nicht so dauerhaft spürbar.
Die Ruinen der Gebäude im Großen Schutt, die aus der Zeit des Gotthelden Pavis stammen, sind aus den Überresten einer riesigen Steinstatue errichtet. Diese Statue brachte Pavis aus dem Reich der Trolle mit, und mit ihrer Hilfe konnte er die zuvor an dem Ort befindliche Stadt einnehmen und auf ihren Ruinen seine eigene bauen. Das ist, als wären die Griechen auf dem Trojanischen Pferd in die Schlacht geritten ... Immer wieder diese starken Ideen und Bilder.