Dass es überhaupt einen Namen für diesen erzählerischen Verkehrsunfall gibt, ist schon erstaunlich genug. Noch viel erstaunlicher ist es, dass es tatsächlich Leute zu gegeben scheint, die es für eine Kunstform oder wenigstens gutes erzählerisches Handwerk halten: Die Protagonisten und das Publikum gleichermaßen auf eine falsche Fährte zu locken.
Klar, wenn es um politische Intrigen, Spionage und Mord geht, sind Geheimnisse, Enthüllungen, doppelte Böden und undurchschaubare Figuren das Salz in der Suppe. Aber der Red Herring macht es genau falsch, er ist genauso sinnlos wie trivial: Er zeichnet sich dadurch aus, dass Protagonist und Publikum gar keine Anhaltspunkte hatten, anhand derer sie hätten erkennen können, dass die Dinge nicht so waren, wie sie schienen, oder wie die Dinge wirklich waren. Und dann, TADAA, wird stolz die Auflösung präsentiert. Und das Publikum in der Vorstellung des Autors so: „WOW, da wäre ich ja NIE drauf gekommen, WAHNSINN!“ Und ich in der Realität so: „F*** dich!“
Dem Publikum eine Geschichte aufzutischen, die nicht stimmt, ist keine (Handwerks-)Kunst. Es ist einfach nur dumm. Kunst ist es, wenn das Publikum im Moment der Enthüllung all die kleinen Hinweise zusammenfügt und sagt, oh, JETZT verstehe ich, JETZT ergibt alles einen Sinn. Wenn der Protagonist durch eigenes Zutun auf die Lösung kommt, und den Bösewicht am Ende austrickst. NICHT wenn durch einen unwahrscheinlichen Zufall oder einen abwegigen Fehler des Bösewichtes die Sache ans Licht kommt, auf die sonst nie im Leben jemand gekommen wäre, und dadurch das gesamte vorherige Geschehen komplett irrelevant wird, weil es mit des Rätsels Lösung nicht das Geringste zu tun hatte. Daran ist nichts genial, das erfordert KEINERLEI erzählerisches Können, es ist der dramaturgische Bankrott.
Irgendwie scheint eine bestimmte Gattung englischer Detektivgeschichten diese Unsitte aber dermaßen etabliert zu haben, dass sie sich einen festen Platz im erzählerischen Repertoire ergaunert hat, und rechtschaffene Leser und Zuschauer immer wieder heimsucht und zur Weißglut treibt. Und das gilt natürlich erst recht im Rollenspiel. Es gibt NICHTS, wirklich überhaupt nichts befriedigendes daran, als Spieler zu erfahren, dass man den ganzen Spielabend einer falschen Fährte gefolgt ist, die man zu keinem Zeitpunkt als solche hätte erkennen können, und deren Verfolgung nichts, absolut gar nichts zur Lösung des Abenteuers beigetragen hat. Es ist die reinste Zeitverschwendung, und es ist wirklich überhaupt keine Kunst dabei, niemand braucht sich darauf etwas einzubilden, es ist, das sollte eigentlich offensichtlich sein, für einen SL oder Abenteuerautor vollkommen und absolut abspruchslos, einen Red Herring zu legen.
Kill the Red Herring!