Natürlich ist es das.
Genau wie den Spielern regelmäßig (lies: fast immer) alternative Wege offen zu lassen, um die Stärken ihrer Figuren nutzen zu können. Das wirkt für mich sehr früh unplausibel, ähnlich wie die Haltung "Wenn die SCs meistens keine tödliche Gewalt anwenden, macht es die Welt genau so - und umgekehrt". Oft wird mir das zu weit getrieben und wirkt dann nicht mehr stimmig.
Das soll nicht heißen, dass ich das alles rundheraus ablehne oder vollständig zu vermeiden suche (sonst bricht das Spiel schnell zusammen), aber man sollte sich schon bewusst sein, dass das teils ziemlich radikale Balancingmaßnahmen sind, obwohl sie sich nirgends in greifbaren Zahlen niederschlagen.
Damit wird aus einem "unfairen" Gesamtsystem (also Setting und Regelwerk) schnell etwas, das zwar auf den ersten Blick unfair wirkt, es aber letztlich nicht ist (und ehrlich betrachtet auch nicht radikal unfair sein kann, ohne das Spiel zu kippen).
So gesehen wird dann in jedem Regelsystem, das auf Charakterentwicklung und -progress setzt, stets ein Balancing durch den SL durchgeführt, wodurch dieser Punkt als Kritik an Degenesis im Speziellen nichtig wird.
Es sind natürlich zwei Unterschiede zwischen:
1. Als SL baue ich eine Kampagne darum auf, dass meine Einstiegscharaktere einen Drachen konfrontieren müssen. Dass sie keine Chance haben, ist mir erstmal egal, weil ich halt Bock hab sie fertig zu machen.
und
2. In der Welt gibt es Drachen, wenn die Spieler so naiv sind bzw. soviel Hybris besitzen, die direkt am Anfang der Kampagne aufzusuchen und zu bekämpfen, dann wird es eine lustige, wenn auch kurze Runde.
Das ist ein Punkt, der vollkommen unabhängig vom System ist, sich aber natürlich durch die Spielwelt und die Präferenzen des SL und der Gruppe bemerkbar machen kann. Degenesis sagt nie: "Überall laufen Leute rum, die den Boden mit euch aufwischen werden." sondern "Überlegt euch vorher, wen ihr versucht aufzumischen, sonst findet ihr euch schnell auf der falschen Seite des Grabhügels wieder."
Nochmal, natürlich darf jeder spielen wie er will, aber wenn man eben mit der Einstellung eines Dungeon Crawlers an Degenesis rangeht, wird man wenig Freude haben - was ich nicht dem Regelwerk ankreiden kann, da es dafür auch nicht und nie konzipiert wurde. Das würde ich eher unter Anwenderfehler verzeichnen.
Vielmehr muss man sich da fragen, ob die SCs durch das Regelwerk systematisch benachteiligt werden - weil z.B. viele Probleme für NSCs strukturell nicht oder nicht in gleicher Weise zum Tragen kommen (wie etwa elend lange Heilungszeiten und große Wundabzüge). Die eigentlichen Regeln sind da wohlgemerkt symmetrisch, aber ihre Auswirkungen sind es ziemlich zwingend nicht. Da wäre zu klären, worin hier der spielerische Mehrwert besteht oder ob das nicht einfach eine schlechte Designentscheidung ist, deren Anpassung das Spielerlebnis wesentlich voranbringt, obwohl man damit den gefühlten atmosphärischen Pluspunkt des "dreckigen" Systems entwertet.
Das finde ich viel legitimer zu diskutieren, da es hier tatsächlich um das konkrete Regelwerk von Degenesis geht. Ich selbst bin hier auch immer etwas zwiegespalten. Einerseits finde ich es sehr stimmig und überzeugend, wenn die Charaktere nach dem letzten epischen Gefecht eben wirklich ihre Wunden lecken müssen, sich Zeit nehmen, Gefahren zu meiden und durch diese lange Zeit die sie das mit sich schleppen müssen, auch immer wieder konkret daran erinnert werden, das eben ins RP miteinzubringen.
In zu vielen anderen Systemen ist es halt nunmal so, dass das letzte Gefecht vergessen ist, sobald der letzte Feind umfällt - Gravitas kommt hier nicht wirklich auf.
Andererseits sorgt das aber natürlich für ein langsameres Vorankommen, man kann nicht sofort wieder lospreschen und die Story oder die Ziele der Charaktere voranbringen, was gerade in Runden, die sich selten treffen (wie meiner
) auch sehr nervig sein kann, da man oft geneigt ist, diese Heilperioden außerhalb der Spielzeit zu lösen ("X Wochen sind seitdem vergangen. Weiter geht's").
Trotzdem, für mich persönlich überwiegen hier eher die Vorteile, weil ich eben das Narrative sehr mag und auch die Szene in der nächsten Kneipe gern ausspiele, in der mein Charakter seine Narben zeigen und große Reden hält, welche Kontrahenten er platt gemacht hat - auch wenn er am Ende des Abends mehr für das Bier zahlen muss, da er die Verhandlungswürfe aufgrund seiner Mali verpatzt
.
@Kampfpudding:
Jetzt verstehe ich dein Beispiel besser, aber wie du selbst sagst, seit ihr alle Einsteiger im System, da ist die Einschätzung von Gefahren und eben des Balancing meines Erachtens nicht ganz leicht zu überblicken.
Hm, das Problem, dass andere Kulte in den Spezialisierungen des eigenen Kultes besser sind als man selbst, ist bei uns so auch noch nicht aufgekommen.
Was du aber etwas unterschlägst, ist eben genau das, was Caranthir erwähnt: die Kulte werden nicht nur durch ihre Potentiale definiert, sondern auch durch die Ausrüstung und Strukturen.
Operationsbesteck ist etwas, auf das nur Spitalier (offiziell) Zugriff haben, klar kann man sich eine Kugel von einem Schrotter herausoperieren lassen, wird aber eben auch mit den Konsequenzen leben müssen (so ein Wundbrand kann sehr hässlich werden). Das Beispiel das du selbst mit den Richtern angebracht hast, gibt es so sogar tatsächlich im Regelwerk (Rang 4 Vollstrecker).
Man kann sicher darüber diskutieren, ob das weit genug ausgeführt wurde, oder ob man das noch stärker betonen will. Da finde ich aber gerade das "weiche" Regelsystem sehr passend, da jede Gruppe mit Leichtigkeit einen Weg finden sollte, sich die Spielwelt so zu formen (aber trotzdem Regelkonform zu bleiben), wie es ihr beliebt (z.B.: Inmitten des Protektorats unterdrücken die Spitalier jegliche Heilversuche anderer Kulte und Klans und verteufeln sie als Quacksalber und Pfuscher. Wenn man als Schrotter anfängt, medizinische Dienste anzubieten, selbst wenn es nur Wundverbände sein sollten, die man anbringt, macht man sich zu einem Ziel für sie. Ganz anders in einer Enklave in Franka, hier unterrichtet ein einsamer Spitalier eine Gruppe von Sipplingen in der routinemäßigen Versorgung von Kranken und bringt ihnen bei, mit simplen Verwundungen und Arzneien umzugehen.
In der erstgenannten Region wäre es für die Spieler anderer Kulte dementsprechend schwer bis unmöglich, medizinische Fertigkeiten zu verwenden, in der zweiten wäre es für alle eher offen.
Das sind beides Dinge, die nicht explizit im Regelwerk genannt wurden, aber durch das Setting klar erklärbar sind - was nicht bedeutet, dass ein gegenteiliges Beispiel nicht auch plausibel machbar wäre.)
Das funktioniert für Hellvetiker und andere Kulte genauso gut und bietet der Gruppe mehr Möglichkeiten, ihren Lieblingsstil auszuspielen (wenn es auch, sicherlich, ein wenig Eigeninitiative bedarf, was gerade als Einsteiger in die Welt nicht immer einfach ist)