Ich habe meine Gedanken mal hier gepostet: https://www.cyberpunk2020.de/2020/12/30/im-jahr-2020/
"Es war kein Gewinn, 92 Fertigkeiten zu haben (und zur Neuerfindung weiterer Fertigkeiten einzuladen), niemand braucht die Trennung von Verfolgen und Abschütteln eines Verfolgers in zwei Fertigkeiten, und genaue Regeln für jedes Pistolenkaliber und jeden Munitonstyp mit unterschiedlicher Wirksamkeit gegen die drei unterschiedlich modellierten Panzerungstypen führen nicht zu spektakulären, sondern zu zähen und langsamen Kämpfen."
Genau das hat Mike ja auch geändert - er macht aber eben "nur" das alte Konzept etwas stromlinienförmiger. Es ist immer noch das gleiche Spiel. Vielleicht sogar etwas zu sehr für eine "wirklich" neue Edition (Zarkov hat es in Sachen Spielmechanik vor Kurzem scherzhaft, aber zutreffend als CP2023 bezeichnet); aber dass man sich nach dem kolossalen Flop von CP V3.0 wieder auf die alten Stärken besinnt und eben nicht ins gleiche Horn stößt wie die Unzahl an Indie-Cyberpunkspielen, ist mMn wenig verwunderlich.
Ohnehin sage ich: Es gibt viel zu wenige gelungene "klassische" Spiele im Cyberpunk-Setting, da ist CP Red ein seltener und willkommener Lichtblick. Noch mehr Genre-Simulation "genau auf den Punkt" brauche ich nicht - dann lieber mal wieder mehr Spielwiese und Beinfreiheit bei der Frage, was ich denn damit genau wie spielen will.
Da gehört dann z.B. auch "Protect & Serve" hin: Wer keine Polizeikampagne spielen will, für den ist das (natürlich) nichts. Wie viele andere Zusatzbücher ist das ein weiteres Angebot, eine andere Perspektive und kein weiterer Baustein in einem komplett konsistenten und in sich geschlossenen einzelnen Setting-/Weltbild. Da macht es auch nichts, dass sich einzelne davon mehr oder weniger gegenseitig ausschließen.
Deine zynischen Schlussfolgerungen über die Rollen und ihre politischen Bezüge habe ich damals schon gezogen; daher ist es zwar um so bemerkenswerter, dass ich bei fast allen deinen Punkten im Hinblick auf die reale Welt widersprechen würde, aber da kommen wir wohl einfach nicht zusammen (oder bräuchten dafür zumindest einen anderen Rahmen als dieses Forum).
Trotzdem zum Setting: Dass man das Setting vom Stand von CP2020 aus weiterentwickelt hat, statt eine notdürftig "aktualisierte" Zukunftsvision von heute bis 2045 zu spannen, tut dem Spiel mMn enorm gut.
Wer Realweltbezüge sucht, findet sie immer noch in rauhen Mengen, aber man kann die Schwerpunkte auch leicht anderswo setzen. Dieses Breite, Vielfältige, leicht Verzettelte ist ja gerade der Vorteil "klassischer" Rollenspiele in Abgrenzung zu den i.d.R. extrem spezialisierten Indies.
Edit: Ha, einen hab ich noch, nämlich in Sachen Spielmechanik.
Das alte System hatte durch die Vielzahl an Modifikatoren einen wesentlich größeren Einfluss von Können, Taktik, Vorbereitung etc. pp. in Relation zum Zufallselement. Das war also grundsätzlich schon für die Darstellung von "Profis" geeignet, wenn man als kleine Modifikation z.B. entweder
die Sondereffekte von 1 und 10 weg ließ,
den W10 an der Stelle durch 2W6 ersetzte und die Zufallseffekte auf 2 und 12 schob,
oder das Lokations- und Wundsystem modifizierte (denn das einzige echte Problem an der Gesamtkonstellation war die sehr große relative Häufigkeit von Kopftreffern durch irgendwelche Stümper).
CP Red hat sich für letzteres entschieden und es funktioniert damit genau so einwandfrei wie es damals für CP2020 funktioniert hat - auch wenn der Wegfall der allermeisten situativen Modifikatoren den Taktikanteil begrenzt. Das wird durch die Etablierung von HP als einer zentralen Kampfressource (also ganz anders als in CP2020) ausgeglichen.