Ausgehend von DerTods Anregung im Thread zum
UK Games Expo-Vorall mache ich hier mal ein neues Thema auf, das sich explizit mit Sicherheitstechniken wie der X-Card beschäftigen soll. Mein Wissen in diesem Bereich ist eher spärlich ausgeprägt und, wie sich in der zuvor genannten Diskussion herausstellte, war selbst mein Verständnis der X-Card fehlerhaft, daher würde ich zunächst mal begrüßen, wenn jemand mit Ahnung vielleicht mal was zu den verschiedenen Alternativen, die derzeit verwendet oder diskutiert werden, sagen könnte.
Edit:
Auf
Seite 12 habe ich versucht, die Ergebnisse der Diskussion einmal zusammenzufassen. Der Einfachheit halber der Text auch hier auf Seite 1:
AllgemeinesAls Sicherheitstechniken werden Strategien und Werkzeuge bezeichnet, die im Rollenspiel einerseits dazu dienen sollen, dass Gruppenmitglieder mit Erfahrungen konfrontiert werden, die ihre persönlichen Grenzen überschreiten, bzw. im Falle des Auftretens entsprechender Situationen im Spiel zeitnah geeignet zu reagieren, andererseits das Spiel in eine Richtung zu steuern, die von allen Beteiligten als angenehm empfunden wird. Der englische Begriff "Support Tools" ist hier insofern etwas passender als er nicht rein auf den Sicherheitsaspekt fokussiert. Der Begriff Gruppenmitglieder schließt in diesem Kontext Spieler und Spielleiter (jedweden Geschlechts) ein.
Ein prominentes Beispiel für ein Support Tool ist
die X-Card. Weitere Techniken werden in der
Support Tools Compiliaton beschrieben. Beispiele sind hier etwa
die CATS-Technik (Concept-Aim-Tone-Subject Matter, auf deutsch vielleicht: Konzept-Ziel-Stimmung-Themen/Inhalte),
Lines and Veils (Grenzen und Ausblendungen) oder
Script Change (welche Bausteine wie Pause, Weiter, Rückspulen, Vorspulen, etc. enthält). Eine deutsche Übersetzung der genannten Techniken gibt es
auf der Seite von Tina Trillitzsch.
Weitere Techniken, für die derzeit keine deutsche Beschreibung vorliegt sind die
O-Card - ein Gegenstück zur X-Card, das signalisiert, das das Gruppenmitglied sich eine Intensivierung der Themen der aktuellen Szene wünscht - und
die Ampel (Stoplight System), die über die O-Card insofern hinausgeht, als sie die üblichen Ampelfarben auf den Wunsch nach Veränderung der Intensität der Szene abbildet (grün = kann intensiviert werden, gelb = Intensität gerade richtig, rot = zu intensiv, sollte zurückgefahren werden). Die Ampel wird ausführlicher auch in der Edition V5 des Vampire Regelwerkes beschrieben:
The Stoplight System
This was pioneered by the group Games to Gather. The Storyteller lays out three different colored circles on the table: red, yellow, and green. Each color indicates a response to different levels of intensity. Green means “yes, I am okay with and encourage the scene getting more intense.” Yellow means “the scene is fine at the intensity level it is now, and I would like it to stay here if possible.” Red means “the scene is too intense for me in a bad way and I need it to decrease or I need to tap out.” Players can tap the colored circles as appropriate to indicate to the Storyteller what they want or need at that moment.
The Storyteller can also use the stoplight system to ask the players if they’d like intensity increased or decreased as necessary without breaking the narrative flow. To do so, the Storyteller can repeatedly tap a color — green for “more intense,” yellow for “keep it here,” and red for “do you need me to stop?” The players can then touch a color in response. Players can also respond by saying the color in question out loud.
AnmerkungenBei der Lektüre der auf den oben genannten Seiten beschriebenen Techniken scheint, meinem Empfinden nach, oft ein Modell verteilter Autorenschaft aus wie es sich häufig in Erzählspielen und erzählerischen Rollenspielen (u.a. aus dem Forge-Umfeld) wiederfindet. Zwar wird letztlich auch beim klassischen Rollenspiel gemeinsam eine Geschichte erzählt, aber hier entstehen potentiell Konflikte, weil Sicherheitstechniken mit der etablierten Rollenverteilung in Konflikt stehen können.
Weiterhin scheint die Grundannahme durch, dass Rollenspiel auch schwierige Inhalte verhandeln soll (also beispielsweise Sexualität, intensive emotionale Beziehungen, verschiedene Formen von Gewalt und Horror) - der typische Fantasy-Dungeon Crawl ist hier sicher weniger betroffen als ein System, das explizit Horrorelemente beinhaltet
Die genannten Techniken zielen zwar nicht nur auf das Spiel mit Unbekannten, in der langjährigen Privatrunde sind aber sicher einige Dinge auch über eingespielte Konventionen zu regeln und bedürfen weniger expliziter Regelung als das Spiel auf einer Convention oder mit neuen Gruppenmitgliedern. Vorsicht ist aber insofern geboten als nicht ausgesprochene Konventionen auch nur Scheinüberstimmungen sein können (gerade vor dem Hintergrund einer stärker diversifizierten Spielerschaft).
Im Hinblick auf Sicherheitstechniken und Heimrunden ist zudem anzumerken, dass sich hier vielfach die Praxis einer Sitzung 0 etabliert hat, in der Erwartungen an der Spiel abgeglichen sowie ggf. Rahmenbedingungen für die Spielwelt oder die gespielten Charaktere festgelegt werden. Es findet also eine Konsensbildung (oder, im schlechteren Falle, die Offenlegung von Dissens) statt, ohne dass notwendigerweise bewusst auf Sicherheitstechniken zurückgegriffen wird.
Die X-CardDabei handelt es sich um eine Karte mit einem X, die von einem Gruppenmitglied verwendet werden kann, um (bspw. durch Antippen oder Hochhalten) zu signalisieren, dass ihn das Geschehen in der Fiktion belastet und er um Entfernung bzw. Ersetzung desselben bittet (es sei hier kurz noch einmal festgehalten, dass die X-Card sowohl von Spielern als auch von Spielleitern verwendet werden kann). Die Beschreibung der X-Card betont dabei, dass seitens des Auslösers der X-Card keine Erklärungsnotwendigkeit besteht - bei wohlwollender Lesart der Erläuterungen zur X-Card ergibt sich hier, dass eine Klarstellung der Inhalts als ggf. notwendig akzeptiert wird, der Auslöser aber darüber hinaus explizit nicht verpflichtet ist, Auskunft über die Gründe seiner Ablehnung oder die Herkunft derselben zu geben.
Aus der Beschreibung lässt sich ebenfalls ableiten, dass der Autor von einem häufigen, niederschwelligen Einsatz der X-Card ausgeht. Es erfolgt u.a. der Hinweis, dass eine häufige Nutzung intendiert sei, um einerseits sicherzustellen, dass die X-Card im Zweifelsfall auch zum Einsatz kommt, andererseits das Spiel generell in eine Richtung gelenkt wird, die unangenehme, aber nicht zwingend traumatische Situationen vermeidet.
AnmerkungenDie vergleichsweise hohe Prominenz der X-Card innerhalb der Support Tools verleitet zur Annahme, dass sie als alleinstehendes Werkzeug eingesetzt werden sollte. Dies ist laut den Autoren nicht der Fall - stattdessen solle die X-Card als Ergänzung zur vorherigen Absprachen betrachtet werden.
Die Dokumentation der X-Card postuliert, dass durch den Einsatz der X-Card das Spielerlebnis für alle Gruppenmitglieder verbessert werde. Eventuelle Immersionsbrüche oder Konflikte werden eher spärlich diskutiert.
Ebenfalls nicht dokumentiert werden bei der Liste der unerwünschten Inhalte solche, die als weniger opportun gelten dürften (bspw: ein Spieler wünscht sich keine Konfrontation mit Homosexualität).
Die Diskussion hierDie Diskussion hier beschäftigte sich vor allem mit der X-Card und ihrem Einsatz.
Kontroverse Punkte waren:
Das uneingeschränkte Autorenrecht bzw. Vetorecht durch die X-CardDie X-Card ermöglicht Spieler wie Spielleiter ein uneingeschränktes Veto in den Erzählprozess eines anderen Gruppenteilnehmers.
Von Befürwortern der X-Card wurde an dieser Stelle betont, dass dies unerlässlich ist, um einem Betroffenen zu ersparen, sich für sein eigenes Unwohlsein bzw. die Berührung eines Traumas rechtfertigen zu müssen.
Kritiker der X-Card lehnen ein solch unbeschränktes Autorenrecht entweder vollständig ab, oder stellen in Frage, ob die Kollateralschäden durch die Nutzung der X-Card nicht zu hoch seien.
Speziell genannt wurden:
- Das durch die X-Card etablierte "Super-Erzählrecht" überschreibt insbesondere auch die Hoheit des Spielleiters über die Erzählung und die Hoheit eines Spielers über seinen Charakter - es kann also zu Konflikten mit der etablierten Rollenverteilung im klassischen Rollenspiel kommen.
- Wenn bestimmte Elemente aus einer Erzählung entfernt werden, trifft diese möglicherweise nicht mehr den gleichen Ton - dies könnte zu einem weniger immersiven Spiel führen
- Es besteht die Befürchtung, dass Spieler durch den Hebel der X-Card dafür sorgen, dass sich das Spiel auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner einpendelt (wenn drei Spieler sich gern vor Spinnen gruseln wollen, der vierte aber unter Arachnophobie leidet)
Es wurde zudem festgestellt, dass die X-Card wenig Unterstützung bei der Frage bietet, wie der Spielfluss wieder in Gang gebracht werden soll, nachdem er durch die X-Card unterbrochen wird.
Die X-Card und ProblemspielerAnknüpfend an den vorigen Punkt wurde die Befürchtung geäußert, dass allein das Vorhandensein eines solchen Hebels (d.h. des unbeschränkten Vetorechts) zur Beeinflussung der Erzählung dieser auch verstärkt genutzt wird, und dass insbesondere "Problemspieler" durch die X-Card das Spiel stärker torpedieren können.
Von Befürwortern der X-Card, insbesondere jenen, welche die X-Card auch bereits praktisch eingesetzt haben, wurde allerdings angeführt, dass sich eine Torpedierung oder übermäßige Ausnutzung der X-Card in der Praxis nicht beobachten lässt. Zudem weisen sowohl die Autoren der X-Card als auch einige Diskussionsteilnehmer darauf hin, dass die X-Card nicht als Mittel zur Lösungen sämtlicher zwischenmenschlicher Probleme im Rollenspiel konzipiert ist. Der Umgang mit Problemspielern bleibt also jenseits der X-Card weiter Aufgabe der Gruppe.
Die Angemessenheit der X-Card im Vergleich zur Stopp-/Pause-KarteEbenfalls im Zusammenhang mit dem Autorenrecht durch die X-Card kam die Frage auf, welchen Mehrwert diese gegenüber anderen Techniken, wie der Stopp-/Pause-Karte mit anschließender Diskussion bietet.
Von Befürwortern der X-Card wurde hier angebracht, dass ein zentraler Punkt der X-Card gerade ist, dass Gruppenmitglieder nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen. Kritiker wenden hier ein, dass Rollenspiel als kommunikatives Spiel ohnehin auf Austausch angewiesen wäre, und diese Situationen keine Ausnahme darstelle.
Die Nutzung der X-Card und anderer Techniken nicht nur zur Vermeidung tatsächlich traumatischer, sondern bereits "nur unangenehmer" ThemenDie hybride Natur der X-Card sorgte insbesondere bzgl. der Frage, wann sie zum Einsatz kommen soll, für kontroverse Diskussionen. Auch hier konnte letztlich keine Einigkeit erzielt werden. Generell bejaht wurde ein Einsatz von Sicherheitstechniken, allerdings nicht zwingend der X-Card, zur Vermeidung oder Behandlung traumatischer Situationen. Während einige Teilnehmer einen Einsatz von Support Tools zur Vermeidung "nur unangenehmer" Themen (wie bspw. ein rauchender NSC in einem Spiel, in dem eines der Gruppenmitglieder gerade versucht, mit dem Rauchen aufzuhören) als deutlich überzogen betrachten, weisen andere darauf hin, dass der Grad des Unwohlseins von außen schwer einschätzbar ist und eine umfängliche Diskussion, ob ein Thema "hinreichend kritisch" ist gerade dem Zweck des Schutzes zuwiderläuft.
Der Mehrwehrt der X-Card nach Nutzung weiterer TechnikenSchließlich wurde auch die Frage nach dem Mehrwert der X-Card gestellt, wenn zuvor andere Techniken wie bspw. die Klärung der Erwartungen (z.B. durch CATS) oder das Feststecken von Grenzen und Ausblendungen bereits zum Einsatz kamen. Diese wurde - analog zum vorigen Punkt - wahlweise mit sehr schmaler Nützlichkeit, die insbesondere über die Nutzung der Stopp-Karte nicht signifikant hinausgeht, oder mit hinreichender Nützlichkeit zum Auffangen von zuvor nicht-besprochenen Situationen beantwortet.
X-Card - Sicherheitstechnik oder SpielgestaltungswerkzeugDer niederschwellige Einsatz, der von den Autoren der X-Card für deren Einsatz vorgesehen wird, wirft die Frage auf, ob es sich bei selbiger um eine reine Sicherheitstechnik handelt, oder ob sie hybriden Charakter besitzt und auch als Spielgestaltungswerkzeugs betrachtet werden kann. Die Beantwortung dieser Frage scheint einerseits schwerpunktmäßig davon abzuhängen, wie weit man den Sicherheitsbegriff fassen möchte, andererseits abhängig davon, welche Charakter ein Spieldesigner, der die X-Card als Technik mit einbezieht, dieser geben möchte (als Beispiel wurde das Spiel "For the Queen" angeführt, in welchem die X-Card spielgestaltenden Charakter hat).
Es lässt sich jedoch vorläufig festhalten, dass der spielgestaltende Charakter im allgemeinen bei anderen Techniken, wie bspw. der O-Card oder Ampel, stärker ausgeprägt ist.
X-Card und SpielstilUnklar ist im Moment noch ein Zusammenhang zwischen Position zur X-Card und dem eigenen Spielstil. Die Vermutung, dass die X-Card vor allem von Spielern, die ein Modell verteilter Autorenschaft bevorzugen, befürwortet werden, lässt sich durch den aktuellen Diskussionsstand nicht bestätigen. Es deutet sich lediglich an, dass im Bereich des klassischen Rollenspiels etwas mehr Vorbehalte bestehen, insbesondere wenn es um Stimmungsspiel wie Horrorszenarien geht.