Also wenn ich mich ein bisschen in die Zeit zurückversetze, dann glaube ich, dass man einfach immer detailliertere Systeme wollte, besonders im Vergleich zur Old School. "Realistisch" galt ja als vielbeworbenes Qualitätsmerkmal. Davon ist heute nur noch selten die Rede. Man wusste a priori ja auch nicht wieviel zu viel des Guten ist.
Von hinten angefangen:
Doch, eine subjektive Komplexitätsgrenze hatte man früher auch. Was schon in Ruhe nicht zu überblicken war oder auch nur am Spieltisch nicht praxistauglich umgesetzt werden konnte, war zu viel.
Da muss man kein Phoenix Command bemühen, das waren je nach Gruppe schon so banale Sachen wie Matrix- oder erweiterte Cyberware-(Schadens-)Regeln in SR oder Beschwörung und Artefaktmagie in DSA.
Dass Regeln Selbstzweck sind oder damals waren, halte ich für ziemlich wacklig. Sicher kommt es vor, dass man sich begeistert auf eine neue Erweiterung stürzt, weil man das Spiel mag und sich damit auch in Sachen Spielmechanik intensiver befassen
will - was letztlich nur mit neuem "Futter" geht.
Dennoch findet auf Dauer nur das im Spiel Verwendung, bei dem man irgendeinen darüber hinausgehenden Mehrwert wahrnimmt.
Abgesehen von der "Benutzbarkeitsgrenze" ist dein Gedanke vom Komplexitätsbudget da sehr nützlich - was bekommt man für den zusätzlichen Aufwand?
Und auch wenn heute keiner mehr das böse R-Wort nutzt, ist das doch eine der dicksten Säulen, auf denen komplexe Systeme stehen.
DSA z.B. will nach wie vor mit einem dichten Regelwerk ein Gefühl von Authentizität erzeugen und eine "echte", greifbare Welt erschaffen. Und das steckt nicht nur im Design, das ist auch sehr oft der Maßstab, den die Fans dann tatsächlich an Regeln anlegen. Da ist mMn das größte Problem, dass das eher unreflektiert passiert und so eine diffuse Vorstellung herumgeistert, dass es eine "beste" Variante gäbe und viel grundlegender eine einzige Antwort auf die Frage, was für wen warum realistisch ist/wirkt (und das ist dann auch noch gefühlt eine lineare Sache, wo mehr Regeln zu mehr Realismus führen und umgekehrt); dabei ist das Ganze immer ein Kompromiss und ganz grundsätzlich gibt es da mehrere zielführende Modelle.
Jedenfalls kann man festhalten: Dort will man das immer noch so.
Andere haben sich von dem Bestreben weitgehend bis völlig gelöst und sind genau deswegen nicht mehr komplex.
Und noch mal andere, wie z.B. SR5, haben sich von dem Bestreben gelöst, sind trotzdem immer noch komplex und können selbst gar nicht mehr sagen, warum eigentlich - das ist mit Abstand die schlechteste Variante.
Als alles neu war, war die die Toleranz für Komplexität auch viel größer. Jetzt ist das alles ein alter Hut und man fragt sich wieviel man davon auch WIRKLICH braucht.
In der breiten Masse hat sich das mMn nicht groß geändert.
Die immer dicker werdenden Brocken haben damals schon genug Spieler mit ihrem Umfang vergrault und umgekehrt gibt es heute immer noch (teils die gleichen) Systeme, die mit ihrem Komplexitätsbudget nicht gut umgehen, aber trotzdem sehr erfolgreich sind.
Auf der persönlichen Ebene bin ich heute gefühlt wesentlich anspruchsvoller, was "sinnvollen" oder "nützlichen" Crunch angeht, aber unterm Strich sind meine Systeme heute nicht mehr oder weniger komplex als früher. Es sind jedoch vor genau diesem Hintergrund
andere Systeme als früher.