Rezi von einem Freund:
Nun halte ich sie hier in den Händen, die Softcoverausgabe von SLA Industries. Das Buch ist angenehm dick und schwer, wie es sich für ein Grundregelwerk gehört, der Einband ist diskret in Schwarz gehalten, vorn ist eine hübsche Grafik von einem muskulösen Kerl in cyberpunkiger Aufmachung, der vor einer Turbine hockt und bedrohlich seine Kettenaxt im Arm pendeln lässt, während er den Betrachter mit seiner dämonischen Halloween-Kürbisfratze verstörend entgegengrinst. Der Klappentext verrät nicht viel, illustriert dafür aber sehr schön die düstere Atmosphäre des Spiels. Soweit der erste Eindruck. Im Buch finden sich dann... vor allem Illustrationen. Und die sind wirklich klasse, selbst die Schlechtesten sind noch Durchschnitt und werden dankenswerterweise auch noch irgendwo in ein paar Textecken gedrängt, während große, herrlich düster-stimmungsvolle Bilder auch gebührend Platz eingeräumt bekommen. Alles in allem ist das Werk optisch sehr überzeugend und war eigentlich mein Hauptkaufgrund.
Keine Schlechte Tat, denn neben der Aufmachung ist SLA Industries auch ein tolles Rollenspiel. Die Welt von SLA Industries - nicht die Welt, in der SLA Industries SPIELT, sondern die Welt, die SLA Industries GEHÖRT - ist im Prinzip eine klassische Cyberpunkwelt, wie sie hinlänglich bekannt sein dürften: Alles ist mies, alles ist kommerziell, die Zivilisation hat ihren Zenith überschritten und die Menschheit leidet am Fortschritt, anstatt davon zu profitieren. Das Spiel selbst ist eigentlich erst einmal auf dem Industrieplaneten Mort angelegt, wo SLA's Hauptquartier liegt, die "World of Progress" ist aber eigentlich interstellar und umfasst das ganze Universum, soweit SLA es bisher erforschen konnte. So. Eigentlich kann ich weder Science Fiction, noch Cyberpunk im Rollenspiel wirklich leiden. Coole Schusswaffenaction wird meistens durch die Regelwerke ziemlich ausgebremst. Und die Hintergründe sind meistens schlecht, aus irgendeinem Grund scheint amerikanische Science Fiction davon auszugehen, dass ich unbedingt ein Kunterbunt von Alienrassen und exotischen Planeten haben will und dann kriege ich so einen Schund wie die Star Trek Classic-Serie und das einzige Cyberpunkspiel, das im Moment Bedeutung hat ist Shadowrun und eine düstere Zukunft stelle ich mir einfach weniger tolkienesk vor. Was macht SLA da besser?
Tja, irgendwie kommt bei dem Spiel der Verfall und das Düstere besser herüber, während wahrscheinlich die Meisten ohne zu zögern in die coole Shadowrunwelt oder ins Star Trek-Universum ziehen würden, auf Mort würde ich nicht ums Verrecken auch nur Urlaub machen. SLA Industries löschte fast alle Rassen in der erforschten Welt aus und begann, Mr Slayers "Big Picture" umzusetzen. Das Ergebnis ist die "World of Progress", in der ein Großteil aller Planeten SLA gehört, ein Großteil der Leute für SLA arbeitet und praktisch alles von SLA hergestellt wird. Seit 900 Jahren bestimmt SLA das Leben der Leute und Mort ist eine perfekte Miniatur des ganzen Systems. Der Planet wurde, wie fast alle SLA-Welten durch industrielle Ausbeutung komplett zerstört, das Ergebnis sind giftige Chemiesümpfe,wo einst die Ozeane lagen, eine kaputte Atmosphäre, die einen bedrückenden nie endenden Regen zur Folge hat und ein Moloch von einer Stadt, die jeden Quadratmeter des Festlandes bedeckt. Uptown, die bessere Wohngegend, wo auch alle wichtigen SLA-Einrichtungen zu finden sind liegt direkt unter dem grauen, verregneten Himmel von Mort, durch schwerste Sicherheitsbarrikaden vom Rest abgegrenzt und geschützt durch die "Shivers", die Polizeitruppen von SLA. darunter, in den Labyrinthen, Betonkathedralen und Wolkenkratzern, die von Uptown einfach überbaut wurden liegt Downtown. Die Shivers halten die Ordnung nur grob aufrecht, Banden und die Terroristen von DarkNight Industries können recht ungehindert agieren. Einige der Bewohner sind SLA-Angestellte, die tagtäglich zu ihrer Arbeitsstelle in Uptown pilgern, billige Arbeitskräfte, die, wie zur Zeit der Industriellen Revolution hier auf Erden völlig ersetzbar sind und wegen ihres besseren Einkommens leicht in Gefahr kommen können, der Großteil der Menschen ist arbeitslos und lebt von einer finanziellen Unterstützung durch SLA, die gerade zum Leben reicht - Leben, das bedeutet für die meisten Menschen Fernsehen, Third Eye News prägen das Weltbild der meisten Leute und auf SIC kann sich jeder mit genau den brutalen Gewaltakten unterhalten, die sich gerade vor seiner Haustür abspielen.
Was will ich als spielen in dieser unwirtlichen Welt? Die Antwort ist: Helden! Die Spieler übernehmen die Rolle von SLA Operatives, Spezialisten, die Aufträge für SLA ausführen, sei es die Wiederbeschaffung von SLA-Eigentum, das Auffinden eines DarkNight-Spions oder etwas Simples wie das Ausradieren eines marodierenden Mutandenrudels in den Cannibal Sectors unter den Kanälen... Der Job bringt Prestige, bessere Bezahlung und ein aufregendes Leben. Doch wer wirklich erfolgreich als Operative sein will, braucht die Hilfe der Medien. Ok, es ist vielleicht saublöd, ein Third Eye Kamerateam mit auf meine Undercovermission zu nehmen, aber wenn ich es überlebe kann ich mit einem ziemlichen Fandom rechnen und mit Sponsoren, die mich als Werbeträger wollen. Jedes Kind träumt davon, später einmal zu den heldenhaften Operatives zu gehören, den Scouts, Detektiven oder Contract Killers, um SLA vor dem Bösen zu beschützen.
Die Spieler können normale Menschen spielen oder Frothers, Menschen, die sich regelmäßig mit Kampfdrogen vollpumpen und sich somit in unkontrollierbare Berserker verwandeln, was allerdings ihre Lebenserwartung extrem senkt, weiterhin gibt es Stormers, genetisch erschaffene Kampfbestien, die vielleicht etwas naiv-stupide (und tendeziell gutmütig!) sind, aber dafür fast jeden Gegner besiegen, Alienrassen sind Shaktar, ein ehrenhaftes Kriegervolk und die Wraith Raiders, eine kurzlebige Katzenmenschenrasse, die aufgrund ihrer Flinkheit und Jagdinstikte die perfekten Scouts und Attentäter sind. Zu guterletzt gibt es noch die Ebons, eine elfenähnliche Psi-Rasse und die Brain Wasters, sozusagen ihre bösen Gegenstücke. Zusätzlich zur Rasse sucht sich dann noch jeder Spieler ein Training in dem Aufgabenbereich aus, den er später übernehmen will.
Das Verhältnis von Schuss- und Nahkampfwaffen ist recht ausgeglichen, von jedem gibt es ein ein paar Grundtypen, die im Prinzip schon den Bereich des Möglichen abdecken. Nahkampfwaffen sind bei SLA nicht zu unterschätzen, es gibt aufgepowerte Waffen wie Kettenäxte (wie Kettensäge, nur als Axt) oder Vibroschwerter, gerade Shaktar und Stormer sind fast nur im Nahkampf effektiv (ein Frother auf "Ultra Violence" kann sowieso nicht gerade schießen), Wraith Raiders hingegen betätigen sich am liebsten als Heckenschützen. Was aber Automatikwaffen angeht... es GIBT sie, aber die Verwendund ist schwer eingeschränkt. Zuerst einmal ist Rückstoß ein großes Problem bei SLA, weswegen in einem normalen Gefecht MPs und Sturmgewehre nicht riesig vorteilhaft sind: Gut gezielt trifft der erste Schuss, der Rest landet sonstwo. Auch so ein Problem: Das Spiel findet in urbanem Umfeld statt, Querschläger treffen immer irgendwas, im günstigsten Fall SLA-Eigentum, wenn man wirklich Pech hat, einen minderjährigen Fan mit SLA-Fähnchen - vor laufender Kamera. Überhaupt sind aber Feuergefechte recht unpopulär, Joe Normal will auf SIC sehen wie Captain Contract die Horden menschenfressender Killerschweine mit seiner DPB Flick Scythe zerstückelt, nicht, wie er sie auf Distanz mit seiner Minigun umholzt. Um den Anforderungen des Publikums gerecht zu werden, hat SLA daher für jegliche Munition eine recht hohe "Ammo Tax" ausgesetzt - oder anders gesagt: Mit ein paar Magazinen habe ich leicht mein Monatsgehalt durch den Lauf geblasen... Wenn ich jetzt die Shadowrunner schon aufheulen höre: Es ist SLA, wer keine Rüstung hat und von irgenwas getroffen wird, ist sowieso meistens tot und die Beschränkung von Vollautomatik gestaltet zumindest die Kämpfe übersichtlicher. Und eine Kettenaxt IST cool...
"Cyberware" gibt es eigentlich nicht, neben den Waffen sind noch Rüstungen und Fahrzeuge, sowie Ebon-Artefakte und Kleinkram zu bekommen. Ferner wir jedem Operative freigestellt, sich einen Finance Chip einsetzen zu lassen, der ständig Daten wie Name, Uhrzeit, Kontostand etc. ins Sichtfeld einblendet und auf Anfrage weitere Informationen (Stadtplan etc.) bieten kann. Aber das Allerbeste ist, dass die Überwachungszentrale von SLA garantiert mindestens 80% des Tages über mich wacht, hört, was ich höre, sieht, was ich sehe, die können mir Hilfe schicken und mich mit Informationen versorgen, außerdem kommen meine tollen Heldentaten live im Fernsehen. Na gut, etwas weniger Privatsphäre, aber ich habe ja nichts zu verbergen und SLA zahlt mir ziemlich viel Extragehalt... Computer spielen ansonsten auch kaum eine Rolle, mit SLA-Angelegenheiten haben die Operatives eigentlich nichts zu tun und mutierte Ungeheuer oder Banden von Straßenpunks neigen normalerweise nicht zum Besitz von schwer geschützen, interessanten Datenbanken...
Zum System, das ist ziemlich einfach: Jeder Char hat Attribute und Skills, jeder Skill ist einem Attribut zugeordnet, der Skillwert kann den Attributwert nicht übersteigen. Hat ein Wurf einen niedrigeren Modifikator (Schwierigkeit der Aktion) als der Skillwert, gelingt er nach Spielleiterentscheid automatisch, ansonsten würfelt man 2W10, addiert den Skill, subtrahiert den Modifikator, ist das Ergebnis 11 oder höher ist der Wurf gelungen, sonst nicht. Ein Ergebnis von zwanzig oder allgemein zwei Zehnen auf den Würfeln sind ein kritischer Erfolg. Wenn ein benötigter Skill nicht zur Verfügung steht, würfelt man auf das Attribut mit einem entsprechenden Modifikator. Das Attribut "Flux" bestimmt die magische Macht von Ebons und Brain Wasters, das Attribut "Cool" die Nervenstärke, wer in fordernden Situationen (Arrgh, that THING needed just seconds to rip half my squad and weapons show no effect, I'm gonna die...) einen Angstwurf versaut, ist meist übel handlungsunfähig und darf mit Geisteskrankheiten rechnen (ein schönes Beispiel aus dem Buch: Der Char sieht sich allein in den Kanälen einem fleischfressenden Schwein gegenüber, nix hilft gegen das Monster, Angstwurf versaut, der Char wird in nächster Zeit ein wenig zum Stottern neigen. In letzter Verzweiflung wirft er sich mit seinem Messer auf die Bestie mit den heroischen Worten: "D-die, m-m-motherf-f..." *grin*).
Der Kampf läuft in Runden ab, jede Runde ist in fünf Phasen unterteilt. Vor dem Kampf legt jeder Fest, ob er liegt, steht, geht oder rennt, das bringt an sich weder Vor- noch Nachteile, wer sich bewegt, wird nicht so schnell getroffen, kämpft aber auch selbst ungenauer. Je nachdem, welche Initiative man hat, handelt man in einer oder mehreren Phasen, der SL zählt die Phasen runter und jeder, der in der Phase handeln darf, sagt seine Aktion für die Phase an, die in der Reihenfolge der Initiative abgewickelt werden. Sind alle Phasen durch, wird Schaden berechnet und eventuelle andere Modifikatoren (Behinderungen, Zauber etc.) angebracht, dann beginnt die nächste Runde. Angriffe werden mit einem normalen Skillwurf ausgeführt, wer im Nahkampf parieren will, muss seinen Skill aufteilen. Treffer werden ansonsten nur durch Rüstung aufgehalten, jede Rüstung hat einen Durchdringungswert, überschreitet die Waffe den, richtet sie Schaden abzüglich des Rüstungsschutzes an, ferner nimmt auch die Rüstung selbst mit der Zeit Schaden. Es gibt sechst Trefferzonen (Rumpf/Glieder/Kopf), jeder Treffer richtet Schadenspunkte und eine Wunde an, jede unversorgte Wunde richtet weiteren Schaden an, ist ein Gliedmaß "tot", kommt es zu schwerem Schaden am Körper, Gegenmaßnahmen sind medizinische Drogen und Ebon-Heilkräfte.
Soweit ein kurzer Überblick, die "World of Progress" ist noch ein gutes Stück komplizierter, was aber im Spiel kaum Eingang finden dürfte. Trotzdem liest sich das Buch sehr unterhaltsam, zum Einen, weil der Hintergrund recht gut ausgearbeitet und faszinierend ist, zum anderen, weil das britische Produkt wirklich in extrem gutem Englisch geschrieben ist, ein merklicher Unterschied zu amerikanischen Texten. Textwüsten werden immer wieder durch graue Boxen aufgelockert, in denen Intime-Texte stehen, Missionsberichte, Hintergrund oder einfach das Gelaber eines Passanten und diese Texte verstehen es vortrefflich, das Buch an den richtigen Stellen humorvoll zu kommentieren. Überhaupt: SLA Industries ist finster, hart, gemein und eigentlich so ein Rollenspiel "ab 18", aber andererseits konnten sich die Autoren einen gewissen schwarz-ironischen umor nicht verkneifen, der das Spiel ungemein bereichert. Zum Beispiel finde ich "Rust Alley" einen wunderschönen Seitenhieb, dort sitzen all die armen Schweine, die sich vor einigen Jahren, als es gerade Mode war, kybernetische Körperteile und -erweiterungen haben implantieren lassen. Sowas ist natürlich längst out, und da keine Energiezellen mehr für Cyberware produziert werden, betteln heute diese gescheiterten Existenden, die sich auf ihren nun nutzlosen, rostenden Körperteilen umherschleppen Passanten um Kleingeld an...
SLA ist eine geniale Mischung aus Alien, Shadowrun und Paranoia (das Spiel, wer's noch kennt) und das ganze auf britisch. Support the Queen, buy SLA Industries!