Also möchtest du im Grunde das, was für viele andere ja auch gilt: Du suchst eigentlich nach einer Bestätigung für eine Entscheidung, die du innerlich schon längst getroffen hast. Und wenn du dir die richtigen Beiträge unter den Antworten raussuchst, wirst du die sicherlich auch bekommen. Der Psychologe nennt das übrigens "Rationalisieren", und es ist genau das Gegenteil einer rationalen Entscheidung.
Ich habe jetzt ein bisschen drüber nachgedacht und mich entschieden, an dieser Stelle mal ungewohnt deutlich aus meiner Deckung kommen. Also ausnahmsweise mal kein "du bist okay, ich bin okay, jeder macht einfach, was er will, und alle sind glücklich". Das werden mir sicherlich gleich mehrere "Reading Challenge"-Teilnehmer verübeln, aber ausnahmsweise ist mir der Punkt zu wichtig, um es bei Relativismus zu belassen. Vielleicht denkt ja der eine oder andere ernsthaft darüber nach und sucht nicht einfach nur nach Gründen, warum der bequeme Weg bestimmt doch genauso gut ist. Also:
Ich bin beruflich in der Ausbildung junger Erwachsener tätig, und da erleben wir seit Jahren den Trend, dass selbst Abiturienten kaum in der Lage sind, längere zusammenhängende Texte zu lesen, geschweige denn zu verstehen. Eine ganze Generation ist so einseitig mit Kurznachrichten oder möglichst gleich Voice- und Videobotschaften aufgewachsen, dass sie bis auf erschreckend wenige Ausnahmen nicht mehr in der Lage ist, längere oder gar anspruchsvolle Texte zu lesen und zu verstehen. Das gleiche gilt übrigens nach meiner Beobachtung auch für die älteren unter uns: Viele der Ü40er, die als junge Leute noch 400 Seiten an einem Wochenende verschlungen haben, vegetieren geistig mittlerweile auch nur noch vor Netflix und Youtube vor sich hin. Wir sind halt abends zu müde zum Lesen... Sorry, aber da machen wir uns was vor. Wir sind nur aus der Übung und gehen daher den bequemen Weg.
Ist das ein Problem? Ja, weil Lesen sowohl Konzentration als auch Denk- und Vorstellungsvermögen schult, weil man dadurch den Wortschatz erweitert und sogar die Schreibfähigkeiten verbessert und weil es etwas Meditativ-Entspannendes hat. Die meisten dieser Effekte werden von anderen Medien weniger oder sogar gar nicht erzielt, und daher sind viele dieser Fähigkeiten in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Und genau da kommen eigentlich die Reading Challenges ins Spiel.
Das Konzept ist ja schon überraschend alt und wurde ursprünglich in Schulen eingeführt, um - tadah - Kinder wieder stärker zum Lesen zu motivieren. Dort wird es übrigens auch heute noch verwendet, und natürlich kommt man da nicht durch damit, am Ende des Schuljahrs lauter Hörbücher oder Graphic Novels als Reading Challenge zu melden. Wer das tut, macht sich und anderen etwas vor: Natürlich habt ihr euch mit etwas beschäftigt, was eine ISBN hat, aber ihr habt nicht gelesen. Ihr habt genau das, was eine Reading Challenge trainieren soll, nicht trainiert, sondern nur (ganz im Geist der Zeit) beeindruckende Zahlen generiert.
Natürlich gibt es auch bei einer "Reading Challenge" mit echten Büchern einen Unterschied, ob man 50 Rosamunde-Pilcher-Romane oder die 50 größten Werke der abendländischen Philosophie im Original gelesen hat. Aber eines hat man zumindest getan: Man hat wirklich gelesen und die oben genannten Fähigkeiten zumindest ein Stückweit verbessert (oder zumindest am Leben gehalten).
So. Jetzt kann natürlich trotzdem jeder sagen: Ich mache das aber anders. Ich lasse mir meine Bücher lieber vorlesen. Oder ich lese in erster Linie Graphic Novels. Ist ja immer noch besser als Katzenvideos gucken. Das ist natürlich richtig. Aber das eigentliche Ziel, warum man eine Reading Challenge machen sollte, hat man damit nicht erreicht. Außerdem setzt man ein falsches Signal: Man entwertet die Reading Challenge deutlich sichtbar für alle, indem man so tut, als sei das, was man da feiert, wirklich durch Lesen von Büchern zustande gekommen. Die nächste Generation, die nach Ausreden sucht, wird es dankbar zur Kenntnis nehmen.
Ich bin daher für eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Ziele einer Reading Challenge: Es geht nicht darum, das, was man ohnehin tut oder ohne großen Aufwand tun kann, mit einem beeindruckenden Counter zu versehen und am Jahresende abzufeiern. Es geht darum, sich die Zeit zu nehmen und wirklich zu lesen. Nicht mehr und nicht weniger.