Ich denke es gibt genausoviele Spiele in denen ich das "wahre Böse" spielen kann, wie es Spiele gibt, in denen ich das "reine Gute" spielen kann. Sind halt beides fade und realitätsferne Konzepte. Sobald ich eine Geschichte dazu habe, warum ich Schurke oder Held geworden bin, bewege ich mich eigentlich zwangsläufig immer in Grauzonen. Kein Mensch ist rein gut oder rein böse und Moral ist, nicht gerade wenigen Philosophen zur Folge, eben nicht universell sondern immer situationsabhängig. Jeder hat doch einen eigenen moralischen Kompass, der bestimmte Handlungen rechtfertigt (for the greater good). Und wie hier schon geschrieben wurde, Geschichte schreibt der Sieger. Niemand lässt sich als Böse darstellen. Auch Stalin und Hitler haben sich sicherlich für die good guys ihrer eigenen Geschichte gehalten.
Die allermeisten Rollenspiele geben mir doch lediglich einen Regelmechanismus an die Hand, in dessen Grenzen ich mich moralisch frei bewegen kann. Der SL legt doch letztendlich fest, ob die SC eher schurkische oder heldenhafte Missionen bekommen. Und selbst dann kann ich mich als Spieler immer noch entscheiden, dass ich die Belohnung des Königs dafür, dass ich ihm Beweise bringe, dass sein weggelaufener Sohn gestorben ist einstreiche, statt ihn lebend nach Hause zu bringen, weil mein Charakter halt der Meinung ist, dass er kein Babysitter für den verwöhnten Prinzen sein möchte. Mich persönlich würde ein System, dass mir diktiert immer gut oder immer böse zu sein überhaupt nicht reizen. Und wenn man mal in die klassischen Rollenspiele schaut, kann man für gewöhnlich auch immer Optionen finden, einen per Definition bösen Charakter zu spielen, die roten Magier von Thay in D&D, Schwarzmagier in DSA, Kopfgeldjäger in SR, etc. Diese Charaktere haben halt nur oft auch eine differenziertere Persönlichkeit als ich bin böse weil ich böse bin. Ehrlich gesagt würde ich selbst bei NSC-Schurken, deren einzige Lebensphilosophie es ist "It's good to be bad" den Spieltisch verlassen. Das ist langweilig und aus meiner Sicht geradezu kindisch. Sogar Comicschurken sind heute oft vielschichtiger, man betrachte nur den Joker als Beispiel... Und sogar das schwarz-weiße Star Wars Universum gibt vielen seiner Schurken interessante Hintergrundgeschichten.
Als letzten Punkt auf diese Frage würde ich noch dazu sagen wollen, dass eine Gruppe von Schurken sehr selten dasselbe Ziel verfolgt, eine Gruppe Helden schon eher. Das ist auch die klassische Aufteilung des Fantasygenres: Eine Gruppe Helden muss einen Schurken aufhalten. Schurken werden sich immer irgendwann in den Rücken fallen. Wir haben mal eine böse Runde in D&D gespielt, es unterschied sich von unseren gewöhnlichen Heldenrunden in erster Linie darin, dass niemand ein Moralapostel war und keiner mit dem anderen zusammen arbeiten wollte. Unser Antrieb war, dass wir alle für einen noch böseren Schurken gearbeitet haben, der uns problemlos ausgeschaltet hätte, hätten wir nicht kooperiert (und ich halte das für plausibel, da Furcht meistens der Motivator der Minions ist). In einer guten DSA Runde habe ich mal einen Praioten gespielt, der definitiv das moralische Gewissen der Gruppe war und sie davon abhielt Murderhobos zu sein, trotzdem hat dieser SC ohne mit der Wimper zu zucken den gefangenen Borbaradianer den Folterknechten der Inquisition übergeben. Mit dem richtigen SL ist in jedem Setting alles bespielbar, ich halte ein direktes Schurkensystem für überflüssig.