Der markierte Teil des Satzes ist deutlich differenzierter zu betrachten, denke ich.
Bei nobody@home ist es schon angeklungen, ich möchte das gerne erweitern: Nur weil man etwas cinematisch handhabt, ist es nicht unbedingt weniger immersiv. Das hängt nämlich von der ureigenen Verdrahtung des eigenen Empfindens in Bezug auf fiktive Geschichten ab.
Letztlich enthalten selbst thematisch aufgebaute Spielwelten und Systeme (Handgewedel, Rule of Cool und Gummipunkte-Gewerfe) den "Touch der Wirklichkeit", der gestaltet sich nur anders aus. Es ist eine Binsenweisheit, dass alles, was wir im Rollenspiel beschreiben oder erzählen irgendwo auf unserem Weltwissen basiert. Wir würden im Spiel niemals etwas tun oder passieren lassen, was wir selbst als unrealistisch empfinden. Wenn doch, dann als bewusste Brechung. Im Rahmen der Beschreibung einer Spielwelt ginge das dann ins Surreale.
Auch die Komplexität von Problemen erschöpft sich nicht über die Menge an Setzungen in "phantastischeren" Settings. Auch wenn meine Charaktere 10 Meter hoch springen und problemlos große Lasten tragen können, werden ihre Probleme dadurch nicht weniger komplex. Meiner Erfahrung nach kommt ein großer Teil der Komplexität eines Abenteuers auch eher aus dem Bereich der Interaktion oder der Konsequenzen: Wenn ich das tue, welchen
emotionalen oder
sozialen Impact hat es auf die Situation. Ob ich jetzt genug Munition habe oder nicht, ist an sich selbst ja keine komplexe Frage.
Da, wo widerstreitende Ziele, soziale Normen, Psyche, gesellschaftliche Kräfte und Gegenkräfte eine Rolle spielen, werden die Dinge komplex. Deshalb simuliert zum Beispiel "Der Eine Ring" als Spiel auch nur so viel, wie nötig ist, um eine Down-to-Earth-Fantasy-Atmosphäre zu erschaffen, ohne dass Spieler jeden Pfeil abstreichen müssten. Die Komplexität der Abenteuer kommt da aus der Interaktion mit der Welt, seinen Charakteren und seinen Gefahren und Schauplätzen. Und das ist jetzt nur ein Beispiel, was mir einfällt.
Du schreibst:
Rollenspiel wird meistens dann richtig gut, wenn man bei den komplexen Elementen der wahren Welt angelangt ist: Z.B. der (realen) Psychologie bei der sozialen Interaktion Streitschlichtung Ents - Schwarzer Drachen.
Und da müssen wir auch wieder fragen, ob du und deine Mitspieler oder zumindest deine SL auch Psychologen sind oder über entsprechendes Wissen verfügen. Wenn nicht, wird ja doch wieder auf Basis unseres Wissens von Fantasy- und SciFi-Geschichten sowie unseres Alltagswissens improvisiert. Und das kann man getrost in vielen Fällen in die Kategorie "unrealistisch" packen, denn es ist geprägt von dem, was wir eben nicht sicher wissen.
Interessant finde ich auch, dass sich ja viele Spiele, selbst die simulationistischen mit ihren Tragkraft- und Fallschaden- und Wundtypen-Regeln oft dann doch darum herumdrücken, denselben Detailgrad in den Mechaniken für soziale Interaktionen und psychologische Zustände anzulegen. Das ist deutlich weniger festgeschrieben als Regeln der Spielweltphysik.
Wenn wir aber bei deiner Aussage zustimmen wollen (und das tue ich: Geschichten, wo es im Kern um Psychologie und soziale Interaktion geht (vielleicht noch erweitert um die Kategorie "Emotionen und Dilemmas") halte ich auch für die komplexesten, die das Rollenspiel zu bieten hat), dann passt ja der Ruf nach detaillierten Regeln für Tragkraft nun auch nicht mehr so recht dazu. Zumindest kriege ich das schlecht zusammen.
Denn an der Stelle von sozialer Interaktion und (küchen)psychologischer Tiefe gibt es zwischen cinematischen und "realistischen" (hat jemand einen Alternativbegriff, der scheint mir nicht treffend) eigentlich in der Spielpraxis kaum einen Unterschied: Man spielt den Kram aus, macht vielleicht einen Wurf, streicht vielleicht "Sanity" oder "Willenskraft" oder sowas ab und gut ist. Das sind da zumindest meine Erfahrungswerte. Gerade auf dieser Ebene sind sich beide Spielstile doch erstaunlich ähnlich.
Und das ist auch die Argumentation der Cinematen hier am Board: Ja, ich will ja auch komplexe, glaubwürdige Geschichten... ich lasse nur den Bullshit mit den Trageregeln weg. Die helfen mir ja weder, mich besser in meine Figur einzufühlen, noch die Komplexität der Geschichte zu erhöhen.
Wie schon gesagt: Ich glaube, dass unser ganz eigener Zugang zum Setting und zum eigenen Charakter da ein viel größeres Gewicht hat. "Suspension of Disbelief" ist glaube ich keine graduelle Leiste, die in die mehr oder weniger gefüllt ist. Der eine hat nicht mehr oder weniger davon als der andere. Vielmehr nimmt jeder in Geschichten ganz bestimmte Reize auf, die die SoD triggern oder eben nicht. Und diese Trigger können komplex miteinander verbunden sein.
Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass mir jene Geschichten oder Spielwelten glaubwürdiger und realistischer vorkommen, in denen ich etwas fühle (du schreibst ja selbst auch von "einfühlen, also das Gefühl zu haben, mit dabei zu sein). Komplexe Tragkraftregeln oder realistische Physiksimulation sind für mich da hinderlich. Denn damit verbinde ich eben gar keine Gefühle. Mit dem Faktenschaffen in Handwedel-Spielen hingegen, damit verbinde ich einen kreativen Prozess, ein Ausmalen der Spielwelt, ein Wühlen in der großen, rollenspielerischen LEGO-Kiste. Das löst was aus in mir, was mich reinzieht.
Kurz: Realistisch ist von meiner SoD aus, wo ich emotional mitfühlen kann.
Ein Grund, warum sich alle über die Logikbrüche in der neusten Star-Wars-Trilogie nicht mehr einkriegen, aber für die Logikbrüche in der Uralt-Trilogie höchstens einen augenzwinkernden Scherz über Lüftungsschächte über Atomreaktoren übrig haben, ist sicher, weil die neue Trilogie gefühlstechnisch einfach nicht so wahnsinnig viel auslöst im Zuschauer. Weil sie nicht so gut erzählt ist. Nicht weil sie nicht realistisch ist.
Tatsächlich kann man fiktionale Inhalte auch mit Realismus überladen. Zu dem Punkt nämlich, wo man die Lücken eben nicht mehr im eigenen Kopf füllt, sondern die Maschen so eng werden, dass man gar nichts mehr dazudenken kann. Das passiert im Rollenspiel in der Regel nicht... oder gut, kann passieren, je nachdem, welchen Detailgrad man als Spieler bevorzugt.
Ich habe heute
ein Video über den Unterschied zwischen Hard und Soft Worldbuilding gesehen und ich habe das Gefühl die Unterscheidungen da lassen sich auf die Frage hier auch anwenden. Nicht 1 zu 1. Aber die Tendenz stimmt. Ich bevorzuge häufig fiktionale Welten die zum Soft Worldbuilding neigen (nicht unbedingt ins Extrem, aber hingeneigt eben), mich holt also der emotionale Zugang mehr ab.
Puh, viel Text, dafür, dass ich nur sagen wollte, dass du Unrecht damit hast, dass "Realismus" (ernsthaft Leute, wir brauchen einen anderen Begriff zur Abgrenzung zu "Cinematik" auf der anderen Seite) dazu führt, dass man sich besser ins Spiel einfühlt. Für mich kann ich das nur verneinen und spreche sicher auch für viele, denen das auch so geht.