Autor Thema: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus  (Gelesen 7531 mal)

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Angst macht,
dass wir zögern,
uns ein erstes Mal
dem Schlund des Schicksals
auszuliefern.

Angst macht,
dass wir eilen,
uns ein zweites Mal
dem Schlund des Schicksals
auszuliefern.

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #1 am: 27.07.2020 | 17:52 »
Ich gebe Essstäbchen aus und fülle einen Becher mit Limonade.

Reihum fischen wir mit den Stäbchen Honigbienen aus Glukosesirup aus einer Dose.

Wir tauchen die Honigbienen in die Limonade und stellen uns vor, wie sie langsam aufhören zu zappeln und ertrinken.

Wir essen die ertrunkenen Honigbienen und stellen uns vor, wie uns das Bienengift leicht berauscht.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #2 am: 27.07.2020 | 17:54 »
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Blättermagen vor der „Seide“, einem Luxusbordell im Stadtteil Rhomoon. Er durchschreitet unsicher das Eingangstor, läuft durch den Vorgarten und klopft schließlich an die Haustür. „Komm ´rein!“, fordert ihn eine Stimme auf. Der Minotaur – nennen wir ihn den ersten Advokaten – tritt zögerlich ein. Ein anderer Minotaur kommt auf ihn zu legt ihm die Hand auf die Schulter: „Unsere neue Wache! Sei gegrüßt, Bruder!“

Vor ein paar Tagen ist es dem ersten Advokaten gelungen, in der „Seide“ eine Anstellung zu finden. Er hatte in der vergangenen Saison seine Samenkörner durch eine sehr anstrengende Anstellung als Erntehelfer verdient. Nie wieder, hatte er sich geschworen. Als Bordellwache rechnet er damit, hin und wieder Stänkerer oder Kunden, die Probleme machen, hinausschmeißen zu müssen. Sicherlich wird man ihn auch für alle möglichen Handlangerdienste einsetzen. Insgesamt wird es aber wohl kaum so schlimm werden, wie auf dem Feld bei der Ernte. Die Arbeit wird möglicherweise auch abwechslungsreicher sein und bringt ihm sogar ein kleines, eigenes Zimmer. Beim Einstellungsgespräch lernte der erste Advokat zwei Personen kennen. Das Gespräch führte Ashtavede, der Bordellier. „Ein Minotaur mit Namen“, dachte der erste Advokat, musste aber neidlos anerkennen, dass es sich um ein prächtiges Exemplar seiner Gattung handelt: Ashtavede besitzt eindrucksvolle Hörner, mehrere Tätowierungen und raucht sogar im Beisein seines Chefs grüne, handgerollte, glimmende Zigarren. Dieser Chef war der andere, den der erste Advokat bei seinem Einstellungsgespräch kennenlernte: Haygaram Ooryphas, der Besitzer des Etablissements. Der Mann hielt sich im Hintergrund, sein Nicken entschied aber schließlich über die Anstellung des ersten Advokaten.

Nun wird der erste Advokat an seinem ersten Arbeitstag vom Bordellier begrüßt. Nie würde es ihm einfallen, den Minotauren als „Bruder“ zu bezeichnen. So antwortet er: „Ashtavede, ich bin erfreut, dich zu sehen!“

Ashtavede zeigt dem ersten Advokaten das Haus. Er führt ihn in den offenen Innenhof, der mit Kieswegen ausgelegt ist. Bequeme Kissenlager, seidene Paravents, ein paar Insektenfangnetze und drei kleine Teiche dominieren den angenehmen Raum. Danach lernt der erste Advokat den Empfangsbereich kennen und wirft einen Blick in die Werkstätten, Vorratsräume, den Küchenbereich und den Speisesaal. Er bekommt gezeigt, wo sich die Räume der Damen befinden, wo das Privatgebäude des Besitzers und das kleine Haus der Minotaurendiener stehen. Schließlich bekommt er ein kleines Zimmer zugewiesen, in dem er seinen Leinensack abstellt. Dann sagt Ashtavede: „Komm jetzt, Ooryphas wartet auf dich!“

Die beiden Minotauren kehren in den Innenhof zurück. In einer der Sitzgelegenheiten lümmelt sich der Eigentümer des Bordells. Er sagt zum ersten Advokaten: „In den Teichen schwimmen Nachtfische. Hole die toten heraus und wirf sie auf den Müll. Achte darauf, dass du keinen übersiehst!“ Ashtavede zieht sich etwas zurück und beobachtet vom Rand des Innenhofes die erste Arbeit seines neuen Mitarbeiters. Der erste Advokat schaut in einen der Teiche. Im zunehmenden Tageslicht ist gerade noch zu erkennen, dass die Fische schwach leuchten. „Bei Nacht ergibt das sicherlich ein eindrucksvolles Bild“, denkt der erste Advokat. Dann aber sieht er, dass ein paar der Fische nicht mehr leuchten. Der erste Advokat nimmt einen von ihnen heraus und schaut genau hin. Woran ist der Fisch gestorben? Ooryphas schaut seinem neuen Angestellten amüsiert zu und sagt: „Sie gehören eigentlich in den Fluss. Wir müssen sie regelmäßig austauschen. Jetzt fang an, an die Arbeit! Gibt Acht, dass kein toter Fisch mehr im Wasser schwimmt. Tote Fische sind widerlich. Wenn du einen übersiehst, frisst du ihn!“

Der erste Advokat müht sich redlich. Er holt sich einen der Insektenkescher, steigt sogar in die Teiche und holt alle toten Nachtfische heraus, die er fangen kann. Zwischen den leuchtenden Überlebenden sind sie allerdings ziemlich unscheinbar. Am Ende hat der erste Advokat das Gefühl, alles gegeben zu haben, ob er aber alle toten Fische erwischt hat, weiß er nicht genau.

Haygaram Ooryphas erhebt sich ächzend aus seinem Kissenlager. Er geht zu einem der Teiche, schaut kurz hinein und nimmt einen Fisch heraus. Für einen Moment scheint es dem ersten Advokaten, als habe er das Tier in seinen Händen zerquetscht. „Hier“, ruft Ooryphas, „du hast einen übersehen! Ich habe dich gewarnt! Los, runter mit ihm! Friss ihn!“ Der erste Advokat wirft Ashtavede einen erschrockenen Blick zu. Der Bordellier schaut ihn verlegen an und zuckt mit der Schulter. Da nimmt der erste Advokat den Fisch, schließt die Augen und schluckt einen Großteil des toten Fisches. Es fühlt sich an, als werde der Fisch in seinem Blättermagen zu einem schweren Stein. Ooryphas lacht und sagt: „Weiter so, Wächter. Fürs erste hältst du dich an Ashtavede!“ Noch immer gackernd verlässt Ooryphas den Innenhof.

„Warum hat er das gemacht?“, fragt der erste Advokat Ashtavede. Der antwortet: „Er ist eben so. Das sagt er sogar von sich selbst. Es macht ihm Spaß, seine Angestellten ein wenig zu schikanieren. Andere verstellen sich, ich verstelle mich nie, behauptet er von sich selbst. Vielleicht ist das wirklich ein Vorteil. Du siehst sofort, dass er ein Widerling ist. Sei aber nicht zu besorgt. Du wirst relativ selten mit ihm zu tun bekommen, denn in der Regel bin ich für dich zuständig. Geh jetzt in die Wäscherei. Da gibt es Arbeit für dich.“ Der erste Advokat nickt und geht.
« Letzte Änderung: 28.07.2020 | 10:55 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #3 am: 27.07.2020 | 17:55 »
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Labmagen im Schneckengarten seines Herrn Porfirio Empyreus und korrigiert dessen Bewässerung. Hin und wieder reibt er sich den Schlaf aus den Augen und lässt dann seinen Blick über das Anwesen schweifen. Er blickt auf den breiten Fluss und sieht am anderen Ufer das Luxusbordell „Seide“. Dann blickt er über die niedrige Mauer des Anwesens und sieht ein paar Menschen, die an dem Grundstück vorbeiziehen. Sie deuten von der Straße aus auf die Mauer und scheinen sich über irgendetwas zu unterhalten. Der Minotaur – nennen wir ihn den ersten Soldaten – fragt sich: „Was es dort zu sehen geben mag?“

Zunächst fährt er mit seiner Arbeit fort. Schnecken werden von reichen Adligen in Dégringolade gern als Rauschmittel konsumiert. Sein Herr Porfirio ist ganz verrückt nach den Tieren und auch seine Gattin Saaroni ist keine Kostverächterin. Oft haben sie Gäste, die extra zum Schneckenessen eingeladen werden. Die Jagd auf die Schnecken gehört dabei zum Ritual, das jeder Süchtige auf sich nimmt. Damit sie aber von Erfolg gekrönt ist, sind verschiedene Anstrengungen notwendig. Hier kommt der erste Soldat ins Spiel. Er hält die kleine Bewässerungsanlage, die den Schneckengarten mit dem Wasser des nahe gelegenen ewigen Flusses Vadhm versorgt, instand, bekämpft unliebsame Kakerlaken und Pilze und sorgt ganz allgemein dafür, dass genügend Tierchen zur Verfügung stehen, wenn die Hausherren das Bedürfnis nach einem neuen Rausch verspüren. Um die sieben Kinder von Porfirio und Saaroni kümmern sich in diesen Momenten nur die im Haus arbeitenden Minotauren.

Auch heute wieder bemüht sich der erste Soldat um gewissenhafte Arbeit. Hin und wieder schweift seine Konzentration aber ab, denn immer wieder erscheinen Passanten auf der Straße, die offenbar irgendetwas Bemerkenswertes auf der Mäuerchen des Grundstücks entdecken. Manche unterhalten sich darüber, andere schauen hin und tun so, als hätten sie nichts gesehen. Den ersten Soldaten packt die Neugier, er verlässt seinen Schneckengarten und wirft einen Blick auf die Mauer. Dort findet sich ein frisch angebrachtes Sgraffito. Neben einem stilisierten Minotaurenkopf stehen die Worte: „Stutzen und sanieren!“ Der erste Soldat stutzt. Stutzen und sanieren? Was soll das? Wer soll denn stutzen? Soll etwas gestutzt werden? Er hat keine Ahnung. Schließlich kehrt zu seinem Schneckengarten zurück, ist aber mit seiner Arbeit für eine Weile nicht mehr so recht bei der Sache.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #4 am: 27.07.2020 | 17:56 »
In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Labmagen im Massageraum von Porfirio Empyreus. Aus Vorräten, die er gestern besorgt hat, mischt er ein neues Vitalisierungsöl zusammen. Plötzlich kommt eine Dachwache des Hauses herein. Der Minotaur trägt einen leise jammernden fünfzehnjährigen Knaben über der Schulter und legt ihn vorsichtig auf die Liege des Massageraums. Dann ruft er dem anderen Minotauren – nennen wir ihn zweiten Soldaten – zu: „Es gibt Arbeit, schau dir Ajatashatrus´ Knöchel an.“

Ajatashatru ist der älteste Sohn des Hauses. Der zweite Soldat besorgt nicht nur bei den lokalen Apothekern, Kräuterkundigen und Gemüsehändlern Ingredienzen, aus denen er seine Öle und Duftwässerchen zusammenmischt, er massiert auch den Hausherrn und seine Frau Saaroni, und behandelt die kleineren Wunden und Verletzungen der Familienmitglieder, was ihn in einem Haus mit sieben Kindern permanent auf Trab hält.

Heute erkennt der zweite Soldat schnell, dass der Knöchel zwar verdreht ist, aber keine gravierende Gefahr damit verbunden ist. Er renkt ihn wieder ein und untersucht Porfirios ältesten Sohn sicherheitshalber noch weiter. Das Gesicht des Knaben ist bleich, als habe er in der vergangenen Nacht keinen Schlaf gefunden. Es ergibt sich ein kleines Gespräch:

„Junger Herr, habt ihr starke Schmerzen?“

„Es geht, Rind!“

„Wie ist das geschehen, wollt ihr es mir nicht erzählen?“

„Ich bin gelaufen und vom Bordstein abgerutscht.“

„Ah, ein Sportunfall also. Darf ich eurem Vater davon berichten?“

„Nein. Behalte das für dich!“

„Ganz wie ihr wünscht, junger Herr!“

Noch während dieses Gespräches entdeckt der zweite Soldat weitere Blessuren am Körper Ajatashatrus.  Auf Arm und Bein sind drei deftige blaue Flecken zu erkennen, die nach Stockschlägen oder ähnlichem aussehen. Der zweite Soldat überlegt, dann sagt er:

„Wisst ihr, junger Herr, in meiner Jugend habe ich mich hin und wieder um Höchstleistungen bemüht. Manchmal habe ich dabei meine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel gesetzt. Ich kann von Glück sagen, dass ich keine dauerhaften Schäden davongetragen habe.“

Ajatashatru schaut den zweiten Soldaten mit erwachender Neugier an. Schließlich fragt er:

„Sag´ mal, Rind, hast du dabei so ein aufregendes Gefühl verspürt? So eine Ahnung, als befändest du dich für einen Moment im Zentrum der Welt? Und hattest du Gefährten, die dich für deine Taten bewundern?“

Die Antwort erfolgt zögerlich:

„Möglich, junger Herr, das ist lange her... ist es so ein Moment gewesen, dem ihr diese Blessuren verdankt?“

Der Knabe überlegt einen Moment, nickt dann aber. Schließlich sagt er: „Mein Vater muss davon nichts wissen. Kann das unter uns bleiben?“

Der zweite Soldat nickt: „Selbstverständlich, junger Herr. Ihr solltet euch jetzt eine Weile ausruhen.“ Schnell fallen dem Knaben die Augen zu. Dann räuspert sich die Dachwache, die immer noch im Eingang des Massageraums steht und die Behandlung mit angesehen hat:

„Er hat dir nur die Hälfte erzählt. Komm mit!“ Mit der Dachwache betritt der zweite Soldat die Wachstube. Aus einem Schrank kramt die Dachwache einen fellartigen Umhang, auf den die recht geschickte Nachbildung eines Minotaurenkopfes befestigt wurde. „Ich habe ihn in diesen Umhang gehüllt aufgegriffen. Was sagst du dazu?“

Der zweite Soldat ist verunsichert, vielleicht auch etwas angewidert: „Warum zieht sich Ajatashatru so ein Ding über den Schädel?“ Die beiden Minotauren wissen es nicht. Die Dachwache sagt: „Ajatashatru sagt, ich soll es in sein Zimmer bringen. Vorher wollte ich es dir aber gezeigt haben.“ Der zweite Soldat sagt: „Danke Bruder! Das ist ja eine mysteriöse Angelegenheit...“

Grübelnd kehrt der zweite Soldat in den Massageraum zurück.
« Letzte Änderung: 6.08.2020 | 12:36 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #5 am: 27.07.2020 | 17:57 »
In der Morgendämmerung von Dégringolade sitzt ein namenloser Minotaur mit dominantem Netzmagen vor seiner Hütte am Vadhm, dem ewigen Fluss, flickt seine Netze und schaut sich um. Zu seiner Rechten befindet sich das Mäuerchen zum Anwesen von Porfirio Empyreus. Wie so oft sieht er in einiger Entfernung dessen Schneckengärtner die Bewässerungsvorrichtungen justieren. Die Blicke der beiden Minotauren treffen sich kurz, ein freundliches Nicken folgt. Alles scheint so zu sein, wie viele Morgendämmerungen zuvor. Nur das Wasser des Flusses verhält sich etwas seltsam und scheint immer wieder ein paar merkwürdige, langsame Strudelbewegungen zu vollführen. Nachdem der Minotaur – nennen wir ihn den Anführer – den gestrigen Tag mit kleineren Reparaturarbeiten an seinem Boot verbrachte und in Kürze auch die übrige Ausrüstung auf Vordermann gebracht hat, wird er in Kürze endlich wieder auf dem vor seiner Hütte liegenden schlammigen Flussabschnitt fischen können.

Dann aber tauchen Flussdelphine aus den Fluten des Vadhm auf. Schelmisch schauen sie unter ihren buschigen Augenbrauen aus dem Wasser hervor und stellen ihre prächtig geringelten Schnurrbärte zur Schau. Der Anführer schaut ihrem Spiel zu und bewundert, wie sie ihre schwarzen Hautflecken hin und her schieben und dabei immer neue Muster bilden. Woher die Flussdelphine kommen, weiß niemand so genau, sie tauchen aber öfter im Vadhm auf. Was nun geschieht darf aber als Rarität gelten. Selbst der Anführer, der fast täglich auf dem ewigen Fluss unterwegs ist, hat es bisher nur dreimal, und auch nur aus der Entfernung, miterleben dürfen. Die Flussdelphine kriechen aus dem Wasser und suhlen sich ganz in der Nähe seiner Fischerhütte im Uferschlamm. Während sie dem Anführer hin und wieder einen Blick zuwerfen und ein paar Rotbauchunken ein paar glockenartige Töne erzeugen, singen sie von ihrer alten Sehnsucht nach der Heimat. Gebannt lauscht der Anführer – und auch der vielleicht zwanzig Meter entfernt in seinem Schneckengarten arbeitende erste Soldat hält andächtig inne.

Es gibt ein´ See, weit weg von diesem Ort,
du findest Freundschaftsfisch und Guppies dort,
der See, der unsre liebe Heimat ist,
wo Städte steh´n und den kein Fisch vergisst.

Wo ich auch bin, ich denke jede Stund´,
an seiner klaren Fluten kühlen Grund.
Mein Herz ersehnt voll Ungeduld die Zeit
Zu der ich wieder dort durch´s Wasser gleit´.

Bis dahin schütze mich der Hirte groß,
vor Netz und tödlichem Harpunenstoß.
Er führe mich ohn´ Trockenheit und Weh´
Durch helle Flüsse zum Belugha See.

„Ein besonderer Morgen!“, denkt der Anführer und während die Rotbauchunken noch ein paar letzte Töne von sich geben lässt er vorsichtig zwischen den Flussdelphinen sein Boot zu Wasser und beginnt zu rudern. In der Flussmitte angelangt trifft er einige Vorbereitungen, aber heute kommt es anders als er denkt. Während er noch gedankenverloren die Gewichte des Netzes sortiert, wird er auf ein Rauschen aufmerksam. Er dreht sich um und sieht in unmittelbarer Nähe die Vadhm Fähre auf sein Ruderboot zu steuern. Sie ist wie immer gut mit Passagieren gefüllt und wird von vier namenlosen Minotauren gerudert. Am Bug steht der Lotse der Fähre, sein Blick ist unbeirrbar auf das Ziel seiner Fahrt gerichtet, die Anlegestelle auf der anderen Seite des Gutes von Porfirio Empyreus. Das Fischerboot des Anführers scheint er nicht zu bemerken. Der Anführer macht ein paar hilflose Ausweichversuche, kann aber sein Boot auf die Schnelle nicht mehr ausreichend wenden. Er ruft um Hilfe, weil er aber befürchtet, ungebührlich Aufmerksamkeit für seine Lage zu beanspruchen, gerät ihm sein Ruf nur halblaut und erweckt lediglich die Aufmerksamkeit einiger Passagiere, die nun neugierig mit ansehen, wie sich die Situation entwickelt. Schließlich erreicht die Fähre sein Boot. Der Anführer nimmt sein Ruder und versucht sich mit ihm von der Bugwand der Fähre abzustoßen. Unglücklicherweise rutscht ihm das Holz dabei ab und gleitet ihm aus den Händen. In einem hohen Bogen fliegt es durch die Luft und landet auf dem Deck der Fähre. Verzweifelt nimmt der Anführer seine Arme zur Hilfe und drückt gegen den Bug der Fähre. Unter Einsatz all seiner Kraft gelingt es ihm, sein Boot aus dem Gefahrenbereich zu bewegen. Fingerbreit gleitet die Fähre an seinem Boot vorbei. Als er sicher ist, dass er eine Kollision vermeiden konnte, lässt der Anführer schweißüberströmt von der Steuerbordwand der Fähre ab. Er blickt zum Deck der Fähre hinauf und sieht ins Gesicht des Lotsen, der sein Fischerboot inzwischen bemerkt hat und seinen Bemühungen leicht amüsiert zuschaut. Der Anführer ruft ihm zu: „Herr! Mein Ruder! Es ist auf eurem Deck! Es war mein Fehler! Bitte!“ Inzwischen hat der Anführer die Aufmerksamkeit aller Fahrgäste auf sich lenken können. Der Lotse der Fähre genießt die Szene offensichtlich und ruft ihm zu: „Wie war das? Sag´s nochmal, Rind!“ Und der Anführer wiederholt: „Mein Ruder! Es war mein Fehler! Seid so gut und werft es mir zu!“, aber während er noch spricht fühlt es sich in seinem Inneren so an, als bilde sich in seinem Netzmagen ein schwerer Stein. Unter dem Lachen der Fahrgäste wirft der Lotse der Fähre dem Anführer mit einem gönnerhaften Blick das Ruder zu. Dann gleitet das Heck der Fähre an dem Fischerboot vorbei.
« Letzte Änderung: 6.08.2020 | 12:40 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #6 am: 27.07.2020 | 17:59 »
In der Morgendämmerung von Dégringolade zieht ein namenloser Minotaur mit dominantem Pansen durch Rhomoon. Sein Ziel ist das Luxusbordell „Seide“, wo er der Dame Halifa seine Botendienste anbieten möchte. Nach einer längeren Wanderung entlang am Ufer des Vadhm erreicht er sein Ziel und klopft. Ihm öffnet der erste Advokat, ein Minotaur, den er noch nie gesehen hat. Der Neuankömmling – nennen wir ihn den Philosophen – begrüßt ihn unsicher: „Ich bin ein Bote für eine eurer Damen. Lässt du mich ein, Bruder?“ Der erste Advokat antwortet: „Sicher doch, zu wem willst du?“ In dem Moment, wo er diese Frage stellt, merkt er, dass er seinem Gesprächspartner damit unnötige Probleme bereitet, denn ein Minotaur, der die Regeln der Stille einhält, wird keine Frauennamen aussprechen. Wer Frauennamen ausspricht, kann den Anschein erwecken, zu begehren und Begehren hat Minotauren noch immer in Schwierigkeiten geraten lassen.

So druckst auch der Philosoph eine Weile herum und fragt den ersten Advokaten: „Kann ich nicht mit irgendeiner der Damen sprechen? Ich denke, sie kennen sich gegenseitig gut genug, um mich an die  richtige verweisen zu können.“ „Komm mit“, sagt der erste Advokat und führt den Philosophen in den Innenhof. Dort sitzen ein paar der Damen beim Frühstück. Der Philosoph grüßt sie und sagt: „Eine von euch hat nach einem Boten verlangt. Wisst ihr, wer das war?“ Die Dame Gulnar sagt daraufhin: „War das nicht Halifa? Sie hat so etwas erzählt. Halifa hat das Zimmer ganz hinten links.“

Der Philosoph bedankt sich und schaut den ersten Advokaten an. Dieser winkt ihm zu und führt ihn zum besagten Zimmer. Während der erste Advokat neben dem Zimmereingang Posten bezieht, klopft der Philosoph an die Wand neben dem Eingang, eine Frauenstimme ruft: „Tritt ein!“, er schiebt einen Makramee Türvorhang zur Seite und gelangt in einen kleinen, geschmackvoll ausgestatteten Raum. Es riecht würzig nach verbranntem Butterschmalz, denn Halifa sitzt an einer kleinen Feuerstelle, über der sie gerade Kajal herstellt. Der Philosoph begrüßt Halifa und fragt: „Habt ihr nach einem Boten verlangt, ehrenwerte Dame?“ Halifa schaut ihn an und nickt ernst. Hinter ein paar Kissen zieht sie einen Brief heraus und drückt ihn dem Philosophen zusammen mit ein paar Samenkörnern in die Hand. Der Philosoph hat eine neue Kundin.

Lange Zeit hat er seinen Unterhalt mühsam durch Gelegenheitsarbeiten verdient und lebte am Rande des Existenzminimums, seit ein paar Monaten aber hat er eine etwas lukrativere Einkommensquelle für sich entdeckt. Es begann damit, dass er für die Kräuterfrau Shirin Bano Briefe an ihren Geliebten überbracht hat. Aufgrund seiner Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit ist er danach weiter empfohlen worden. Inzwischen gibt es einige Frauen, die ihn für ähnliche Botengänge bezahlen, die meisten leben im Stadtteil Rhomoon in einem Viertel für Wohlhabendere. Neben Shirin Bano handelt es sich dabei um Goulizar, die einen Minotauren liebt, Saaroni, die Gattin des reichen Porfirio Empyreus und Sinemis. Halifa, die Prostituierte aus der „Seide“, ist eine Freundin Shirin Banos und hat wohl ihr gegenüber nach deinen Diensten verlangt. Das Leben des Philosophen ist erträglicher geworden, es ist aber immer noch beschwerlich. Da Dégringolade eine riesige Metropole ist, führen ihn seine Botengänge oft viele Kilometer durch die Stadt. Seine Nächte verbringt er oft unter Brücken oder in den Schuppen oder Gartenhäusern seiner Kundinnen. Beim Umgang mit seinen Kundinnen muss er stets ein Auge auf mögliche eifersüchtige Ehemänner, Väter, Freier und andere unliebsame Zeitgenossen haben, die auch ihm gegenüber gewalttätig reagieren können.

Seine Begegnung mit Halifa scheint aber ungefährlich zu verlaufen. Dafür bemerkt der Philosoph ein tiefes Seufzen der Dame, als sie ihm ihren Brief übergibt. Sie sagt: „Der Brief ist für Gerdotesa, den Verwalter vom Turm der Helden.“ Der Philosoph runzelt die Stirn, sagt dann aber: „In Ordnung.“ Der Turm der Helden ist ein brüchiges, kunstvoll gearbeitetes Gebäude in Lehekesh, in der Nähe der Mündung des Vadhm ins Meer. Das ist etwa 30 Kilometer entfernt. Der Turm ist ein beliebtes Ausflugsziel, denn es heißt, dass dort die Geister der ehemaligen Turmbewohner spuken und bei Nacht Szenen aus ihrem Leben nachstellen. Der Philosoph räuspert sich und fragt: „Soll ich auf eine Antwort warten?“ Halifa seufzt erneut und sagt: „Ja, aber ich bitte dich, dränge ihn nicht.“ Der Philosoph nickt. Er will gehen und steckt den Brief in seinen Gürtel. Halifa sagt: „Da wäre noch etwas. Es wäre mir lieb, wenn Gerdotesa nichts von meiner Anstellung in der „Seide“ erfahren würde. Verstehst du das?“ Der Philosoph stutzt und sagt: „Sicherlich. Ich bin nur der Bote, meine Dame. Seien Sie unbesorgt.“ Begleitet von einem weiteren Seufzer Halifas verlässt der Philosoph das Zimmer, grüßt den immer noch am Eingang stehenden ersten Advokaten und zieht davon.
« Letzte Änderung: 6.08.2020 | 12:50 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #7 am: 27.07.2020 | 17:59 »
Halifas Seufzer scheinen das Mitleid des ersten Advokaten erregt zu haben. Er betritt ihren Raum und verbeugt sich respektvoll vor ihr. „Wer bist du?“, fragt Halifa erstaunt. Da erst wird dem ersten Advokaten bewusst, dass er in der „Seide“ ja noch ein Unbekannter ist. Unsicher stammelt er: „Ich bin die neue Wache und – nun – sorge mich um euer Wohlergehen. Kann ich etwas für euch tun?“ Halifa zeigt sich erstaunt und sagt: „Es ist alles in Ordnung. Wenn ich jemanden brauche, rufe ich.“ Als aber der erste Advokat unter einer weiteren Verbeugung den Raum wieder verlässt, schaut ihm Halifa neugierig hinterher.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #8 am: 27.07.2020 | 18:00 »
Am Nachmittag kehrt der Anführer mit einem relativ guten Fang zurück zu seiner Hütte. Er legt die Fische in einen Korb, schultert ihn und macht sich auf den Weg zum nächsten Markt. Als er an der Mauer des Gutes von Porfirio Empyreus vorbei geht, sieht er das Sgraffito und ärgert sich. Sanieren und stutzen! Dann dieser Minotaurenkopf! Es scheint doch wieder irgendjemand seine Brüder drangsalieren zu wollen! Laut ruft er: „Sanieren und stutzen, in Ordnung, das könnt ihr haben! Darauf folgt dann aber auch Brechen und Durchbohren!“ Der erste Soldat eilt aus dem Schneckengarten zu ihm. Zwei Träger mit leerer Sänfte bleiben auf der Straße neben ihm stehen. „Was ärgert dich so, Bruder?“, fragt der erste Soldat. Der Anführer zeigt auf das Sgraffito und sagt: „Müssen wir uns das bieten lassen? Da äußert sich doch blanker Hass!“ Einer der Sänftenträger behauptet: „Den Spruch gibt es seit ein oder zwei Wochen an mehreren Stellen in der Stadt. Ich weiß nicht, was er bedeutet, aber in meinen Augen muss er sich nicht unbedingt gegen die Minotauren richten.“

Währenddessen ruft im Inneren des Hauses die Herrin Saaroni den erstbesten verfügbaren Minotauren herbei. Es trifft den zweiten Soldaten. Saaroni sagt ihm: „Da ist eine Schmiererei an unserer Grundstücksmauer? Du beseitigst sie. Heute Abend sieht sie aus, wie zuvor.“ Der zweite Soldat nickt, holt sich einen Schwamm und einen Holzeimer und gesellt sich zu dem Grüppchen auf der Straße.

Nachdem er dem Gespräch eine Weile zugehört hat sagt er: „Wie auch immer. Unsere Herrin scheint kein Gefallen an dem Spruch zu haben. Ich habe den Auftrag, die Schmiererei zu beseitigen.“ In dem Moment tritt Roshaan, der zwölfjährige zweite Sohn des Hauses, an den zweiten Soldaten heran. Er scheint auf der anderen Seite der Mauer gelauert, dem Gespräch ebenfalls zugehört zu haben und wendet sich nun an den zweiten Soldaten. „Du willst den Spruch verschwinden lassen? Warum?“ Der zweite Soldat gibt ihm zu verstehen, dass seine Mutter saubere Wände bevorzugt. Roshaan schmollt und sagt: „Aber die Idee ist trotzdem gut!“. Er will schon verschwinden, da ruft ihn der Anführer noch einmal herbei und fragt: „Was denn für eine Idee?“ „Na, sanieren und stutzen“, sagt Roshaan. Etwas mühsam erfahren die Minotauren, dass es sich um eine neue Idee handelt, die einige Menschen vertreten. Sie wollen Minotauren an den Stadtrand von Dégringolade schicken und sie den vordringenden Urwald stutzen lassen. Die Minotauren sollen auch die Würgefeigen und Banyanbäume, die in der gesamten Stadt bereits den Stein zerstören, beseitigen und die verfallenen Häuser sanieren. „Dann wird die Stadt viel schöner sein!“, endet Rashoon seine Erklärung und verschwindet. „Eine Menge Arbeit“, murmelt einer der Sänftenträger. „Aber wenigstens eine sinnvolle Arbeit“, meint der zweite Soldat. „Besser jedenfalls, als uns die Hörner zu stutzen“, meint der Anführer und zieht weiter in Richtung des Marktes, wo er seine Fische verkaufen will.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #9 am: 27.07.2020 | 18:00 »
Noch etwas später erreicht der Philosoph das Haus von Porfirio Empyreus. Er hat beschlossen vor seiner Reise nach Lehekesh noch bei Saaroni nachzufragen, ob sie nicht auch noch etwas Arbeit für ihn habe. Nach seiner Überfahrt auf der Fähre über den Vadhm erreicht er pünktlich zum Nachmittagsmonsun das Haus. Während er sich auf dem Kiesweg dem Haus nähert, blickt er in das ausdruckslose, steinerne Gesicht, das an einigen Häusern der wohlhabenderen Bewohner Dégringolades zu finden ist. Wenig später steht er im Raum von Saaroni, die ihn empfängt. In einiger Entfernung befindet sich ein weiterer Minotaur, der an einem Stehpult einige Schriftstücke sortiert. Saaroni beginnt sofort mit dem Gespräch: „Du kommst zur rechten Zeit, Rind! Ich habe zwei Briefe für dich.“ Mit diesen Worten drückt sie dem Philosophen zwei nach Patchouli riechende Umschläge in die Hand. „Der eine ist für Durokshan, hast du von ihm gehört? Das ist dieser Duellkämpfer, über den im Moment ganz Dégringolade spricht. Der andere ist für Nagur Mulukutla, den Wirt vom friedlichen Mungo, dort warst du ja schon.“ „Herrin“, erwidert der Philosoph, „wollt ihr die Briefe nicht kennzeichnen, damit ich sie nicht durcheinander bringe?“ Saaroni überlegt. „Es wäre ärgerlich, wenn du sie verwechseln würdest, da hast du Recht.“ Schnell zeichnet sie auf den einen Brief ein D, auf den anderen ein N. Der anwesende Minotaur sortiert während des gesamten Gesprächs ungerührt weiter die Schriftstücke auf dem Stehpult.

Als der Philosoph die Briefe entgegengenommen und ein paar Samenkörner kassiert hat, platzt plötzlich Porfirio Empyreus in den Raum seiner Gattin. Er ist von seinem Schneckenkonsum in der vergangenen Nacht noch immer leicht benebelt und scheint etwas wacklig auf den Beinen. „Was geht hier vor?“, ruft er. Saaroni antwortet ihm: „Ich verschicke Einladungen für unsere nächste Gesellschaft an die Verwandten. Rege dich nicht auf!“ Porfirio blickt streng. „Ich habe immer weniger Einblick in deine Geschäfte, Saaroni! Das gefällt mir nicht. Die Einladung übernehme von nun an ich selbst. Du wirst keine Boten mehr empfangen.“ Saaroni entgegnet: „Das ist nicht dein Ernst, Porfirio!“ Aber der Hausherr bleibt stur: „Doch, Saaroni. Das Thema wird einen Monat lang nicht besprochen.“ Energisch wendet sich Porfirio ab und muss sich ein wenig am Türrahmen festhalten, als er das Zimmer seiner Frau verlässt. Saaroni wirft ihm einen genervten Blick hinterher.

Zögerlich meldet sich der Philosoph zu Wort. Saaroni ist seine beste Kundin. Er sagt: „Herrin, wie darf ich mir den Fortgang unserer Geschäftsbeziehung vorstellen?“ Saaroni zuckt mit den Schultern. Dann sagt sie: „Im kommenden Monat bekommst du deine Aufträge vom Erzieher des Hauses. Mit diesen Worten deutet sie auf den Minotauren am Stehpult. Er wirft dem Philosophen einen kurzen Blick zu und nickt ihm leicht zu. Der Philosoph verabschiedet sich. Eine Zeitlang steht er allein in der Diele des Hauses und wartet, bis der Monsun geendet hat. Dann macht er sich auf den Weg nach Khostalush. Er muss einen Duellkämpfer finden.
« Letzte Änderung: 28.07.2020 | 11:14 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #10 am: 27.07.2020 | 18:01 »
Drei namenlose Minotauren sitzen an einem Straßenrand in Rhomoon. Zwei von ihnen sind Kautschukerntehelfer, die auf der an die Straße grenzenden Plantage arbeiten, der dritte ist ein vorbeigekommener Bronzegießer. Während der Bronzegießer ihnen zwei Gläser von seinem Palmwein einschenkt, teilen die Kautschukbauern ihren Kokoscurry mit ihm.

Der erste Kautschukbauer: „Hast du von dem Bruder gehört, der in seinem Fischerboot heute beinahe mit der Fähre zusammengestoßen ist?“

Der Bronzegießer: „Was war das für ein Fischer?“

Der erste Kautschukbauer: „Er wollte sich mit seinem Ruder von der Fähre abstoßen, hat es aber stattdessen auf die Fähre geworfen.“

Der Bronzegießer: „Was war das für ein Fischer?“

Alle drei lachen.

Der zweite Kautschukbauer: „Vergiss nicht die Flussdelphine zu erwähnen!“

Der erste Kautschukbauer: „Kurz vorher sollen die Flussdelphine gesungen haben.“

Der Bronzegießer: „Aha?“

Der erste Kautschukbauer: „Kein Grund, sein Ruder wegzuwerfen, oder?“

Der zweite Kautschukbauer: „Hast du die Flussdelphine schon einmal singen hören? Das ist ein Erlebnis! Es gab heute ein paar Leute, die behauptet haben, dass die Flussdelphine für den Fischer gesungen haben.“

Alle drei denken eine Weile nach.

Der Bronzegießer: „Was war das für ein Fischer?“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #11 am: 12.09.2020 | 22:39 »
2

Wenn sich in uralten, zerfallenden Gebäuden die Dämmerung breitmacht,
überwucherte Dächer, unerbittliche Steingesichter und lebendes Grün sichtbar werden,
die Grillen, Zikaden und Riedfrösche verstummen,
die Mistfledermäuse ihre Jagd auf Insekten in den dunklen Straßen beenden und zu ihren Nestern im Dschungeldach zurückkehren,
sich im Hinterhof Tänzerinnen zu einer frühen Probe versammeln,
und die Sonne ihre ersten Strahlen über das östliche Meer sendet,
dann sei gefasst
auf einen neuen Tag in der Fremde.

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #12 am: 12.09.2020 | 22:41 »
Ich entzünde Räucherstäbchen.

Sie beginnen zu glimmen und erfüllen unsere Nasen mit dem Geruch von Sandelholz.

Wir blicken ihren Schwaden nach bis sie sich im Blätterwerk einer Birke verlieren.

Im dunklen Grün der Blätter zeichnen sich schon bald fremdartige Formen ab.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #13 am: 12.09.2020 | 22:46 »
Am späten Vormittag des nächsten Tages erreicht der Philosoph das Stadtzentrum in Kostalush. Hier befindet sich der zentrale Platz der Dégringolades, ein mit Backsteinen ausgelegtes Geviert, vielleicht 300 mal 100 Schritt groß. Zu seiner Linken ragt der über hundert Schritte hohe Turm des reichen Bogenmachers Yala Ashrouf in die Höhe, an den seine Werkstätten angrenzen, in denen er längst andere für sich arbeiten lässt. Zu seiner Rechten steht das opulente Stadthaus von Arethas Empyreus. Auf dem Platz findet manchmal ein Markt statt, manchmal bieten hier auch Schausteller Vergnügungen und Zeitvertreib an. Der Philosoph ist aber vor Ort, weil hier oft auch Krieger, Söldner und Duellkämpfer ihre Dienste anbieten. Er schaut sich um und erkennt am Rand des Platzes einige Sänftenträger, die auf Kunden warten, auch einige Händler haben ein paar Stände aufgebaut. In der Mitte des Platzes ist aber ein Podest errichtet worden, auf dem ein Ausrufer mit schriller Stimme einige Männer und Minotauren präsentiert und ihre Fähigkeiten anpreist. Gespannt achtet der Philosoph auf ihre Namen.

Er muss nicht lange warten. Schon bald wird ein muskulöser, gutaussehender junger Mann mit einem etwas überheblichen Lächeln vorgeführt. Der Ausrufer informiert die Umstehenden, dass es sich um den Duellkämpfer Durokshan handele, der neue, aufsteigende Stern am Himmel Dégringolades. Durokshan sei seit 15 Kämpfen ungeschlagen, seine Kraft, seine Erfahrung und sein Listenreichtum seien unübertroffen, seine Kaltblütigkeit habe ihm bereits den Namen „Der Vollstrecker“ eingebracht. Der Mann habe seinen Preis, die mit ihm verbundene Siegesgewissheit sei aber jedes Samenkorn wert. Während sich der Mann der Menge präsentiert, bahnt sich eine Gestalt in einem weiten Umhang mit verhülltem Gesicht durch das Volk und erreicht schließlich das Podest. Der Philosoph hört, wie sie mit einer tiefen, sonoren Altstimme Interesse an Durokshan bekundet. Die Kundin ist offensichtlich eine Frau und verhandelt im Folgenden eine Weile mit dem Ausrufer und dem Krieger selbst. Schließlich scheinen die Parteien handelseinig geworden zu sein. Durokshan folgt der verschleierten Frau und nähert sich den am Rande des Platzes wartenden Sänften. Geschickt bahnt sich der Philosoph durch die Menge um zu ihnen aufzuschließen.
 
Schließlich besteigt die verschleierte Gestalt eine Sänfte und winkt Durokshan zu sich. In diesem Moment nähert sich der Philosoph dem Krieger von hinten, drückt dem überraschten Mann Saaronis Umschlag in die Hand und sagt: „Ein Brief für euch, Herr!“ Durokshan scheint verwirrt und sucht vergeblich nach Worten, drückt dem Philosophen aber schließlich zwei Samenkörner in die Hand und nickt ihm zu. Schon aber ruft die verschleierte Frau aus der Sänfte ihm zu: „Lasst uns auf den morgigen Abend zurückkommen...“  und er setzt sich zu ihr.

Langsam setzen sich die Sänftenträger in Bewegung. Sie schlagen die Richtung ein, die der Philosoph ohnehin einschlagen wollte, daher folgt er ihnen noch eine Weile. Hin und wieder kann er einen kurzen Blick durch das Fenster der Sänfte werfen und sieht, wie Durokshan mit der verschleierten Gestalt spricht, dabei aber bereits den geöffneten Brief auf seinem Schoß liegen hat. Nach einer Weile erreicht die Sänfte das Gut eines Aristokraten. Die verschleierte Frau und Durokshan steigen aus und gehen auf die Stallungen zu. Der Philosoph hört, wie die Frau dem Krieger vorschlägt, er könne sich dort den Schild ansehen, von dem sie gesprochen habe. Achselzuckend setzt der Philosoph seinen Weg fort.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #14 am: 12.09.2020 | 22:53 »
Am späten Vormittag des nächsten Tages klopft ein namenloser Minotaur mit dominantem Blättermagen an die Tür des Luxusbordells „Die Seide“ im Stadtteil Rhomoon. Er hat einen Mann dabei, der einen etwas abwesenden Eindruck macht. Die Tür öffnet sich und Ashtavede, der Bordellier, wirft dem ungleichen Paar einen kurzen Blick zu: „Ah, Mujeeb Gashkori, der Wahrsager! Ihr seid heute früh dran!“ Der Minotaur – nennen wir ihn den zweiten Advokaten – wirft einen bewundernden Blick auf Ashtavedes prächtige Tätowierungen und erklärt, dass sie vor den Kunden erscheinen wollten. Sie hätten die Hoffnung, dass eine der Damen möglicherweise ihre Dienste in Anspruch nehmen könnte. Ashtavede überlegt einen Moment und meint: „Ja, vielleicht versucht ihr es links im letzten Zimmer. Der Dame geht es nicht gut. Ein vorteilhaftes Orakel könnte sie wieder heiterer stimmen.“ Der zweite Advokat nickt Ashtavede dankbar zu und zieht Mujeeb Gashkori hinter sich her.

Zielsicher steuert er den Raum Halifas an und klopft am Eingang zu ihrem Raum an den Rahmen. Halifa bittet Mujeeb und den zweiten Advokaten herein. Sie begrüßt die beiden und fragt sie nach ihrem Begehr. Der zweite Advokat schlägt ihr vor, sich von seinem Herrn, Mujeeb Gashkori, weissagen zu lassen. Halifa denkt einen Moment nach, scheint aber nicht abgeneigt und stimmt schließlich zu. Der zweite Advokat will wissen, ob sie in einer bestimmten Angelegenheit Rat brauche. Halifa erzählt ihm mit etwas belegter Stimme, dass sie eine Bekanntschaft gemacht habe. „Ist es eine erfreuliche Bekanntschaft?“, fragt der zweite Advokat. „Rind, genau das würde ich gern von deinem Herrn wissen!“

Vorbereitungen werden getroffen. Der zweite Advokat teilt Essstäbchen aus und reicht Mujeeb Gashkori eine Büchse, in der das Summen von Bienen zu hören ist. In einen Becher gießt er Zuckerwasser. Der Wahrsager öffnet die Büchse und entimmt ihr mit seinem Essstäbchen geschickt eine Biene, die er im Zuckerwasser ertränkt und schließlich zerkaut. Halifa tut es ihm gleich. Eine Weile dauert es, bis das Bienengift seine Wirkung zeigt, die beiden in einen angenehmen Rauschzustand versetzt und empfänglich für den Schlund des Schicksals macht. Der zweite Advokat wirft ein paar geschnitzte Holzplättchen in eine Schale, der mysteriöser Qualm entsteigt, dann fordert er Halifa auf, vier Holzplättchen aus dem Qualm zu ziehen. Halifa tut erwartungsvoll, wie ihr geheißen wurde. Für Mujeeb Gashkori aber ist das die vierte Weissagung an diesem Vormittag. Er ist sichtlich berauscht, nicht ganz bei sich und muss sich zusammenreißen um deutlich sprechen zu können. Lange schaut er ein Holzplättchen an, auf das eine Schmuckschatulle mit geöffneten Türchen eingraviert wurde. Dann sagt er: „Die Begünstigten stellen oft fest, dass sie mehrere Möglichkeiten haben.“

Halifa wird ärgerlich: „Was heißt das denn jetzt? Das ist doch keine Hilfe! Für so einen Satz wollt ihr zwei Samenkörner haben?“ Der zweite Advokat versucht zu vermitteln: „Ja, meine Dame, das Ergebnis ist nicht allzu aussagekräftig! Wir geben uns daher auch mit einem minderen Lohn zufrieden.“ Halifa ist dabei ein neues Räucherstäbchen zu entzünden und schaut den Minotauren dabei kurz an: „Das ist immerhin ein Entgegenkommen! Ich weiß das zu schätzen.“  Der Rauch des Stäbchens steigt schon bald auf, verteilt sich und gesellt sich zu den anderen durchsichtigen Schlangen, die sich an der Decke in den Ecken winden. Der zweite Minotaur redet Halifa gut zu und gibt ihr zu verstehen, dass er von den Holzplättchen nichts verstehe, die Schlangen der Räucherstäbchen vermittelten ihm aber den Eindruck, als habe das Glück in ihrem Raum Einzug gehalten. Halifa betrachtet die Räucherstäbchen und sagt: „Meinst du wirklich?“ und verspricht mit einem Leuchten in den Augen, dass sie sich gegenüber Mujeeb und dem Minotauren großzügig zeigen werde, wenn sich ihre neue Bekanntschaft als vorteilhaft herausstellen sollte.

Mujeeb Gashkori flüstert währenddessen dem zweiten Advokaten zu, dass er eine Pause brauche. Der Minotaur verabschiedet sich deshalb von Halifa und kehrt in den Eingangsbereich der „Seide“ zurück. Er fragt Ashtavede, der an einer selbstgedrehten grünen Zigarre zieht, ob  Mujeeb sich eine Weile im Innenhof ausruhen könne. Der Bordellier erzeugt ein paar großartige Rauchringe und erklärt sich dann einverstanden: „Solange noch keine Gäste im Haus sind, könnt ihr es euch bequem machen.“ Der zweite Advokat führt Mujeeb in den Innenhof, wo er sich in ein niedriges Sofa fallen lässt.

Eine Weile betrachtet der Minotaur seinen Herrn. Der beständige Rausch durch das Bienengift hat seinem Körper und Geist zugesetzt. Mujeeb ist etwas zittrig geworden, hat seinen Körper nicht mehr gut unter Kontrolle und ist immer häufiger abwesend. Der Blick des zweiten Advokaten wandert durch den Innenhof, wo ein weiterer Minotaur einem Wasserbecken mit einem Insektenkescher tote Nachtfische entnimmt. Er fragt: „Woran sind sie gestorben?“ und der erste Advokat antwortet ihm: „Ich weiß es nicht genau. Sie gehören eigentlich in den Fluss.“ Etwas später taucht ein untersetzter Mann im Innenhof auf, der versucht, einen entschlossenen Gesichtsausdruck anzunehmen. Es ist Haygaram Ooryphas, der Besitzer der „Seide“. Mit großen Schritten nähert er sich Mujeeb Gashkori und dem zweiten Advokaten. Dann sagt er: „Gashkori! Du schon wieder! Höre zu: es gibt Gäste, die sich über dich alten Bienenfresser beklagen. Sie finden dein Geschäftsgebaren abstoßend. Du kannst von mir aus weiter hier wahrsagen, aber deine Bienen bleiben von nun an draußen.“ Mujeeb Gashkori schaut den Mann eine Weile an. Sein Zustand erlaubt es ihm nicht, eine Diskussion zu führen. Also ergreift der zweite Advokat seufzend das Wort: „Herr, die Bienen sind leider ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Arbeit. Wir sind aber vernünftigen Argumenten gegenüber nicht abgeneigt. Was haltet ihr davon, wenn wir für 10 Tage pausieren, bis sich die Wogen etwas gelegt haben. Von da an werden wir die Biene so verbergen, dass sie nur noch unsere Kunden zu Gesicht bekommen. Klingt das akzeptabel?“ Haygaram Ooryphas grunzt ein wenig und sagt dann: „Es kommt auf einen Versuch an. Bei der nächsten Klage fliegt ihr ´raus.“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #15 am: 12.09.2020 | 22:55 »
Am späten Vormittag des nächsten Tages macht der erste Soldat im Schneckengarten des Porfirio Empyreus eine unangenehme Entdeckung. Überall sprießen kleine Knoblauchpilze, die den Boden sauer machen und die Schnecken vertreiben. Eine Menge Arbeit kommt auf ihn zu. Er nimmt eine Schaufel und gräbt jeden der kleinen Schädlinge einzeln aus. Schwitzend stellt er fest, dass er dabei hin und wieder vom Hausherrn selbst durch ein Fenster seines Hauses beobachtet wird. Als die Arbeit nach einigen Stunden beendet ist, erscheint Porfirio Empyreus höchstpersönlich bei ihm: „Was hast du den ganzen Tag gebuddelt, Rind?“ Der erste Soldat erzählt seinem Herrn von den Knoblauchpilzen. Porfirio reagiert unwirsch: „Was für ein Unglück! Ich habe heute Abend Gäste eingeladen und jetzt gibt es womöglich keine Schnecken mehr! Hättest du nicht besser aufpassen können?“ Der erste Soldat versucht ihn zu beruhigen: „Es tut mir leid, ich habe die Pilze erst heute Morgen entdeckt. Es wird aber sicher noch genügend Schnecken geben, wenn eure Gäste eintreffen.“ „Ich hoffe es! Ich hoffe es auch für dich, Gärtner!“, erwidert Porfirio Empyreus mit drohendem Unterton und kehrt ins Haus zurück. Als der erste Soldat nach einer kurzen Pause wieder zum Schneckengarten zurückkehrt, stellt er fest, dass der kleine Anil, der jüngste Sohn des Hauses die Tonne umgestoßen hat, in der der erste Soldat die Pilze geworfen hatte und diese jetzt als Spielmaterialien benutzt. Seufzend setzt sich der erste Soldat zu dem dreijährigen Kind und erzählt ihm, diese Pilze seien zum Kochen da und gekocht werde in der Tonne. Anil beginnt daraufhin, freudig die Pilze zu kleinen Bröseln zu zerreiben und in die Tonne zu werfen. „Du kannst sie auch erstmal hier über dem Topf zerreiben“, sagt der erste Soldat mit zerknirschtem Gesichtsausdruck und stellt einen Gartenkorb vor den Kleinen. Zusammen gelingt es den beiden irgendwann alle Pilze wieder zurück in die Tonne zu befördern. Schließlich läuft Anil freudstrahlend ins Haus um seinem Erzieher von seinen Kochkünsten zu berichten. Der erste Soldat wischt sich die Stirn.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #16 am: 12.09.2020 | 22:58 »
Am späten Vormittag des nächsten Tages steht der zweite Soldat im Massageraum des Hauses von Porfirio Empyreus. Er reinigt seine Liegen, legt seine Decken und Handtücher zurecht, überprüft seine Ausstattung und hält plötzlich inne: In einem Tiegel mit Massageöl findet er einen Blatthornkäfer, der in der Flüssigkeit offenbar ertrunken ist. Der zweite Soldat gerät ins Grübeln. Blatthornkäfer sind außergewöhnliche Tiere mit besonderen Fähigkeiten! Eine uralte Geschichte fällt ihm ein, die berichtet, wie der taube Gladiator Veturro im Turnier von Scarabae nach zwölf Runden unbewaffnet gegen drei Hunde seinen letzten Sieg errang, und das, obwohl er die Hochrufe und den Applaus der Menge nicht hören konnte. Als Preis überreichte ihm der Geschichte zufolge die wunderschöne Sulunia Empyreus einen Blatthornkäfer, der in der Lage war, das was er hörte, an Veturros Gehirn zu übertragen und dem Pensionär von da an die Ohren ersetzte. Nachdenklich schaut der zweite Soldat den toten Nachfahren dieses Käfers an und beginnt einige Untersuchungen anzustellen: Wie ist er in den Tiegel gelangt? Gibt es noch mehr seiner Art in der Nähe? Ist das Massageöl noch brauchbar? Der zweite Soldat denkt an Blatthornkäfer, die Geräusche übertragen, hält sich den Kadaver an sein Ohr und drückt ihn etwas. Dann aber fährt er zusammen – wie ein Rest aus einer Flasche sondert der Käfer noch einen letzten Satz ab, der deutlich vernehmbar an das Ohr des zweiten Soldaten dringt: „Es gibt niemanden mehr, der das Geheimnis der alten Dichtung von Dégringolade kennt.“  Wie vom Blitz getroffen starrt der Minotaur das tote Insekt an, aber was er auch anstellt, nach diesem Ereignis bleibt der Käfer stumm und rührt sich nicht mehr. Der zweite Soldat denkt über den Satz nach. Die Menschen in Dégringolade mögen Dichtung, so wie sie auch Theateraufführungen und Tanzdarbietungen mögen. Von irgendeiner Dichtung aus alten Zeiten, die anders gewesen wäre, als die gegenwärtige hat er aber nie etwas gehört. Etwas zögerlich begibt sich der Minotaur zum Zimmer seines Herrn. Er ist der Meinung, Porfirio sollte wissen, was sich ereignet hat.

Der zweite Soldat leitet seinen Bericht mit den Worten ein, dass sich in letzter Zeit mysteriöse Dinge ereignen. Porfirio Empyreus will wissen, was er meint. Da entschlüpft dem zweiten Soldat eine Bemerkung über dessen zweiten Sohn Ajatashatru, der sich offenbar mit einem seltsamen Minotaurenüberwurf durch die Stadt bewegt. Sein Herr wird misstrauisch. Er will genau wissen, was sein Sohn angestellt habe und versucht seinen Masseur auszufragen, dieser aber macht einen Rückzieher. Der zweite Soldat hat dem Sohn versprochen, Porfirio Empyreus nichts von seinen Unternehmungen zu erzählen und wechselt daher schnell das Thema. Der Blatthornkäfer interessiert Porfirio aber weniger. Auch über alte Dichtung weiß er scheinbar nichts. Dafür hakt er mehrfach nach, ob der Masseur ihm etwas über seinen Sohn zu erzählen habe. Der zweite Soldat windet sich und redet sich heraus. Am Schluss erzählt ihm Porfirio Empyreus, dass er von nun an genauer beaufsichtigen wird, was sein Sohn anstelle. Dann schenkt er ihm den toten Blatthornkäfer. Erleichtert verlässt der zweite Soldat das Zimmer seines Herrn.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #17 am: 12.09.2020 | 23:05 »
Am Abend erreicht der Philosoph am Rande von Kostalush die Taverne „Zum friedlichen Mungo“. Sie macht einen netten und angenehmen Eindruck. Ihre Wände sind zum größten Teil aus Marmor, das Flachdach ist wohl irgendwann einmal zusammengefallen und besteht inzwischen aus einer schrägen Bretterfläche. Das einzige Fenster der Taverne ist durch einen Vorhang aus bunten Bändern verhängt, der bei Bedarf zur Seite geschlagen werden kann. Auch der Eingang ist durch solche Bänder verhangen.

Der Philosoph betritt die Taverne und sieht sich um. Die Holzdecke wird von einigen Holzpfosten getragen. Von der Decke hängt eine große Öllampe. Die Wände sind alle im gleichen, etwas naivem Stil mit freundlichen Gesichtern bemalt. Es sind junge, hübsche Menschen, daneben auch zwei stattliche Minotauren. Irritierenderweise entdeckt der Philosoph auch eine Darstellung von Saaroni Empyreus, mit einigem Abstand die älteste der dargestellten Personen. Über den Bildern steht ein mysteriöser Spruch: „Asche zu Asche, entflieh´ deinem Wahn! Kriegt dich nicht der Gegner, kriegt dich der Kumpan!“ Hinter der Theke steht ein Mann mittleren Alters, der dem Philosophen freundlich zunickt, eine weibliche Bedienung begrüßt ihn mit einem knappen, aber fröhlichen „Hallo“. Der Philosoph fühlt sich nicht schlecht. Es scheint sich um einen der wenigen Orte zu handeln, an denen seinesgleichen freundlich aufgenommen werden.

Der Philosoph tritt an den Mann hinter der Theke heran und fragt nach Nagur. „Der bin ich selbst“, bekommt er als Antwort. Der Philosoph ist erfreut und überreicht ihm Saaronis Brief. „Aha“, sagt Nagur und öffnet den Umschlag, aber noch während er liest geraten in der gut gefüllten Schankstube zwei Männer in einen Streit über ein anwesendes, hübsches Mädchen. Nagur blickt kurz zu seinen Gästen auf und stellt zwei Gläser Reiswein vor den Philosophen. Dann sagt er: „Sei so gut und bringe das den beiden Streithähnen. Die Getränke gehen auf Kosten des Hauses, ihren Streit dürfen sie dafür aber an einem anderen Ort austragen.“ Der Philosoph geht etwas zögerlich zu den beiden Männern und entdeckt, dass das Abbild des Gesichtes eines der beiden sich ebenfalls als Gemälde an der Wand befindet. Der Philosoph bringt den beiden Kontrahenten die Getränke und überbringt ihnen kurz angebunden die Worte Nagurs. Die Gemüter der beiden beruhigen sich daraufhin ein wenig.

Etwas später kommt es zu einem kleinen Gespräch zwischen Nagur Mulukutla und dem Philosophen. So erfährt der Minotaur, dass es sich bei den Abbildungen an den Wänden um die Stammgäste des Lokals handelt, die Nagur selbst gemalt hat. "Wer hier verewigt ist, kommt wieder!", meint der Wirt mit einem Lächeln. Der seltsame Spruch sei hingegen einfach einer der geflügelten Worte in der Taverne, die die jugendlichen Gäste gern ins Gespräch einbringen, wenn sich irgendjemand nicht korrekt verhalten hat. Der Philosoph wundert sich etwas über die Klientel des Ortes und betrachtet die Gäste genauer. Die an langen Tischen sitzenden jungen Leute haben zufriedene, reiche Gesichter. Irgendwo spielt jemand ein Zupfinstrument. Ein paar der Gäste stehen und wiegen sich ein wenig zu der Musik. Auch einige Paare sind anwesend und sitzen an kleinen Zweiertischchen. Die meisten Hocker an der Theke sind besetzt. Trotzdem gibt sich Nagur Mühe, jeden Neuankömmling eigens zu begrüßen.

Nagur erzählt dem Philosophen, dass Saaroni in ihrem Brief ihren Besuch in fünf Tagen ankündigt. „Sie ist öfter hier. Wenn ich für die jungen Leute hier eine Art Vater bin, dann ist sie ihre Mutter.“ Dann realisiert Nagur aber, was er gesagt hat und schweigt. Der Philosoph fragt ihn: „Wollt ihr Saaroni nicht zurückschreiben?“ Nagur überlegt einen Moment und sagt: „Du hast Recht, warte einen Moment!“ Er zieht sich in einen Nebenraum zurück und drückt dem Boten etwas später einen neuen Umschlag in die Hand. Schließlich fragt der Philosoph: „Es ist spät für mich geworden, Nagur. Meinst du, ich kann mich hier irgendwo zum Schlafen hinlegen?" Nagur drückt ihm eine warme Decke in die Hand und sagt: „Geh in die Küche. Du kannst dich neben den Herd legen.“ Der Philosoph tut, wie ihm geheißen wurde. Eine warme Schlafgelegenheit findet er nur selten. Durch die Lücken zwischen den Makramee-Bändern im Durchgang zum Schankraum kann er sehen, wie das nächtliche Treiben der Gäste exzessiver wird. Die Musik wird wilder, ein paar Leute beginnen auf den Tischen zu tanzen, andere stehen um sie herum und klatschen rhythmisch. Am Ende geraten  die beiden Streithähne wieder aneinander. Der Philosoph lächelt ein wenig, bleibt aber an seinem Herd und freut sich über den angenehmen Ort. Kurz danach fällt er in einen tiefen Schlaf.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #18 am: 12.09.2020 | 23:09 »
Am Abend sitzen der zweite Advokat und Mujeeb Gashkari am Fluss und machen Pläne, wie es weitergehen könnte. Der Assistent des Wahrsagers sagt: „Die Seide ist eine wichtige Einkommensquelle für uns, aber wenn wir nicht aufpassen, redet in zehn Tagen wieder jemand schlecht über uns. Wenn uns dort jemand Böses will, können wir unsere Bienen so gut verbergen, wie wir wollen. Er wird doch einen Grund finden, sich über uns zu beklagen.“ „Wer?“, fragt Mujeeb. „Das ist genau die Frage!“, antwortet der Minotaur. „Wir müssen herausfinden, wer es ist, dann können wir mit ihm reden.“ „Meinst du?“, fragt Mujeeb.

Etwas später stehen beide erneut vor dem Eingang zur „Seide“ uns begehren Einlass. Mit hochgezogenen Augenbrauen öffnet Ashtavede ihnen die Tür und fragt: „Was wollt ihr noch?“ Da erzählt der zweite Advokat von ihrer Begegnung mit Haygaram Ooryphas und dem Kompromiss, den sie mit ihm geschlossen haben. Dann fragt er Ashtavede, ob ihm dieser sagen könne, welcher Kunde in der Seide schlecht über Mujeeb spricht. Ashtavede wirft dessen Assistenten einen leicht belustigten Blick zu und sagt: „Wenn du den Namen weißt... was dann?“ Der zweite Advokat erzählt ihm: „Dann werden wir mit ihm reden. Es geht um unser Geschäft...“ Er schaut Ashtavede an, der gleichgültig ein paar grüne Tabakblätter aus einem Beutel kramt und fügt hinzu: „...und es geht um den Frieden in der Welt.“ Erstaunt blickt Ashtavede auf. „Um den Frieden in der Welt, ja? Also gut, um des Friedens willen: Einer unserer Kunden ist Kenta Planudes. Er besitzt ein paar Olivenhaine und Einfluss. Planudes ist relativ häufig hier – vielleicht alle drei Tage – und besucht dann in der Regel die Dame im vorletzten Zimmer links. Vielleicht gelingt es dir, den Mann dazu zu bringen, dir zuzuhören. Ihn ändern wirst du aber wohl kaum. Mache was du willst, aber wenn du nach deinem Gespräch noch immer der Meinung bist, dich für den Frieden einsetzen zu müssen, dann lade ich dich zu unseren Chorproben ein.“ Erstaunt nickt ihm der zweite Advokat zu und murmelt „Danke“. Dann kehrt er mit Mujeeb Gashkari ans Flussufer zurück um weitere Pläne zu schmieden.

Die beiden beschließen, der Dame aus dem vorletzten Zimmer links zwei Plätze für ein Theaterstück im nahe gelegenen Theater des Saemauug Empyreus zu reservieren. Da sie die Favoritin Kenta Planudes ist, kann sie auf ihren Freier möglicherweise vorteilhaft einwirken. Durch ein kleines Geschenk wollen der zweite Advokat und Mujeeb Gashkari Kontakt mit der Dame aufnehmen. Und mit einem listigen Blick fügt der Assistent des Wahrsagers hinzu: „Bei der Gelegenheit finden wir vielleicht auch heraus, ob die neue Bekanntschaft der Dame im Nachbarraum sich als glücklich herausgestellt hat. Wir könnten im Vorbeigehen gleich noch die von ihr versprochene großzügige Zuwendung einstreichen!“ Es dauert lange, bis Mujeeb Gashkari versteht, wovon sein Assistent spricht. Für die Reservierung der beiden Theaterplätze ist es zu spät geworden. Der zweite Advokat holt zwei Decken aus ihrem Gepäck und legt sich mit Mujeeb Gashkari hinter eine Hecke an der Straße. Den beiden steht eine kühle Nacht bevor, aber das ist keine neue Erfahrung für sie.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #19 am: 12.09.2020 | 23:12 »
Am Abend erscheint Porfirio Empyreus im Massageraum seines Anwesens. Zielstrebig wendet er sich seinem Masseur zu: „Wie du weißt kommen nachher Gäste. Ich will heute Abend ganz entspannt sein. Daher habe ich beschlossen, vorher Verkehr mit meiner Gattin zu haben. Ich wünsche eine Massage, die meinen Appetit anregt.“ Mit diesen Worten legt er sich auf eine der Liegen. Seufzend beginnt der zweite Soldat mit seiner Arbeit. Während er den Rücken seines Herrn mit eukalyptushaltigen Ölen einreibt, zieht sich sein Bewusstsein ganz in das hinterste Eckchen seines Hirns zurück. Plötzlich aber schreckt er zusammen. Während er die Brustwarzen seines Herrn stimuliert, gibt Porfirio plötzlich einen lauten Schrei von sich. „Verdammtes Rindvieh! Pass doch auf! Oweh! Das schmerzt! Aah!“ Porfirio krümmt sich ein wenig zusammen. „Lasst mich mal sehen!“, erwidert der zweite Soldat und berührt ein zweites Mal, diesmal etwas vorsichtiger, die Stelle. Wieder jammert Porfirio und behauptet Schmerzen zu haben. Der zweite Soldat tastet Porfirios Brust ab und merkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Was es ist, kann er aber nicht sagen. „Herr, ihr braucht ein wenig Ruhe! Lasst mich eure Brust drei Tage lang untersuchen. Wenn es nicht besser wird, werden wir einen Heiler holen lassen müssen.“ Porfirio ist damit einverstanden, will aber vor allem wissen, ob er am Abend mit seinen Freunden Schnecken essen kann. Während der zweite Soldat die Brust seines Herrn mit einer beruhigenden Tinktur bestreicht antwortet er vorsichtig: „Nun, Herr, es gibt sicherlich gesündere Ideen.“ Die Antwort genügt, um Porfirio in Wallung zu bringen: „Wieso? Das habe ich doch schon oft getan und außerdem fühlt sich meine Brust auch schon viel besser an!“ Seufzend empfiehlt ihm sein Masseur, wenigstens etwas vorsichtig zu sein. Porfirio sagt: „Ja, ja, ist recht“. Während er den Raum verlässt murmelt er noch: „Verkehr mit Saaroni kann ich dann wohl vergessen...“.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #20 am: 12.09.2020 | 23:22 »
Am späten Abend erscheinen Porfirios und Saaronis Gäste. Die Gesellschaft begibt sich zum Garten und geht dort im Unterholz mit winzigen Gabeln und kleinen Silberschalen auf die Jagd. Sie suchen nach einer leicht verletzten Schnecke, die sich in der Schale krümmt und windet. Unverletzte oder zu stark verletzte Schnecken bewegen sich nicht. Der erste Soldat beobachtet das Treiben der Gesellschaft mit bangem Herzen und reagiert sehr erleichtert, als die Feiernden mit ihrer Beute im Haus verschwinden. Eine Weile lang sieht alles wie ein typischer Schneckenrausch im Hause Porfirio Empyreus´ aus. Dann aber erscheint der Hausherr am Fenster und brüllt nach seinem Gärner. In seiner Stimme schwingt Entsetzen mit und angstvoll läuft der erste Soldat in den Speisesaal, wo sich die Gesellschaft befindet. Auf den Tischen stehen die Reste der Feier: Geschirr und Besteck, Gewürze, einige übrig gebliebene Streifen Schneckenfleisch und frische, grüne Irrlhu Blätter, in die das Fleisch üblicherweise eingewickelt wird. Auf dem Boden sitzend und an die Wand gelehnt befindet sich Ganapati Ducas, ein reicher Händler aus Lhleshrys. Er japst nach Luft. Porfirio stellt den Gärtner sofort zur Rede: „Er hat das smaragdene Halsband genommen und zeigt eine seltsame Reaktion. Die einzige Erklärung dafür kann nur sein, dass dieser saure Boden die Bekömmlichkeit der Schnecken herabgesetzt hat. Gärtner, dafür bist allein du verantwortlich!“ Das smaragdene Halsband ist ein Teil der Eingeweide einer wilden Schnecke, das üblicherweise für den Ehrengast oder die älteste anwesende Person reserviert ist, denn in ihm ist die Konzentration des begehrten Rauschstoffes am wirkungsvollsten und kräftigsten. Der erste Soldat stammelt: „Herr, ich bin mir keiner Schuld bewusst“, aber dann ergreift ihn eine Art Lähmung und statt sich mit seinem Herrn auseinanderzusetzen will er sich um dessen Gast kümmern und geht auf Ganapati Ducas zu. „Keine Schuld!“, brüllt Porfirio, „wir werden zuerst feststellen müssen, ob hier nicht ein Mordversuch vorliegt!“ Im Inneren des ersten Soldaten fühlt es sich so an, als bilde sich in seinem Labmagen ein schwerer Stein.

Inzwischen hat das Geschrei im Speisesaal auch noch andere Bewohner des Hauses alarmiert. Im Eingang des Raumes steht der zweite Soldat und verschafft sich einen Überblick über das Geschehen. Ganapati Ducas scheint nach Porfirios Worten in dem Minotauren, der ihm immer näher kommt, seinen Mörder zu erblicken. Er schreit laut „Nein!“ und schlägt mit seinen Armen wild um sich. Dabei trifft er den ersten Soldaten mitten ins Gesicht. Der Minotaur verliert daraufhin das Gleichgewicht, kippt nach hinten um und fällt in Ohnmacht. Porfirio schaut sich panikartig um, erblickt den zweiten Soldaten und befiehlt ihm, den Mordverdächtigen an einem sicheren Ort einzusperren. Beruhigend redet der zweite Soldat daraufhin auf seinen Herrn ein. Während er nach dem Gast seines Herrn schaut und feststellt, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet, er erklärt Porfirio ruhig, dass die Pilze im Schneckengarten wohl kaum etwas mit der Verfassung seines Gastes zu tun haben dürften. Schließlich ist Porfirio einigermaßen besänftigt. Er deutet auf den ohnmächtigen ersten Soldaten und sagt: „Masseur, es ist gut. Bring den Gärtner weg. Wenn er wieder zu sich kommt sagst du ihm, dass er aufgrund seiner ungebührlichen Annäherung gegenüber eines meiner Gäste die Aufgabe bekommt, die Sickergrube des Hauses zu entleeren.“ Der zweite Soldat nickt und schleppt den Ohnmächtigen davon. Auch er fühlt sich, als habe sich im Inneren seines Labmagens einer schwerer Stein gebildet.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #21 am: 12.09.2020 | 23:23 »
Noch ein Tag später erreicht der Philosoph im Stadtteil Lehekhesh den Turm der Helden. Der vielleicht vier Stockwerke hohe, verwitterte Turm steht an einem Hang am Rand eines Platzes, auf dem sich in einigem Abstand ein paar Tische und Stühle befinden. Auf einigen Ständern sind im Bereich der Sitzgelegenheiten Lampen befestigt. Ein Mann mit aufwändigen, hübschen Ranken- und Schmetterlingstätowierungen ist mit einer Sichel dabei, Kletterranken unterschiedlicher Arten am Turm zu stutzen. Der Philosoph nähert sich dem Mann und fragt ihn, ob ihm der Verwalter des Turmes, ein gewisser Gerdotesa bekannt sei. Der Mann schaut den Minotauren an und sagt: „Das bin ich.“ Der Philosoph übergibt ihm Halifas Brief, worauf ihm Gerdotesa einen Sitzplatz anbietet. Nach der Lektüre seines Briefes erfährt der Philosoph im Gespräch mit ihm ein paar interessante Details über den Turm der Helden. Gerdotesa verdient seinen Lebensunterhalt dadurch, dass er die Wohnungen im Turm der Helden vermietet. Das sei ein einträgliches Geschäft, erfährt der Philosoph, weil die Zimmer bei denen, die nach Ruhm streben, begehrt sind. Die Pflanzen am Turm entwickeln zu den Seelen der Turmbewohner angeblich eine ganz besondere Bindung. Wenn sie sich nach dem Tod eines Turmbewohners noch an ihn erinnern und seine Geschichte für erinnerungswürdig halten, locken die nächtlichen Blüten der Weinranken den Geist des Toten wieder herbei und lassen ihn Szenen aus seinem Leben nachstellen. Die Schatten, die die Lampen im Publikum werfen, sollen sich dabei so verformen, dass sie weitere Personen darstellen, die für das Nachstellen der Szenen aus dem Leben der Toten nötig sind.

Während der Philosoph noch staunt, nimmt der Bericht Gerdotesas eine persönlichere Wendung. Er berichtet davon, wie die Absenderin des Briefes vor zehn Tagen abends hier war, um die Geister vom Turm der Helden zu beobachten. Halifa sei guter Laune gewesen und habe sich hervorragend mit ihm unterhalten. Hinterher sei sie mit ihm zwei Tassen Reiswein trinken gegangen, dann habe er bis zum Morgengrauen mit ihr am Hafen gesessen und dem Sonnenaufgang zugesehen. Gerdotesa behauptet, es sei ein außergewöhnlicher Moment in seinem Leben gewesen. Als sie sich voneinander getrennt haben, habe er wissen wollen, wo er sie finden kann. Sie allerdings habe es nicht verraten, sondern nur gesagt, dass er mit etwas Glück von ihr hören werde. „Nun“, beschließt er seine Rede, „das zumindest hat sie wahr gemacht. Und jetzt? Bekomme ich noch zwei, dreimal einen Brief? Wie vielen Männern schreibt sie noch? Soll ich ihr Gedichte schreiben? Ich bin alles andere als ein Dichter!“ Der Philosoph fragt ihn, worüber er mit ihr am Hafen gesprochen habe. Gerdotesa sagt: „Über ein paar Momente aus unserer Vergangenheit.“ Der Philosoph fragt ihn, ob das nicht geeignete Themen für einen Antwortbrief seien, aber Gerdotesa sagt: „Ich bin in diesen Dingen kein Mann vieler Worte.“ Einen Moment überlegt er, dann sagt er: „Du hast aber Recht, sie soll eine Antwort erhalten.“ Gerdotesa geht daraufhin mit seiner Sichel auf den Turm zu und pflückt von den Kletterranken drei Vanilleschoten ab. Mit einem schiefen Lächeln sagt er dem Philosophen, es sei ein Gruß vom Turm der Helden. Der Philosoph nickt und macht sich auf den Weg zurück nach Rhomoon.
« Letzte Änderung: 12.09.2020 | 23:26 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #22 am: 12.09.2020 | 23:29 »
Noch ein Tag später stehen der zweite Advokat und Mujeeb Gashkari im Theater des Saemauug Empyreus und reservieren für eine bevorstehende Aufführung zwei Plätze „für eine Dame aus der Seide samt Begleitung“. Der Preis reißt ein Loch in die Kasse der beiden und der zweite Advokat blickt Mujeeb Gashkari fragend an. „Nun“, sagt dieser, „wenn du meinst, dass es nötig ist, dann zahlen wir eben.“ Im Anschluss daran betreibt der zweite Advokat unter den anderen Personen, die sich um Platzreservierungen bemühen, etwas Werbung und kann nach einigen Versuchen einen der Anwesenden dazu überreden, Mujeeb Gashkaris Orakel zu befragen. Die in Zuckerwasser ertränkten Bienen werden am Flussufer verspeist, wo Mujeebs Kunde auch die üblichen vier Holzplättchen aus dem qualmenden Schlund des Schicksals zieht. Im Anschluss daran betrachtet der Wahrsager besonders ein Plättchen, in das eine verkorkte Amphore eingraviert wurde. Mit lahmer Zunge bricht er hervor: „Durch das Streben nach Reinheit erlangen wir Kraft.“ Mujeebs Kunde sieht ihn überrascht an und murmelt dann: „Vielleicht lasse ich das dann besser...“. Er bedankt sich bei Mujeeb und dem zweiten Advokaten, zahlt drei Samenkörner und zieht davon.

Die Seide ist für die beiden ungleichen Gestalten für eine Weile Tabu, andere Geschäfte scheinen nicht in Sicht, daher schlägt Mujeeb Gashkari seinem Assistenten vor: „Lass uns die Fähre nehmen und die Flussseite wechseln. Am gegenüber liegenden Ufer liegen ein paar Villen reicher Aristokraten. Vielleicht können wir dort Arbeit finden." Die beiden machen sich auf den Weg zur Fähre.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #23 am: 12.09.2020 | 23:33 »
Kurz nach dem Nachmittagsmonsun treffen der zweite Advokat und Mujeeb Gashkari auf der Fähre mit dem Philosophen zusammen, der sich gerade auf dem Rückweg zum Hause der Villa von Porfirio Empyreus befindet, um dort Saaroni die Antwort Nagur Mulukutlas zukommen zu lassen. Die beiden Minotauren nicken sich freundlich zu, gehen gemeinsam an Land und müssen an der ersten Straßenkreuzung - direkt angrenzend an das Grundstück Porfirio Empyreus´ - eine unangenehme Entdeckung machen. Zwei Männer ziehen hier eine gefesselte Frau hinter sich her und verkünden lauthals, dass es sich bei ihr um ein wolllüstiges Weibstück handele, das sich mit Minotauren eingelassen habe. Um ihren Hals haben die beiden Männer ein Schild gehangen, dass die Aufschrift „MinotauRAUS“ trägt. Die Frau jammert und klagt, kann die Männer aber nicht erweichen. Zu seinem Entsetzen erkennt der Philosoph, dass es sich bei ihr um Gouliza handelt, eine seiner Kundinnen. Er entschließt sich, hier einzuschreiten. So kommt es, dass er die Männer zur Rede stellt. Die Männer erzählen lautstark, sodass es alle Anwohner mithören können, dass die Frau sich mit einem Minotauren in Pannashoo eingelassen habe. Sie seien auf dem Weg zum Marktplatz von Rhomoon, wo sie sie ein paar Stunden an den Pranger stellen wollen. Hinterher werde sie vielleicht anders über solche Verbindungen denken! Eine Weile lang versuchen der Philosoph und der zweite Advokat die Männer durch Argumente zur Vernunft zu bringen. Die Vorhaben scheint aber zum Scheitern verurteilt zu sein. Außerdem erscheinen einige Menschen in den Vorgärten und an den Fenstern der Nachbarhäuser und beobachten die Szene neugierig. Einige von ihnen werden sicherlich eine ähnliche Meinung wie die beiden Ekel über Verbindungen zwischen Minotauren und Menschenfrauen haben, denkt sich der Philosoph, der den Ernst der Lage damit schnell erfasst hat.

Dann aber treten zwei Minotauren vom Grundstück des Porfirio Empyreus an dessen Gartenmauer heran und schauen sich die Szene ebenfalls an. Einer von ihnen verströmt einen unangenehmen Geruch, weil er gerade dabei war, die Sickergrube des Anwesens auszuleeren. Der andere hingegen riecht angenehm nach Eukalyptusöl. Der zweite Soldat denkt einen Moment nach und beginnt dann in einer Lautstärke, die die eines brüllenden Bullens gleichkommt, seinen Unmut zu verkünden: „Wisst ihr nicht, dass es die Ohren unseren Herrn Porfirio Empyreus beleidigt, wenn ihr auf der Straße so einen entsetzlichen Lärm veranstaltet? Wenn ihr ein Anliegen habt, dann meldet euch bei ihm an, aber macht nicht so ein Geschrei! Es könnte sonst sein, dass euch der Zorn Porfirio Empyreus´ trifft und das hat noch niemandem geschmeckt! Ihr habt daher jetzt mehrere Möglichkeiten. Entweder tretet ihr kleinmütig den Rückzug an und macht einen großen Bogen um das Gut des Porfirio Empyreus oder...“ Noch eine ganze Weile länger brüllt der zweite Soldat die beiden Männer an, wodurch er irgendwann die Aufmerksamkeit seines Herrn erregt hat. Porfirios erscheint unrasiert und in einem schnell umgewickelten Tuch am Eingang seines Grundstücks. Seine Augen zeugen noch deutlich vom Schneckengenuss am gestrigen Abend. Der Lärm auf der Straße hat ihm einen gequälten Gesichtsausdruck verliehen. Verständnislos betrachtet er eine Weile lang die beiden Männer und die gefesselte Frau. Dann sagt er zu ihnen: „Wenn ihr etwas gegen Minotauren habt, warum schleppt ihr dann die Frau durch die Straßen? Ihr müsst es ihrem Geliebten zeigen, ihr Feiglinge!“ Dann wendet er sich dem ersten und dem zweiten Soldaten zu und  befiehlt: „Gärtner, Masseur! Führt die Frau ins Esszimmer und gebt ihr einen grünen Tee. Das Elend kann man ja nicht mit ansehen!“ Und wieder an die beiden Männer gewandt beschließt er seine Rede: „Schert euch fort, ihr Störenfriede! Sonst bekommt ihr es mit meinen Minotauren zu tun! Und glaubt mir: Ich habe mehr als einen!“ Langsam ziehen sich die Männer zurück und rufen den versammelten Minotauren zu: „Wir haben uns nicht zum letzten Mal gesehen! Nehmt euch in Acht!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #24 am: 12.09.2020 | 23:35 »
Kurz vor Geschäftsschluss stehen vier namenlose Minotauren in Kostalush in der Apotheke Ferus. Während sie darauf warten, Heilmittel zu erwerben unterhalten sie sich leise über einen denkwürdigen Vorfall, der sich am Nachmittag in Rhomoon ereignet hat.

Der Assistent des Fassbinders: „Die Kerle wollten das Mädchen an den Pranger stellen, weil sie sich mit einem Minotauren eingelassen hat!“

Der Söldner mit dem geschienten Arm: „Und dann? Ich habe gehört, dass Mädchen sei irgendwie mit heiler Haut davongekommen.“

Der Ableger vom Markt in Kantairon: „So leicht kommt niemand davon!“

Der alte Feuerschlucker: „Die Kerle wurden von ein paar Rindern gestört.“

Der Söldner mit dem geschienten Arm: „Von Rindern? Was denn für Rinder?“

Der alte Feuerschlucker: „Zwei kamen von der Fähre, die beiden anderen gehören zu einem reichen Empyreus.“

Der Assistent des Fassbinders: „Letztlich hat das eine Rind seinen Herrn herbeigebrüllt. Das halbe Viertel hat es gehört.“

Der Söldner mit dem geschienten Arm: „Ohje! Was für ein Lärm!“

Der alte Feuerschlucker: „Es heißt, er habe immerhin gut gerochen. Der andere hingegen soll gestunken haben.“

Der Ableger vom Markt in Kantairon: „Hatten die beiden einen Name?“

Der Assistent des Fassbinders: „Ich glaube nicht. Sie hätten aber auch kaum die Gelegenheit gefunden, sich einzumischen, wenn die beiden von der Fähre die Kerle nicht aufgehalten hätten.“

Der Söldner mit dem geschienten Arm: „Was waren das für welche?“

Der Ableger vom Markt in Kantairon: „Obdachlose, heißt es.“

Der alte Feuerschlucker: „Einer soll sich mit Botendiensten durchschlagen.“

Der Assistent des Fassbinders: „Da weiß er natürlich ganz gut, was in den Menschen vorgeht!“

Der Söldner mit dem geschienten Arm: „So etwas kann eben keiner allein regeln.“

Der alte Feuerschlucker: „Nein, aber es braucht auch einen, der anfängt!“

Der Assistent des Fassbinders: „Einen, wie den Boten!“

Der alte Feuerschlucker und der Söldner mit dem geschienten Arm nicken. Ein paar Menschen in der Nähe werfen den Minotauren misstrauische Blicke zu. Eine Weile gehen die vier Minotauren ihren Gedanken nach. Schließlich flüstert der Ableger vom Markt von Kantairon.

Der Ableger vom Markt von Kantairon: „So leicht kommt niemand davon!“
« Letzte Änderung: 12.09.2020 | 23:37 von Chiarina »
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