In der Morgendämmerung von Dégringolade steht ein namenloser Minotaur mit dominantem Blättermagen vor der „Seide“, einem Luxusbordell im Stadtteil Rhomoon. Er durchschreitet unsicher das Eingangstor, läuft durch den Vorgarten und klopft schließlich an die Haustür. „Komm ´rein!“, fordert ihn eine Stimme auf. Der Minotaur – nennen wir ihn den ersten Advokaten – tritt zögerlich ein. Ein anderer Minotaur kommt auf ihn zu legt ihm die Hand auf die Schulter: „Unsere neue Wache! Sei gegrüßt, Bruder!“
Vor ein paar Tagen ist es dem ersten Advokaten gelungen, in der „Seide“ eine Anstellung zu finden. Er hatte in der vergangenen Saison seine Samenkörner durch eine sehr anstrengende Anstellung als Erntehelfer verdient. Nie wieder, hatte er sich geschworen. Als Bordellwache rechnet er damit, hin und wieder Stänkerer oder Kunden, die Probleme machen, hinausschmeißen zu müssen. Sicherlich wird man ihn auch für alle möglichen Handlangerdienste einsetzen. Insgesamt wird es aber wohl kaum so schlimm werden, wie auf dem Feld bei der Ernte. Die Arbeit wird möglicherweise auch abwechslungsreicher sein und bringt ihm sogar ein kleines, eigenes Zimmer. Beim Einstellungsgespräch lernte der erste Advokat zwei Personen kennen. Das Gespräch führte Ashtavede, der Bordellier. „Ein Minotaur mit Namen“, dachte der erste Advokat, musste aber neidlos anerkennen, dass es sich um ein prächtiges Exemplar seiner Gattung handelt: Ashtavede besitzt eindrucksvolle Hörner, mehrere Tätowierungen und raucht sogar im Beisein seines Chefs grüne, handgerollte, glimmende Zigarren. Dieser Chef war der andere, den der erste Advokat bei seinem Einstellungsgespräch kennenlernte: Haygaram Ooryphas, der Besitzer des Etablissements. Der Mann hielt sich im Hintergrund, sein Nicken entschied aber schließlich über die Anstellung des ersten Advokaten.
Nun wird der erste Advokat an seinem ersten Arbeitstag vom Bordellier begrüßt. Nie würde es ihm einfallen, den Minotauren als „Bruder“ zu bezeichnen. So antwortet er: „Ashtavede, ich bin erfreut, dich zu sehen!“
Ashtavede zeigt dem ersten Advokaten das Haus. Er führt ihn in den offenen Innenhof, der mit Kieswegen ausgelegt ist. Bequeme Kissenlager, seidene Paravents, ein paar Insektenfangnetze und drei kleine Teiche dominieren den angenehmen Raum. Danach lernt der erste Advokat den Empfangsbereich kennen und wirft einen Blick in die Werkstätten, Vorratsräume, den Küchenbereich und den Speisesaal. Er bekommt gezeigt, wo sich die Räume der Damen befinden, wo das Privatgebäude des Besitzers und das kleine Haus der Minotaurendiener stehen. Schließlich bekommt er ein kleines Zimmer zugewiesen, in dem er seinen Leinensack abstellt. Dann sagt Ashtavede: „Komm jetzt, Ooryphas wartet auf dich!“
Die beiden Minotauren kehren in den Innenhof zurück. In einer der Sitzgelegenheiten lümmelt sich der Eigentümer des Bordells. Er sagt zum ersten Advokaten: „In den Teichen schwimmen Nachtfische. Hole die toten heraus und wirf sie auf den Müll. Achte darauf, dass du keinen übersiehst!“ Ashtavede zieht sich etwas zurück und beobachtet vom Rand des Innenhofes die erste Arbeit seines neuen Mitarbeiters. Der erste Advokat schaut in einen der Teiche. Im zunehmenden Tageslicht ist gerade noch zu erkennen, dass die Fische schwach leuchten. „Bei Nacht ergibt das sicherlich ein eindrucksvolles Bild“, denkt der erste Advokat. Dann aber sieht er, dass ein paar der Fische nicht mehr leuchten. Der erste Advokat nimmt einen von ihnen heraus und schaut genau hin. Woran ist der Fisch gestorben? Ooryphas schaut seinem neuen Angestellten amüsiert zu und sagt: „Sie gehören eigentlich in den Fluss. Wir müssen sie regelmäßig austauschen. Jetzt fang an, an die Arbeit! Gibt Acht, dass kein toter Fisch mehr im Wasser schwimmt. Tote Fische sind widerlich. Wenn du einen übersiehst, frisst du ihn!“
Der erste Advokat müht sich redlich. Er holt sich einen der Insektenkescher, steigt sogar in die Teiche und holt alle toten Nachtfische heraus, die er fangen kann. Zwischen den leuchtenden Überlebenden sind sie allerdings ziemlich unscheinbar. Am Ende hat der erste Advokat das Gefühl, alles gegeben zu haben, ob er aber alle toten Fische erwischt hat, weiß er nicht genau.
Haygaram Ooryphas erhebt sich ächzend aus seinem Kissenlager. Er geht zu einem der Teiche, schaut kurz hinein und nimmt einen Fisch heraus. Für einen Moment scheint es dem ersten Advokaten, als habe er das Tier in seinen Händen zerquetscht. „Hier“, ruft Ooryphas, „du hast einen übersehen! Ich habe dich gewarnt! Los, runter mit ihm! Friss ihn!“ Der erste Advokat wirft Ashtavede einen erschrockenen Blick zu. Der Bordellier schaut ihn verlegen an und zuckt mit der Schulter. Da nimmt der erste Advokat den Fisch, schließt die Augen und schluckt einen Großteil des toten Fisches. Es fühlt sich an, als werde der Fisch in seinem Blättermagen zu einem schweren Stein. Ooryphas lacht und sagt: „Weiter so, Wächter. Fürs erste hältst du dich an Ashtavede!“ Noch immer gackernd verlässt Ooryphas den Innenhof.
„Warum hat er das gemacht?“, fragt der erste Advokat Ashtavede. Der antwortet: „Er ist eben so. Das sagt er sogar von sich selbst. Es macht ihm Spaß, seine Angestellten ein wenig zu schikanieren. Andere verstellen sich, ich verstelle mich nie, behauptet er von sich selbst. Vielleicht ist das wirklich ein Vorteil. Du siehst sofort, dass er ein Widerling ist. Sei aber nicht zu besorgt. Du wirst relativ selten mit ihm zu tun bekommen, denn in der Regel bin ich für dich zuständig. Geh jetzt in die Wäscherei. Da gibt es Arbeit für dich.“ Der erste Advokat nickt und geht.