Autor Thema: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus  (Gelesen 7530 mal)

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Offline Chiarina

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #125 am: 21.04.2021 | 02:05 »
Im Dschungel verlassen Lokapriya, der Philosoph, und der Anführer mit ihren beiden soeben entdeckten Holzkistchen den sumpfigen See und begeben sich zu ihren Gefährten ans trockene Ufer. „Es sind außergewöhnliche Umstände, die uns zusammenführen!“, meint der zweite Soldat und fragt den Anführer und Lokapriya: „Was führt euch in den Dschungel?“ Der Anführer berichtet von seinem Versuch, die drei Holzsammler vor dem Tod im Amphitheater zu bewahren. Er erzählt von seiner Gefangenschaft, seinem Ausbruch und dem Ruf des Dschungels, der ihn und seine drei Schützlinge schließlich ereilte. Lokapriya behauptet, er sei auf einer spirituellen Reise. Noch einmal vergewissern sich die Minotauren der Informationen der Stillen Stimme, noch einmal bekräftigen sie, dass sie während einer Versammlung im ewigen Fluss keinen Menschen ermorden wollen – schon gar nicht für eine so zweifelhafte Kraft wie die Stille Stimme. Lokapriya sagt: „Die Helle Stimme haben wir ja soeben erleben dürfen. Sie sieht für mich nicht nach einer guten Alternative aus. Es fehlt noch eine letzte. Vielleicht könnte es auch vorteilhaft sein, wenn wir die drei Stimmen zusammenführen könnten. Ich bin jedenfalls im Dschungel, um mehr über diese übernatürlichen Wesenheiten herauszufinden.“ Der zweite Soldat nickt: „Im Moment würde ich mich am liebsten aus allem heraushalten. Wie soll ein Minotaur in diesem Durcheinander Stellung beziehen?“ Lokapriya meint: „Das müssen wir vielleicht schneller, als uns lieb ist. Früher oder später werden wir wahrscheinlich Entscheidungen treffen müssen und es ist gut, wenn wir bis dahin noch etwas mehr erfahren.“

„Und ihr?“, fragt der Anführer die beiden Soldaten. „Was führt euch in den Dschungel?“ Der erste Soldat antwortet: „Wir suchen den Belugha-See. Dort sollen Leopardenlibellen leben, die Porfirio Empyreus, unser Herr, als Heilmittel benötigt.“ „Es ist zumindest ein konkretes Vorhaben!“, meint der erste Soldat. „Einem Orakelspruch nach folgen wir dabei dem Wind. Wollt ihr ein Stück mitkommen?“ Nach kurzem Überlegen stimmen die anderen Anwesenden zu und machen sich auf den Weg. Die sieben Minotauren befeuchten immer wieder ihre Zeigefinger und halten sie in die Luft. Entschlossen geht der zweite Soldat voran.

Nach einer Weile gelangen sie in einen Teil des Dschungels, in dem sie immer häufiger Kletten von ihren Kleidern und ihrem Fell abpflücken müssen. Es wird so schlimm, dass sie sich nur mühsam ihren Weg durch die Klebepflanzen bahnen können. Der erste Soldat spricht aus, was die anderen denken: „Lasst uns umkehren. Wir können immer noch dem Wind folgen, wenn wir erst einen großen Bogen um dieses Gebiet gemacht haben. Auf diesem Weg werden wir jedenfalls nicht mehr lange weitermachen können.“ Seine Gefährten stimmen zu und kehren um.

Nachdem die Minotauren den Bereich mit den Klettenpflanzen verlassen haben, erwartet sie eine weitere seltsame Begegnung. Durch die Bäume erblickt der zweite Soldat eine Pflanze, die in ihren Umrissen einem großen Hirsch ähnelt und deren Fell wie Kiefernnadeln aussieht. Sie hält ihren Kopf gesenkt, sodass sich ihr Geweih in den Dschungelboden zu bohren scheint. Der zweite Soldat schaut genauer hin. Im Bauchfell dieses Pflanzenhirsches befindet sich ein großes, merkwürdiges, purpurnes Samenkorn mit schwarzen Punkten. Ganz in seiner Nähe liegen bemalte Koksnusshälften. „Ein Grab?“, murmelt er. „Bohrt dieses Wesen seine Äste in ein Grab?“ Schon kurz darauf aber beginnt sich die Pflanze zu regen. Sie zieht ihre Zweige aus dem Boden und nähert sich mit gesenktem Kopf den Minotauren. Zunehmend nimmt sie Fahrt auf und schon bald wird dem zweiten Soldaten bewusst, dass dieses Wesen in Kürze versuchen wird, ihm sein Geweih in den Bauch zu rammen. Er schreit auf und seine Gefährten kommen ihm zu Hilfe. Der Anführer und einer der Holzsammler werfen sich seitlich gegen die Kreatur, die erzittert und umkippt. Fast wie bei einer Explosion fegen ein Haufen Kiefernnadeln durch die Luft. Dann ist es plötzlich ganz still. Nachdenklich hebt der zweite Soldat das auf dem Boden liegende Samenkorn auf und schaut es an. Auf diese Begegnung kann sich niemand einen Reim machen.

Lokapriya zieht sein Kästchen aus der Tasche, öffnet es und entnimmt ihm die kleine Amphore. Entschlossen entkorkt er sie. Alle schauen zu, wie sich eine kleine, graue Wolke bildet, die wie ein Miniaturwirbelsturm um sich selbst zu kreisen scheint. Lokapriya spricht: „Sei gegrüßt, Synesia Empyreus! Kannst du uns erzählen, wer hier begraben liegt, was dieses Wesen hier wollte und was es mit diesem Samenkorn auf sich hat?“ Der Wirbelsturm fährt über die alte Grabstätte hinweg, dreht sich ein paarmal in der Luft und spricht dann: „Hier ist seit langer Zeit ein Bote begraben. Er war im Auftrag seines Herrn, eines Geschichtenerzählers, auf dem Weg zu einem Dschungelbewohner, den er unter dem Namen Mamsir kannte und dem er eine Papyrusrolle bringen sollte, auf der der Geschichtenerzähler eines seiner Werke festgehalten hatte. Leider ist dieses Papyrus schon längst im Boden des Dschungels aufgegangen. Diese Pflanze, der ihr begegnet seid, ernährt sich, indem sie die Persönlichkeit von Toten in diesem Samenkorn speichert, das ihr gefunden habt. Ich nehme an, es befindet sich die Essenz des Botens in ihm. In Dégringolade galten solche Samenkörner zu meiner Zeit als Spezialität. Vielleicht ist es immer noch so. Wer das Samenkorn verzehrt, hat eine Weile die Persönlichkeit des Toten bei sich zu Gast… zumindest bis zum nächsten Verdauungsvorgang.“ „Dank sei dir, Synesia!“, sagt Lokapriya, worauf die graue Wolke sich immer schneller dreht und schließlich in allen Himmelsrichtungen auseinanderfliegt.

„Was machen wir damit?“, fragt der zweite Soldat und deutet auf das Samenkorn. „Lasst es uns über dem Grab einpflanzen!“, schlägt Lokapriya vor. „Immerhin enthält es die Persönlichkeit eines Verstorbenen, der es verdient hat, in Ruhe gelassen zu werden.“ Die anderen Minotauren sind einverstanden und versenken das Samenkorn in der Erde des alten Grabes. Dann ziehen sie weiter, immer dem Wind nach.
« Letzte Änderung: 21.04.2021 | 07:03 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #126 am: 21.04.2021 | 02:07 »
Mujeeb Gashkari und der zweite Advokat sind auf ihrer Tour wieder zurück zum Vadhm gelangt. Am Ufer des ewigen Flusses stehen Bäume in voller Blüte, in denen die Vögel singen. Unter ihnen bietet sich den Fahrenden eine idyllische Szenerie. Ein wohlhabender Mann sitzt dort auf einem Teppich und lässt sich von zwei Sklavinnen mit Weintrauben füttern. In der Nähe befinden sich drei Leibwächter, einer davon ein Minotaur. Schon will der zweite Advokat mit dem Minotauren ein unverfängliches Gespräch beginnen, da erkennt er den Herren: es ist Kanta Planudes, der sich in der Seide schon öfter abfällig über „den Bienenfresser“ Mujeeb geäußert haben soll. Mutig ergreift der zweite Advokat die Gelegenheit und geht auf den Mann zu. Kanta Planudes lässt sich auf ein kurzes Gespräch ein und fegt mit ein paar Handbewegungen jegliche Kritik zur Seite. Mujeeb will er nie beleidigt haben, was gehe ihn überhaupt sein Geschwätz von gestern an, und dieses Verzehren von Bienen sei ja wohl auch reichlich seltsam! Der zweite Advokat erklärt geduldig, dass die Bienen Teil eines Rituals seien. Mujeeb Gashkari versetze sich dadurch in die richtige Stimmung, seinen Kunden hilfreiche Orakelsprüche zu verkünden. Kanta Planudes ist milde interessiert. Irgendwann verlangt er aus reiner Neugier, Mujeeb solle auch ihm einen Orakelspruch präsentieren. Ehrfürchtig nähert sich der Orakelmann dem hohen Herren. Der zweite Advokat reicht Mujeeb und Kanta Planudes Becher mit Zuckerwasser, Essstäbchen und die Büchse mit den Bienen. Leicht angewidert tut es Kanta Planudes dem Orakelmann gleich, ertränkt eine Biene im Zuckerwasser und zerkaut sie. Er zieht vier Holzplättchen, die Mujeeb lange betrachtet bevor er verkündet: „Die Umwelt wird euch euren Taten nach beurteilen!“

Kanta Planudes ist nicht allzu beeindruckt, aber er überlegt eine Weile und sagt dann: „Hört mal, ihr beiden… würdet ihr auch einen Auftrag für mich ausführen?“ Der zweite Advokat will wissen, worum es geht und so erzählt Kanta Planudes: „Wie ihr wisst, besitze ich einen Olivenhain. Es ist der einzige Olivenhain in ganz Dégringolade! Das liegt daran, dass es nicht einfach ist, hier Oliven anzubauen. Oliven lieben Trockenheit… und nun schaut euch unsere Nachmittagsmonsune an! Eine absolute Katastrophe! Der einzige Grund, warum mein Olivenhain überhaupt Früchte trägt, liegt darin, dass er auf einem Hügel liegt. Wenn es dort regnet, fließt das Wasser schnell ab. Wäre es nicht schön, wenn es noch etwas mehr Oliven in Dégringolade gäbe?“ Erwartungsvoll schaut Kanta Planudes Mujeeb Gashkari und den zweiten Advokaten an. Der Orakelmann und der Minotaur nicken eifrig. Kanta Planudes erzählt weiter: „Wie es der Zufall will, liegt unweit meines Olivenhains ein weiterer Hügel. Er gehört Messenio Burcanus, der dort ganz gewöhnlichen Kaffee anbaut. Ein paarmal habe ich mit Messenio schon darüber verhandelt, den Hügel zu kaufen. Ich würde dort gern einen weiteren Olivenhain pflanzen. Messenio will aber nicht verkaufen und zeigt sich störrisch. Wenn er nun aber durch einen besonders dramatischen und beeindruckenden Orakelspruch eine desaströse Vorhersage für seine Kaffeepflanzen und die Zukunft seines Geschäfts zu hören bekäme, dann gäbe er seinen Kaffeeanbau vielleicht auf… Könntet ihr nicht vielleicht so eine Voraussage treffen?“

Der zweite Advokat zeigt sich zurückhaltend.: „Herr, das Orakel wird sich kaum geschäftlichen Interessen beugen… aber wir werden Messenio Burcanus einen Besuch abstatten. Vielleicht lässt er sich auf einen Orakelspruch ein. Vielleicht lässt sich der Orakelspruch auch in eurem Interesse interpretieren. Vielleicht ist Messenio Burcanus auch irgendwelchen anderen Vernunftgründen gegenüber aufgeschlossen.“ Kanta Planudes scheint aber bereits ermüdet zu sein. Das von ihm eingefädelte kleine Schmierentheater hat bereits seine volle Konzentration erfordert. Jetzt will er einfach noch ein paar Weintrauben essen. Er sagt: „Seht zu, was ihr erreichen könnt. Hinterher erzählt ihr mir, was dabei herausgekommen ist! Lasst mich nicht zu lange warten!“ Mit ein paar Verbeugungen entfernen sich Mujeeb Gashkari und der zweite Advokat von Kanta Planudes.

Ein paar Stunden später stehen sie vor einem großen Haus am Rande Rhomoons, direkt neben einer hügligen Kaffeeplantage. Der zweite Advokat nähert sich dem Eingangstor zum Grundstück und wird von einer der beiden dort befindlichen Minotaurenwachen angesprochen. Der zweite Advokat fängt mit ein paar unverfänglichen Erkundigungen über die Kaffeepflanzung an und fragt irgendwann nach dem Besitzer des Anwesens. Die Wachen nennen ihm Messenio Burcanus´ Namen, reagieren ansonsten aber zurückhaltend. Dann zeigt der zweite Advokat auf Mujeeb Gashkari und erklärt, dass dieser in der Lage sei, durch ein Orakel Aussagen über die Zukunft zu machen. Die Wachen sind etwas interessierter. Schließlich fragt er, ob es möglicherweise im Hause ein Interesse an derlei interessanten und vergnüglichen Orakelsprüchen geben könnte. Die beiden Minotaurenwachen schauen sich an. Schließlich sagt eine von ihnen: „Das ist ein Fall für den Verwalter. Wartet einen Moment!“ Eine Weile steht der zweite Advokat mit Mujeeb Gashkari unverrichteter Dinge an der Straße. Dann aber kommt die Wache zurück und berichtet: „Hört zu, ihr beiden! Übermorgen gibt der Herr eine Gesellschaft. Der Verwalter ist einverstanden, wenn ihr zu diesem Zeitpunkt erscheint und eure Dienste als Abendunterhaltung anbietet. Ihr erhaltet dafür drei Samenkörner. Vielleicht steckt euch der ein oder andere Gast auch noch etwas zusätzlich zu.“ Der zweite Advokat ist erfreut und sagt: „Die Orakelsprüche lassen sich umso präziser deuten, je mehr wir wissen! Könnt ihr uns nicht noch ein paar Details über den Herrn Burcanus berichten?“ Zuerst zieren sich die beiden Wachen ein wenig, dann aber beginnen sie zu erzählen. Im Großen und Ganzen scheint Messenio Burcanus ein typischer Vertreter seines Standes zu sein: Er liebt den Luxus seines Wohlstandes, ist zumindest zu schwacher Selbstironie fähig, trifft manchmal willkürliche Entscheidungen, zeigt sich seinen Bediensteten gegenüber nur hin und wieder unnötig grausam und liebt seine Kinder. Irgendwann sind die Wachen ein wenig in Fahrt geraten und verraten dem zweiten Advokaten und Mujeeb Gashkari noch ein kleines Geheimnis: „Dreimal ist Messenio Burcanus schon in seinem Zimmer dabei beobachtet worden, wie er vor einem Spiegel in der Uniform eines Generals aus dem Immerkrieg posierte. Auch wenn die Rede auf die Schlachten im Dschungel kommt, hört er stets mit leuchtenden Augen zu. Es sieht so aus, als träume er davon, selbst ein berühmter Feldherr zu sein.“ Der zweite Advokat zeigt sich erfreut, bedankt sich für das Gespräch und verabschiedet sich. „Das war doch recht aufschlussreich“, raunt er Mujeeb zu. Der Orakelmann nickt.
« Letzte Änderung: 21.04.2021 | 07:09 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #127 am: 21.04.2021 | 02:11 »
Saibhang, der erste Advokat, steht am späten Nachmittag am Eingang der Seide und begrüßt die ersten Gäste, dann aber auch den Fischer, der von seinem Karren ein paar Bottiche mit Nachtfischen ablädt. „Hilfst du mir?“, fragt der Mann. „Diese Dinger sind ziemlich schwer!“ Saibhang schafft gemeinsam mit dem Fischer die Bottiche in den Innenhof und beginnt, die Fische in die Becken umzusetzen. Dabei erkundigt sich der Fischer: „Was ist eigentlich mit dem Rind, das hier in der Nähe fischt? Hat das nicht bisher hier in der Seide die Nachtfische geliefert?“ Saibhang nickt und sagt: „Der Minotaur hat sich hier schon länger nicht mehr blicken lassen. Ich weiß nicht, wo er steckt.“ „Kann ich also davon ausgehen, dass ich in Zukunft der Lieferant der Nachtfische bin? Du musst wissen, dass ich ein paar Sicherheiten brauche… meine Familie… verstehst du?“ Saibhang nickt: „Ja, solange du zuverlässig lieferst hast du den Job.“

Wenig später ertönt ein paar Zimmer weiter ein Entsetzensschrei. Ein Freier läuft davon und verlässt panikartig die Seide. Saibhang sieht nach dem Rechten und stellt fest, dass sich im Zimmer von Halifa irgendetwas Sonderbares ereignet hat. Vorsichtig zieht er den Makramee-Vorhang zur Seite und blickt in einen völlig verqualmten Raum. Halifa windet sich auf dem Boden und kämpft hustend gegen eine Rauchvergiftung an. Saibhang hat den Eindruck, dass der Qualm merkwürdigerweise die Form eines großen, aufgeblähten Menschen angenommen hat. Schnell eilt er in den Raum und zieht Halifa nach draußen auf den Gang, wobei er selbst zu husten beginnt. Der Qualm ist wirklich sehr dicht. Als er Halifa endlich im Gang vor ihrer Tür ablegen kann, schaut Masumi aus dem Nachbarraum und sagt: „Du kannst sie eine Weile bei mir aufs Bett legen. Ich habe noch keine Gäste.“ Saibhang zieht die röchelnde Halifa in Masumis Zimmer, legt sie dort aufs Bett und gibt ihr etwas zu trinken. Langsam erholt sich die Frau wieder. Dann berichtet sie: „Ich habe Räucherstäbchen angezündet, aber irgendetwas hat nicht gestimmt.“

Saibhang eilt zurück in Halifas Zimmer und bahnt sich einen Weg durch den Qualm. Mit halb zugekniffenen und tränenden Augen erkennt er drei glühende Räucherstäbchen, die Halifa wie üblich in eine mit Erde gefüllte Schale gesteckt hat. Saibhang zieht die Räucherstäbchen aus der Erde, steckt sie kopfüber wieder hinein und löscht so ihre Glut. Dann eilt er hustend nach draußen in den Gang und geht zu Haygaram Ooryphas, der gerade vor einem großen Teller Muscheln sitzt und zu Abend isst. Saibhang erzählt ihm von seinem Erlebnis in Halifas Zimmer und der Besitzer des Etablissements runzelt mit der Stirn: „Kommt mein Haus denn gar nicht mehr zur Ruhe? Eine Katastrophe jagt die andere! Wenn das Mädchen außer Gefahr ist, dann schau nach, wie das passieren konnte! Hinterher will ich genau wissen, was du herausgefunden hast. Geh jetzt, ich esse!“ Saibhang verbeugt sich und verschwindet.

Nach einer Weile ist es möglich, sich in Halifas Zimmer genauer umzusehen. Saibhang schaut sich die Räucherstäbchen an. Eines scheint sich auf irgendeine Weise von den anderen zu unterscheiden. Saibhang zieht die Stäbchen aus der Schale mit Erde heraus und sieht genau hin. Da fällt ihm auf, dass das gelbe Holzstäbchen, an dem der aromatisierte Bambus befestigt ist, in einem Fall seltsam gemasert ist. Saibhang kratzt ein wenig am Holz und stellt fest, dass sich unter dem Gelb noch eine grüne Farbschicht befindet. Saibhang kratzt am Holz der anderen Stäbchen. Dort befindet sich unter dem Gelb keine weitere Farbschicht mehr. Jetzt schnuppert Saibhang an den Stäbchen und stellt fest, dass das doppelt gestrichene Stäbchen auch einen etwas anderen Geruch ausströmt.

Saibhang geht nach nebenan in Masumis Zimmer und zeigt Halifa seine Entdeckung. Halifa macht große Augen und sagt: „Die gelben Stäbchen duften nach Loban. Sie locken die Ahnen an, die es sich in der Erde oder im Holz bequem gemacht haben. Meistens handelt es sich dabei um die Geister liebevoller Vorfahren, die den Raum mit segensreichem Frieden erfüllen. Die grünen Stäbchen duften nach Bergamotte. Eigentlich wirken sie belebend, aber was geschieht, wenn sie mit Loban-Duft gemeinsam verbrannt werden, weiß ich nicht.“ Saibhang überlegt und sagt dann: „Es sieht fast so aus, als hätte euch jemand ein grünes Stäbchen als gelbes unterjubeln wollen. Vielleicht war es jemand, der weiß, was mit herbeigerufenen Ahnen geschieht, die durch Bergamotte in Stimmung gebracht werden. Habt ihr Feinde, Verehrteste? Könnt ihr euch vorstellen, wer so etwas getan haben könnt?“ Halifa gibt dem Minotauren zu verstehen, dass sie bei dieser Anstellung häufig mit Eifersucht und ähnlichen Unannehmlichkeiten zu tun habe. Bei weitem am unangenehmsten war in dieser Hinsicht Kanta Planudes, der ja erst kürzlich hier alle Grenzen der Zurückhaltung überschritten habe. Ob er aber über solche Dinge Bescheid weiß? Weitere Indizien habe sie jedenfalls nicht. Saibhang nickt und verabschiedet sich. Er muss Haygaram Ooryphas erzählen, was geschehen ist, und nachdenken.
« Letzte Änderung: 21.04.2021 | 07:17 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #128 am: 21.04.2021 | 02:16 »
Am späten Nachmittag erreichen sieben Minotauren im Dschungel ihr Ziel. Immer dem Wind nach teilt sich vor ihnen plötzlich das allgegenwärtige Grün des Dschungels und gibt den Blick frei auf einen klaren, stillen See. Ein winziger Luftzug erzeugt ein leichtes Kräuseln auf dem Wasser, das in der tief stehenden Sonne zu funkeln scheint. Lokapriya, der Philosoph, die drei Holzsammler und der erste Soldat kümmern sich um den Bau eines kleinen Lagers, in dem die Wanderer übernachten können. Der Anführer will mit dem zweiten Soldaten eine kleine Erkundungstour ans Wasser unternehmen.

Am Ufer schauen sich die beiden Minotauren nach Leopardenlibellen um und entdecken größere Insektenschwärme, die fast unbeweglich mitten auf dem See über dem Wasser stehen. „Sieht aus, als bräuchten wir ein Floß“, meint der zweite Soldat, aber noch ehe der Anführer nicken kann, macht er eine Entdeckung. Im schattigen Seeufer sind Bewegungen zu erkennen. Große, dunkle Gestalten schwimmen dort hin und her, von denen Lichtstrahlen ausgehen, die sich manchmal für den Bruchteil einer Sekunde zu aggressiv grellen Blitzentladungen bündeln. „Das sieht bedrohlich aus“, sagt der Anführer und schon steigen die ersten dieser Kreaturen aus dem Wasser. Sie sehen aus wie große, menschenähnliche Hunde, die zum Gang auf den Hinterbeinen in der Lage sind. Von ihren Stirnen aus strahlt das bereits im Wasser aktive Licht. Eine der Kreaturen schaut sich nach dem zweiten Soldaten um, der ins Gebüsch springt, aber doch noch von einer Blitzentladung gestreift wird. Anführer und zweiter Soldat fliehen und versuchen ihre Gefährten am entstehenden Lager zu erreichen. Die hinter ihnen hereilenden Hundemenschen schießen ihnen so viele Lichtblitze hinterher, dass die Fliehenden den Eindruck haben, vor einem Gewitter davonzulaufen.

In der Nähe des Lagers bekommen die Holzsammler relativ früh mit, dass ihre Hilfe benötigt wird. Sie eilen auf die Hundemenschen zu und brüllen laut, worauf die Hundemenschen kehrt machen und flüchten. Der zweite Soldat reibt sich seinen Oberarm, von dem ein verbrannter Geruch ausgeht. Allzu groß ist die Verletzung aber nicht. „Wir sollten Wachen aufstellen und aufpassen!“, sagt der Anführer. Schließlich kommt die Nacht, die aber ereignislos verstreicht.

Am nächsten Morgen beginnen die Minotauren mit dem Bau eines Floßes. Die drei Holzsammler wollen zurückbleiben und auf das Lager aufpassen. Der zweite Anführer überlegt laut, ob die Libellen wohl lebend gefangen werden sollten. Die Holzsammler bauen daraufhin aus einem Stück Stoff und ein paar gebogenen Zweigen eine Art Korb, in dem die Insekten lebendig verstaut werden können. Gegen Mittag staken und rudern der Anführer, die beiden Soldaten und Lokapriya in die Mitte des Sees. Die dort befindlichen Insekten sind tatsächlich gelbschwarze Libellen. Sie sind zwar schnell, andererseits sind es auch wieder so viele, dass die Minotauren immer ein paar erwischt haben, wenn sie mit ihren Keschern aus Bananenblättern nach ihnen schwenken. Den Minotauren läuft in der Mittagshitze der Schweiß, irgendwann aber haben sie den Eindruck, dass sich genug Leopardenlibellen in ihrem Korb befinden.

Gerade wollen sich die Flößer gut gelaunt auf die Rückfahrt machen, da sehen sie erneut eine Bewegung im Wasser. Diesmal sieht es so aus, als hebe sich der gesamte Boden des Sees und käme dem Floß entgegen. Angstvoll starren alle vier Minotauren ins Wasser, da erhebt sich schließlich ein gewaltiger Plattfisch aus dem Wasser, vielleicht zwanzig Schritt durchmessend. Knapp unter der Wasseroberfläche verharrt er im Wasser, nur seine beiden Augen ragen aus den Fluten und schauen das Floß der Minotauren interessiert an.

Lokapriya ist der erste, dem es gelingt, ein paar Worte von sich zu geben. Er fragt: „Wer bist du?“ Daraufhin formt sich in den Hirnen aller Flößer ein und dasselbe Wort: „Belugha“. „Bist du der Hüter dieses Sees?“, fragt Lokapriya. „Ich bin der Vater der Flussdelphine“, glauben die Minotauren in ihren Hirnen zu vernehmen. Offenbar ist das gigantische Fischwesen unter ihrem Floß zu irgendeiner Art von Gedankenübertragung fähig. So entspinnt sich ein interessantes Gespräch.

Lokapriya: „Der Vater der Flussdelphine? Gibt es denn hier im See Flussdelphine?“

Belugha: „Nein. Meine Kinder sind schon seit vielen Jahren ausgerottet. Ihre Städte sind längst verlassen.“

Der Anführer: „Ausgerottet? Aber ich habe in Dégringolade oft gesehen, wie sie sich in den Fluten tummeln.“

Belugha: „Das sind nur meine Träume, die durch die Flüsse hinunter ins Meer schwimmen.“
Die Augenlider des riesigen Plattfisches klappen daraufhin ein paarmal zu und öffnen sich wieder. Dann fließen zwei gewaltige Tränen ins Wasser.

Der Anführer: „Träume? Ich habe gesehen, wie gefangene Flussdelphine durch die Gegend geschleppt wurden. Sie kamen mir sehr real vor.“

Belugha: „Du hast an sie geglaubt! Deshalb besaßen sie für dich auch Realität! Es waren trotzdem nur meine Träume. Viele Männer glauben daran, dass sich ihre Liebesfähigkeit steigert, wenn sie meine Kinder verspeisen. Tatsächlich scheinen sie dann im Bett auch zu großen Taten fähig zu sein. Sie glauben daran. Fragt aber ihre Frauen, dann werdet ihr erkennen, dass auch das nur ein Traum ist.“

Eine Weile lang denken die vier Minotauren über die Worte des Fischriesen nach. Dann stellt Belugha eine Frage. Er will wissen, was die Minotauren an seinen See führt. Der erste Soldat berichtet ihm von den gefangenen Leopardenlibellen, deren Säfte dem kranken Porfirio Empyreus helfen sollen. Belugha rät daraufhin, die Tiere lebend aufzubewahren, da ihre toten Körper schnell austrocknen. Die Minotauren bedanken sich für diese Information.

Nach einer Weile fragt Lokapriya Belugha nach den Stimmen. Belugha weiß, dass es sich um Wesen handelt, die ein besonderes Interesse an Minotauren haben. Hin und wieder lassen sie sich wohl am Rand des Sees blicken, aber Belugha hat nicht viel Kontakt zu ihnen. Lokapriya spricht mit Belugha auch über die Hundemenschen mit dem Licht in der Stirn. Er erfährt, dass sie Gheana heißen. Sie seien von Menschen ursprünglich gezüchtet worden, um Flussdelphine zu fangen. Hinter ihren Ohren befänden sich kleine Kiemen. Wer in ihre Lichtblitze hineinschaue, verliere die Gewalt über seinen Körper und sei gelähmt: eine leichte Beute für die Gheanas. „Es ist schon komisch“, sagt Belugha. „Heute jagen sie nur noch Träumen hinterher. Dabei werden sie dann aber auch denen gefährlich, die sie gezüchtet haben.“

Wieder denken die Minotauren eine Weile über die Worte Belughas nach. Schließlich übernimmt der zweite Soldat das Gespräch.

Zweiter Soldat: „Belugha, hast du Kontrolle über deine Träume?“

Belugha: „Ich träume vor allem von meinen Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit: Von den Mustern, die meine Kinder im Spiel auf ihrer Haut verändern konnten, von unseren alten Liedern, von den Spielen im Wasser, vom Theater. Es sind Dinge, die noch immer mein Herz bewegen. Daher tauchen sie in meinen Träumen auf und verselbständigen sich dann… wie es in Träumen eben so ist.“

Wieder klappt Beluga mit seinen Augenlidern und vergießt zwei große Tränen in das Wasser des Sees. Dann setzt der zweite Soldat das Gespräch fort.

Zweiter Soldat: „Höre, Belugha! Heute Abend findet in Dégringolade, der großen Stadt, eine Versammlung statt. Viele Minotauren werden sich gemeinsam in den ewigen Fluss stellen und ihre Friedfertigkeit und Demut demonstrieren. Es kann trotzdem sein, dass es zu Gewalt kommt, denn nicht alle hegen Sympathie für die Minotauren. Wäre es nicht möglich, dass du in deinen Träumen deine Kinder zur Versammlung den Vadhm herunterschickst? Ihr Anblick könnte möglicherweise für eine verspieltere und entspanntere Stimmung sorgen und Kontrahenten milde stimmen! Vielleicht können sie sogar Gewalt verhindern!“

Belugha: „Ich werde an eure Versammlung denken, bevor ich einschlafe. Vielleicht gelangt deine Bitte in meine Träume.“

Dann verabschieden sich die Minotauren von Belugha, der daraufhin sehr langsam und vorsichtig in die tieferen Bereiche des Sees zurücktaucht. Die Minotauren paddeln zurück ans Ufer.

Nun kommt Bewegung in die Minotauren. Da die Leopardenlibellen gefangen sind, hält sie nichts weiter im Dschungel. Der zweite Soldat sagt: „Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht zum Rinderopfer wieder zurück in der Stadt sein.“ Die anderen nicken und packen ihre wenigen Habseligkeiten ein. Dann beschließen sie, auf dem Floß flussabwärts zu fahren.

Die Fahrt verläuft ohne größere Probleme. An einer Stelle verzweigt sich der Fluss in viele Nebenarme und bildet ein Netz vor Wasserstraßen. Hier werden die Flößer unsicher. Schon bald erblickt Lokapriya aber am Ufer einen goldenen Schimmer. Die Minotauren steuern ihr Floß darauf zu und entdecken erneut die goldene Schildkröte. Sie scheint durch ruckartige Bewegungen mit dem Hals in eine bestimmte Richtung zu deuten. Auf Ansprache hingegen reagiert sie nicht. Das Floß wird in die angegebene Richtung gesteuert, woraufhin am Nachmittag Dégringolade in Sicht kommt.

Auf ihrem Floß passieren die Minotauren das Tor von Bari-Ein. Es ist die größte Pforte im Süden der Stadt und gewährt sowohl dem Fluss als auch einer wichtigen Handelsstraße den Zugang. Einen Moment lang müssen die Minotauren auf penetrante Fragen von Wachen und Zöllnern antworten, dann dürfen sie passieren. Während die Sonne untergeht fahren sie durch das Stadtzentrum und nähern sich der Gemeinde Lehekhesh, wo das Rinderopfer stattfinden soll. Gespannt schauen die Flößer ans Ufer und erkennen hin und wieder ein paar Bekannte. Es scheinen einige Minotauren unterwegs zu sein. Lokapriya ruft: „Schaut mal dort am Nordufer, ist das nicht Saibhang?“ Wenig später deutet der Anführer auf das Südufer und sagt: „Und das ist doch der Bruder, der auf den Orakelmann aufpasst!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #129 am: 21.04.2021 | 02:21 »
Während sich bei Lehekhesh im ewigen Fluss Minotauren versammeln, unterhalten sich am Tor von Bari-Ein die Wachen und Zöllner.

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Wieder ein Tag vergangen. Spannende Dinge scheinen sich an anderen Orten zu ereignen.

Der dümmliche Minotaur mit dem bronzenen Nasenring: Hier ist nie etwas los.

Der alte Minotaur mit der silbernen Mähne: Da war immerhin diese Nussschale mit etlichen Minotauren. Ich möchte wissen, wie die den Weg durch die Stromschnellen gefunden haben.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Der Schneckengärtner von Porfirio Empyreus meinte, ihnen habe eine goldene Schildkröte den Weg gewiesen.

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Seit wann scheren sich goldene Schildkröten um derart abgerissenen Typen? Ich hätte sie um ein Haar nicht passieren lassen!

Der alte Minotaur mit der silbernen Mähne: Sei nicht so grantig, Mann. Sie wollten in die Stadt, nicht hinaus.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Dieser Schneckengärtner hat noch einiges mehr erzählt. Wie was das noch mit diesem Hirsch aus Kiefernnadeln?

Der Zöllner mit den gichtigen Händen: Das war dummes Geschwätz. Wahrscheinlich haben die Rinder einfach ein paar Schnecken geklaut und es sich dann im Dschungel gutgehen lassen! Neulich erst gab es doch auch einen Waldbrand im Dschungel. Haben diese Rinder nicht von irgendeiner Lichterscheinung gesprochen? Vielleicht waren das ja die Brandstifter!

Der alte Minotaur mit der silbernen Mähne: Nanana, das ist doch reine Spekulation!

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Spannende Dinge scheinen sich an anderen Orten zu ereignen.

Die junge Zöllnerin mit den traurigen Augen: In der Seide soll es heute auch wieder Ärger gegeben haben.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: In diesen Reichenvierteln ist doch auch nichts los!

Die junge Zöllnerin mit den traurigen Augen: Doch, ein Freier ist schreiend davongelaufen. Es soll einen Brand gegeben haben. Jedenfalls soll eine ganze Weile lang schwarzer Qualm über dem Haus zu sehen gewesen sein.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Das ist doch auch nichts Neues mehr! Sie haben da außerdem jetzt diesen Saibhang als Bordellier. Der wird sich schon um die Angelegenheit kümmern.

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Die Seide ist glücklicherweise weit weg. Schnüffeln muss ich hier schon genug.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Messenio Burcanus soll demnächst eine Gesellschaft geben. Er hat Mujeeb Gashkari, diesen Orakelmann, zur Unterhaltung engagiert.

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Was für ein Blödmann! Dieser Orakelmann verkündet doch immer dasselbe! Er hat diesen einen Spruch auf Lager, der sich auf alle Situationen anwenden lässt. Der Rest ist billiges Brimborium!

Der alte Minotaur mit der silbernen Mähne: Dass die Orakel schon zur billigen Volksbelustigung verkommen ist jedenfalls kein gutes Zeichen.

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Wer weiß, ob das so lustig ist. Der Bruder, der dem Orakelmann ein wenig Unterstützung liefert, hat jedenfalls nicht nur bei Messenio Burcanus vorgesprochen. Er soll zuvor bei Kanta Planudes gewesen sein!

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Die Villa von Messenio Burcanus ist glücklicherweise weit weg. Mir reicht schon das Schnüffeln hier am Tor von Bari-Ein.

Die junge Zöllnerin mit den traurigen Augen: Was haben die Rinder auf dem Floß in ihrem Korb gehabt? Leopardenlibellen?

Der Minotaur mit den Seepferdchentätowierungen: Ja. Und sie mussten keinen Zoll dafür bezahlen.

Der Zöllner mit den Brotkrümeln im Bart: Zollfrei ist nur Karpfenspeichel! Wenn mir aber ein paar Rinder irgendwelche wüsten Geschichten von geträumten Flussdelphinen erzählt und ich merke, dass sie nicht ganz richtig im Kopf sind, dann fällt es mir schwer ihnen auch noch hohe Zollgebühren abzunehmen. Ich habe verlangt, dass sie eine dieser Leopardenlibellen freilassen… quasi als Zeichen des guten Willens.

Der alte Minotaur mit der silbernen Mähne: Du hast ihnen nichts abgenommen? Das ist ja erstaunlich! Schade, dass ich gerade Pause hatte. Ich hätte das sehr spannend gefunden.

Der dümmliche Minotaur mit dem bronzenen Nasenring: Hier ist ständig etwas los!
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #130 am: 21.04.2021 | 07:15 »
Gestatte mir die Frage: Schreibst du diese Dinge aus dem Gedächtnis auf? Zeichnest du sie auf und bringst sie hernach in diese Form? Oder ereignen sie sich gar nicht im Spiel und du gestaltest hier einen anderen Teil der Spielwelt, der auf die Ereignisse am Tisch reagiert?
Engel – ein neues Kapitel enthüllt sich.

“Es ist wichtig zu beachten, dass es viele verschiedene Arten von Rollenspielern gibt, die unterschiedliche Vorlieben und Perspektiven haben. Es ist wichtig, dass alle Spieler respektvoll miteinander umgehen und dass keine Gruppe von Spielern das Recht hat, andere auszuschließen oder ihnen vorzuschreiben, wie sie spielen sollen.“ – Hofrat Settembrini

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #131 am: 21.04.2021 | 07:35 »
Doch, doch, es ist ein Spielbericht. Hier steht, was in unserem Spiel geschieht. Ich schreibe es aus dem Gedächtnis auf und schmücke es ein bisschen aus. Die blumigen Beschreibungen sind von mir und fallen so nicht im Spiel. Die Handlung entspricht aber dem Spielverlauf.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #132 am: 20.05.2021 | 00:48 »
12

Fünfeckig und sechseckig
sind die Hautsegmente des Rhinozeros´
sind die Fliesen auf dem Boden meiner Kammer

Summend und quietschend
gibt das Rhinozeros seine Stimmung zu erkennen
zeigt mein Wasserkessel seine Freude über grünen Tee

Anmutig und würdevoll
erprobt das Rhinozeros im ritualisierten Kampf seine Hörner
siegen maskierte Tänzer über das Böse

Ohnmächtig und gebrochen
erwartet das Rhinozeros seine Jäger
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #133 am: 20.05.2021 | 00:50 »
Ich präsentiere das Foto einer vergoldeten Maske und erzähle eine kurze Geschichte dazu.

Alljährlich werde in der Stadt das Fest der schlüpfenden Schildkröten begangen, bei dem auf den Straßen gesungen und süßes Gebäck verteilt werde. Menschen mit Blumen im Haar umarmten sich und die Oberhäupter der Stadtteile trügen Goldmasken.

Ich fordere meine Mitspieler auf, an ein Ereignis zu denken, das sich beim vergangenen Fest der schlüpfenden Schildkröten ereignet hat.

Wir erzählen einander ein wenig von zerbröselten Eierschalen, die als Konfetti verwendet werden, von Rosenwasser und dem Anblick der vielen Blumenblüten, die den Fluss hinabtreiben.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #134 am: 20.05.2021 | 00:53 »
Als sich das Floß mit dem Anführer, den drei Holzsammlern, dem Philosophen Lokapriya und den beiden Soldaten auf Lehekesh zu bewegt, bietet sich den Minotauren ein großartiger Anblick: vor den drei Inseln, deren Brücken die letzte Möglichkeit vor der Mündung des Vadhm für eine Flussüberquerung ohne Boot darstellen, stehen weitere Minotauren im Fluss. Es sind vielleicht 300, so viele, wie noch keiner der Gefährten an einem Ort zusammen gesehen hat. „Das Rinderopfer!“, brummt der erste Soldat. „Hoffentlich geht alles gut!“ „Es sieht jedenfalls großartig aus!“, sagt einer der jungen Holzsammler, worauf der Anführer das Floß an das Flussufer steuert. „Ich sehe Ashtavede“, sagt Lokapriya. „Er steht genau im Zentrum unserer Brüder!“ Die Floßfahrer befestigen den Korb mit den Leopardenlibellen am Floß, verlassen ihr Gefährt und waten durch das Wasser auf ihren Bekannten zu. Keiner der Minotauren im Fluss spricht auch nur ein Wort. Nur einer der Holzsammler sagt zum Anführer: „Es ist so still!“, worauf ihm der Anführer zuflüstert: „Wir ehren die stille Stimme! Schweige jetzt!“  Schließlich sind sie nahe genug an ihn herangekommen und stellen erfreut fest, dass sich auch Saibhang, der erste Berater, nur ein paar Schritt weiter befindet. Lokapriya nickt ihm freundlich zu.

Saibhang sieht sich um und erkennt, wie an einigen Stellen kleine Körbe mit Gebäck herumgereicht werden. Er wendet sich an Ashtavede: „Hast du veranlassen können, was wir vereinbart haben?“ Ashtavede nickt und sagt: „In keines der Gebäckstücke wurde der Kern der gefleckten Zitrone hinein gebacken. Ihr könnt beruhigt zugreifen!“

Auch der zweite Soldat macht eine Entdeckung. Nicht weit von ihm steht im Fluss eine Gestalt, die zwar auf den allerersten Blick als Minotaur durchgeht. Wer genauer hinschaut erkennt aber sehr schnell, dass es eine Person ist, die einen Minotaurenumhang über den Kopf gezogen hat. „Ist alles in Ordnung, junger Herr?“, fragt der zweite Soldat. Der Verkleidete nickt und verrät sich damit selbst. „Ayatashatru“, sagt der zweite Soldat. „Weiß euer Vater, dass ihr hier seid?“ Die Unterhaltung aber wird nicht fortgeführt, denn ein leises Raunen geht durch die Reihen der Minotauren.

Zu beiden Ufern des Flusses ziehen Soldaten auf: Menschen und auch ein paar Minotauren, insgesamt vielleicht 80 Bewaffnete. Es sind Bogenschützen, die ihre Schusswaffen zur Hand nehmen und spannen. Ein Ausrufer tritt an einer Flussseite vor und ruft: „Im Namen von Blephora Empyreus: Ich fordere alle Menschen, die sich verkleidet unter den Minotauren befinden mögen, auf sich zu demaskieren und aus dem Fluss zu steigen!“ Nicht weit von den Gefährten entfernt beginnen zwei Gestalten in ähnlichen Umhängen zu schluchzen. Dann laufen sie auf ein Flussufer zu und ziehen sich dabei die Minotaurenumhänge über die Köpfe. Der Anführer wendet sich dem verkleideten Ayatashatru zu und sagt: „Ihr wollt also bleiben? Das ist mutig! Ihr steigt in meiner Achtung, Herr!“ Der zweite Soldat aber schaut missmutig drein und spricht: „Junger Herr! Das hier kann euch das Leben kosten!“ „Werden sie schießen?“, lässt Ayatashartu seine zitternde Stimme unter dem Umhang erklingen. Der zweite Soldat sagt: „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass das hier im Moment kein Aufenthaltsort für euch ist. Ihr solltet nach Hause gehen. Ein Pfeil im Bauch ist wenig spaßig.“ Einen Moment lang zögert Ayatashatru noch. Dann sagt der zweite Soldat: „Schaut eure Freunde an, junger Herr! Sie wussten, wann das Spiel vorbei ist. Wollt ihr, dass sie morgen an eurer Beerdigung teilnehmen?“ Auf diese Frage hin beginnt sich Panik in Ayatashatru breitzumachen. Er begreift die Gefahr, in die er sich selbst gebracht hat, beginnt zu schreien und rennt außer sich vor Angst auf das Flussufer zu. Die dortigen Bogenschützen glauben es mit einem durchgedrehten Minotaur zu tun zu haben und richten ihre Bögen auf Ayatashatru. Irgendwann erreicht der Jüngling das Ufer und einer der Soldaten verpasst ihm mit einem Knüttel einen Schlag auf den Kopf. Ayatashatru stürzt zu Boden, wie ein gefällter Baum.

Dann hebt der Ausrufer seine Arme. Die Bogenschützen machen sich schießbereit und richten ihre Bögen auf die Minotaurenversammlung im ewigen Fluss. Es sieht alles danach aus, als würde es in Kürze zu einem Blutbad kommen. Einen kurzen Moment liegt eine Spannung in der Luft, wie sie im Inneren eines Zyklons herrscht. Plötzlich aber geht ein erleichtertes Lachen durch die versammelten Minotauren und auch die Bogenschützen am Flussufer verziehen ihre Münder zu einem Grinsen. „Was ist los?“, fragt der Anführer den ersten Soldaten, doch dieser zuckt nur mit den Schultern. Einen Moment sind die Gefährten irritiert und können sich auf den plötzlichen Stimmungsumschwung keinen Reim machen. Dann aber merkt der zweite Soldat, dass Saibhang sich wie die anderen auch zu amüsieren scheint. Er fragt: „Saibhang, worüber lachst du?“ „Seht ihr nicht wie die Flussdelphine in den Wellen spielen? Sie schlagen die tollsten Kapriolen!“ Die Gefährten blicken angestrengt in die Fluten, können aber nichts erkennen. Schließlich sagt Lokapriya: „Erinnert euch an Belugha! Die Flussdelphine sind seine Träume – wir glauben nicht mehr an sie!“ Saibhang versteht nicht, wovon die Rede ist und will wissen, wie er dieses Gespräch verstehen soll. Seine Freunde aber schauen ein wenig enttäuscht in die Fluten. „Wie schade!“, flüstert der Anführer.

Eine Weile lang erfreuen sich die meisten der Anwesenden am fröhlichen spiel der Flussdelphine. Dann aber macht sich erneut der Ausrufer am Flussufer bemerkbar. Er ruft: „Wir verzichten auf einen Beschuss der aufrührerischen Versammlung, wenn sich eure Rädelsführer zu erkennen geben. Geschieht das nicht, wird keine von euch lebend das Ufer reichen!“ Es dauert keinen Augenblick, da hebt Ashtavede seine Arme und schreitet würdevoll auf das Flussufer zu und steigt aus dem Wasser.

Dann überschlagen sich mit einem Mal die Ereignisse. Viele Minotauren rufen: „Nein! Nicht Ashtavede!“ Der Ausrufer blickt dem tätowierten Minotauren entgegen und ruft: „Ashtavede also! Bindet ihn! Fesula wartet auf ihn!“ Im Anschluss an diese Worte erschüttert ein vielstimmiges Brüllen die Luft. Etwa zwei Dutzend Minotauren ereilt der Ruf des Dschungels. Sie rennen auf das Flussufer zu. Viele von ihnen stürzen von Pfeilen durchbohrt in den ewigen Fluss. Einige von ihnen erreichen das Ufer, fegen ein paar Bogenschützen zur Seite und rennen in die Stadt. Das Wasser des Flusses ist aufgewirbelt, als würde es kochen. Die verbliebenen Minotauren sind in heller Panik. Die anwesenden Gefährten fühlen sich alle, als lägen schwere Steine in ihren Mägen. Lokapriya und der erste Soldat versuchen sich nützlich zu machen und führen ein paar Teilnehmer der Versammlung in den Schutz der in der Nähe befindlichen Flussinseln.

Saibhang macht den Eindruck, als habe auch er den Ruf des Dschungels gehört. Einen Rest Kontrolle über sich scheint er aber noch zu besitzen. Er rennt, aber nicht blindwütig in Richtung Dschungel, sondern auf Ashtavede zu, den er befreien will. Der Anführer ruft dem zweiten Soldaten zu: Folgen wir ihm! Vielleicht können wir Ashtavede noch retten!“ Die drei Minotauren pflügen durch die Fluten und erreichen das Flussufer.

Saibhang hat als erster Ashtavede erreicht. Sein ehemaliger Vorgesetzter allerdings wird schwer bewacht. Ein halbes Dutzend Krieger setzen dem heranstürmenden Minotaur mit Speeren zu und können ihn schnell überwältigen. Auch Saibhang wird gefangengenommen. Der Anführer und der zweite Soldat haben in diesem Moment die Flussböschung erreicht und können beobachten, was geschieht. Dann aber fällt der Blick des zweiten Soldaten auf eine jämmerliche Gestalt, die nicht weit entfernt im Dreck liegt und leise stöhnt. Es ist Ayatashutra, dem inzwischen jemand den Minotaurenumhang ausgezogen hat und danach für die Soldaten wohl nicht mehr interessant war.

In diesem Moment erlebt der zweite Soldat eine kurze Vision. Er sieht in das Gesicht Ayatashatrus und erkennt darin plötzlich dessen Vater Porfirio Empyreus. Das Gesicht des Herrn aber ist gelblich fahl – das Gesicht eines Toten! Der zweite Soldat zuckt zusammen und sieht plötzlich wieder Ayatashatru, der soeben beginnt sich den Schädel zu reiben und zu jammern. „Was ist los?“, fragt ihn der Anführer. Der zweite Soldat sagt: „Ich glaube, ich muss den jungen Herrn nach Hause bringen. Ashtavede ist zu gut bewacht. Wir kommen nicht an ihn heran.“ Der Anführer nickt und sagt: „Ich werde versuchen herauszubekommen, wo sie ihn hinbringen. Vielleicht bietet sich dort eine Gelegenheit.“ „Ja“, antwortet der zweite Soldat. „Wenn du es weißt, komm nach Hause und sag uns Bescheid! Vielleicht können wir mit gründlicher Vorbereitung doch noch etwas ausrichten.“

So endet das Rinderopfer. Einige Gefangene Minotauren werden weggebracht. Ashtavede und Saibhang werden abgeführt. Der Anführer schleicht ihnen hinterher. Die Teilnehmer der Versammlung sind in verschiedenste Richtungen geflohen. An den Flussufern liegen Tote. Der zweite Soldat hilft Ayatashatru auf, holt den Korb mit den Leopardenlibellen vom Floß und stützt den jungen Weg auf seinem Weg nach Hause. Lokapriya und der erste Soldat gehen am gegenüberliegenden Flussufer an Land und wandern betrübt die Uferstraße entlang. Der Fluss ist vom Blut der Minotauren rot gefärbt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #135 am: 20.05.2021 | 00:54 »
„Hör mal“, sagt ungefähr zur gleichen Zeit ein Minotaur auf dem Markt im Viertel Kantairon zu dem Räucherstäbchenverkäufer Hitesh. „Ich kann Haygaram Ooryphas erzählen, dass du offensichtlich irgendetwas zu verbergen hast. Was dann passiert, wird dir sicher nicht gefallen. Du kannst mir aber auch erklären, warum eine unserer Damen ein Räucherstäbchen entzündet hat, dessen grüner Stil nachträglich gelb angestrichen wurde.“ Es ist der Minotaur, der erst kürzlich Vater wurde, dessen Familie inzwischen im Gasthaus zum friedlichen Mungo untergekommen ist und der Dank Saibhangs Fürsprache wieder Arbeit in der Seide gefunden hat. Saibhang hat ihm vor seinem Besuch des Rinderopfers alles erzählt, was er über das seltsame Geschehen im Zimmer Halifas herausgefunden hat, und ihn damit beauftragt, den Hinweisen weiter nachzugehen. Dem Räucherstäbchenverkäufer tritt Schweiß auf die Stirn. Der Minotaur nimmt den Kragen seiner Kurta und hebt ihn in die Höhe. Hitesh spricht: „Nun, es ist wahr. Ich beliefere Halifa üblicherweise mit Räucherstäbchen. Kürzlich hatte ich einen Kunden, der mich nach den Gefahren der Räucherstäbchen befragte. Er hat mir hinterher befohlen, bei meiner nächsten Lieferung an Halifa ein wenig Sabotage zu betreiben. Also habe ich zu den Lobanstäbchen eines aus Bergamotte gesteckt und – damit das nicht weiter auffällt – seinen Stil umgefärbt.“ „Der Name?“, fragt der Minotaur. Nach einigen angestrengten Atemzügen stößt der Räucherstäbchenverkäufer schließlich hervor: „Kanta Planudes!“ Der Minotaur lässt Hitesh zu Boden fallen und kehrt mit grimmigem Gesicht zur Seide zurück.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #136 am: 20.05.2021 | 00:55 »
Nach der Rettung einiger desorientierter Teilnehmer des Rinderopfers kehren der Philosoph Lokapriya und der erste Soldat zusammen nach Rhomoon zurück. Schweigend laufen sie auf der Straße am Flussufer und suchen nach einer Möglichkeit mit dem schrecklichen Erlebnis umzugehen. Nach einigen Kilometern kommt an der Straße ein Verkäufer vor einer Garküche in Sicht. Der erste Soldat fragt Lokapriya: „Hast du Hunger?“ Lokapriya schweigt noch immer, deutet aber zu dem Aquarium, das der Mann neben seinem Grill aufgebaut hat. Eine kleine Gruppe neugieriger Kunden hat sich um ihn versammelt und die beiden Minotauren hören ihn sprechen: „Seeschlangen, Leute, Seeschlangen! Die Tiere sind ganz frisch aus dem Meer gezogen und werden vor euren Augen zubereitet. Für ein Samenkorn bekommt ihr ein Gericht, nach dem ihr euch noch tagelang die Finger lecken werdet!“ Die beiden Minotauren blicken zum Aquarium und sehen dort ein paar sich windende schwarzweiß geringelte Schlangen. Lokapriya und der erste Soldat sind nach den vergangenen Erlebnissen nicht allzu experimentierfreudig, sehen dem Treiben aber noch eine ‚Weile zu. Einer der Menschen vor dem Verkäufer verlangt nach einer Mahlzeit, worauf der Mann ins Wasser, einer der Schlangen herausnimmt, ihr einen Stock über den Schädel zieht, sie häutet, ihr den Kopf abtrennt und ihre Innereien entnimmt. Dann aber stutzt er und zieht einen kleinen, ganz verschluckten Fisch aus dem Leib der Schlange. Strahlend präsentiert er ihn seinem Kunden: „Schaut her! Hier zeigt sich, dass die Gejagte selbst eine Jägerin ist. Ja, es ist oft nicht einfach, zu unterscheiden! Jäger oder Gejagter? Herrin oder Sklavin? Vorfahr oder Nachkomme? Geliebter oder Liebender? Behälter oder Inhalt? Ihr schüttelt mit dem Kopf? Weil der Kopf für dieses Problem zu klein ist, nehme ich an. Ich sage euch, mit diesen geistigen Kapazitäten wird euer Schicksal nicht anders als das dieses Fisches sein! Wer das Problem aber durchschaut, der kann vielleicht irgendwann zur Schlange werden!“ Während der Verkäufer das Schlangenfleisch grillt und seine Gewürze bereitstellt, sehen sich Lokapriya und der erste Soldat an: „Ein philosophischer Garküchenverkäufer – seltsam!“, meint Lokapriya. Schließlich zuckt der erste Soldat mit den Schultern und die beiden Minotauren ziehen weiter.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #137 am: 20.05.2021 | 00:56 »
Erschöpft erreicht der zweite Soldat das Haus von Porfirio Empyreus. Noch immer stützt er den leise stöhnenden Ayatashatru, dessen Aufenthalt im Fluss ihm eine handfeste Erkältung beschert hat. Der zweite Soldat ist froh, dass dieser Weg zu Ende geht. Er bringt Ayatashatru in sein Massagezimmer, reibt seinen Schädel mit einer kühlenden Eukalyptustinktur ein und wartet, bis der junge Herr eingeschlafen ist. Dann macht er sich auf den Weg zum Herrn des Hauses.

Porfirio Empyreus sieht auch nicht allzu gesund aus. Der zweite Soldat grüßt seinen Herrn. Porfirio zeigt sich erfreut ihn zu sehen und will wissen, ob er Leopardenlibellen gefunden hat. „Ja, Herr“, sagt der Minotaur mit ernstem Gesichtsausdruck. Porfirio dankt ihm kurz, schaut sich die Insekten kurz an und meint: „Was geschieht jetzt mit diesen Libellen? Ich möchte gern so schnell wie möglich mit der Behandlung beginnen, weißt du? Ich hoffe, mich dann wieder verstärkt meinem Schneckengarten widmen zu können. Ich kann dann auch wieder an Gesellschaften denken! Ach, es ist, als befände ich mich schon auf halbem Weg ins Grab! Nun also, Rind, was ist zu tun?“ Der zweite Soldat denkt an die Strapazen, die er im Dschungel während der Beschaffung der Leopardenlibellen durchgemacht hat, er denkt daran, wie er sich um Porfirios Sohn Ayatashatru gekümmert hat und wirft dann dem unvernünftigen, selbstbezogenen und vergnügungssüchtigen Mann vor ihm einen kurzen, kalten Blick zu. Dann sagt er: „Herr, ich denke, die Behandlung sollte ein Arzt in die Wege leiten. Ich weiß nicht, wie das geht.“ „Also ein Arzt! Ja, Rind! Lass einen holen. Du musst es nicht selbst machen, du siehst abgekämpft aus. Vielleicht schickst du die Wäscherin… Vorher habe ich aber noch eine Frage.“ Der Minotaur schweigt und wartet. „Erinnerst du dich? Als du fortgezogen bist, wusstest du den Weg nicht. Trotzdem bist du fündig geworden. Wie ist dir das gelungen?“ „Nun Herr“, antwortet der zweite Soldat. „Ich hatte wohl ein wenig übernatürliche Unterstützung.“ „Und diese übernatürliche Unterstützung… Rind… könnte es nicht sein, dass sie mir auch einmal nützlich werden könnte?“ “Das mag sein, Herr!“ „Dann sorge doch dafür, dass mir diese Unterstützung demnächst auch einmal zu Teil wird, ja?“ „Ja, Herr.“

Einen kurzen Moment denkt der zweite Soldat an Mujeeb Gashkaris Rat, im Dschungel dem Wind zu folgen, dann aber fällt ihm wieder die Katastrophe beim Rinderopfer ein. Er sagt: „Herr, da wäre noch etwas. Habt ihr von der Versammlung der Minotauren im ewigen Fluss gehört?“ „Da gab es eine Versammlung? Hatten die Rinder keine Arbeit?“ „Herr, ich habe dort im Vorübergehen euren Sohn Ayatashatru getroffen!“ „Ayatashatru? Was wollte der denn da?“ „Er hat sich dort in große Gefahr begeben, Herr!“ „Ist er verletzt?“ „Nur ein wenig erkältet.“ „Gut. Dann lasse jetzt den Arzt holen, Masseur! Beeile dich!“ „Ja, Herr.“ Als der zweite Soldat sich auf den Weg zur Wäscherin macht, kommt es ihm vor, als müsse er einmal laut brüllen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #138 am: 20.05.2021 | 00:57 »
Vorsichtig verfolgt der Anführer einen Trupp Soldaten durch Dégringolade. Es sind zehn Soldaten und ein Kommandant, die Ashtavede und Saibhang gebunden haben und irgendwohin bringen. An einer Häuserecke schreckt der Anführer zusammen, denn hinter ihm erklingt plötzlich aus nächster Nähe eine leise flüsternde Stimme: „Was für ein Glück! Wir haben euch gefunden, Flussgesegneter!“ Der Anführer sieht sich um und erblickt seine drei Holzsammler, die sich freudestrahlend hinter ihm aufgebaut haben. „Leise!“, zischt ihnen der Anführer zu. „Wir verfolgen Ashtavede und Saibhang. Vielleicht können wir sie befreien.“ Die Holzsammler nicken: „Sicherlich, Flussgeweihter! Wir werden sehr vorsichtig sein!“

Die Soldaten ziehen mit den Gefangenen weg vom Vadhm, am Turm der Helden vorbei und steigen schließlich über eine steile Straße in ein höhergelegenes Stadtviertel auf. Der Blick über Dégringolade und das dahinter befindliche Meer ist von hier aus beeindruckend, die Luft ist klar und rein, die Häuser gleichen Villen. Der Anführer hat keinen Zweifel: hier wohnen die Mächtigen und Begüterten Dégringolades.

Schließlich verschwindet der Trupp Soldaten in einer Villa. Ashtavede und Saibhang werden in das Haus gebracht. Der Anführer und die Holzsammler verbergen sich hinter einer nahe gelegenen Mauer auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachten das Haus. Etwas später verlässt ein einzelner Mann das Haus. Der Anführer schärft den Holzsammlern ein, weiter aufzupassen. Er selbst verfolgt den Mann. Als dieser allerdings wieder zum Fluss zurückkehrt und die Brücken bei den drei Inseln überschreitet, kehrt der Anführer zu seinen Schutzbefohlenen zurück. Er hat nicht den Eindruck, dass ihm die Verfolgung dieses Mannes irgendwie weiterhelfen kann.

In der Abenddämmerung kehrt der Mann zurück. Der Anführer und die drei Holzsammler sehen, dass er zwei Minotauren dabei hat, die einen Käfigwagen hinter sich her ziehen. Dieser Wag wird auf das Gelände der Villa gezogen. Der Anführer beginnt nachzudenken und erklärt den jungen Holzsammlern: „Der Ausrufer am Fluss hat gesagt, Ashtavede soll nach Fesula gebracht werden. Soviel ich weiß ist das ein gewaltiges, grauenerregendes Gefängnis mitten im Dschungel, viele, viele Meilen von Dégringolade entfernt. Es ist dafür berichtet, dass die dort Inhaftierten furchtbare Qualen erleiden müssen. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass Ashtavede und Saibhang dorthin gebracht werden. Es gibt im Süden der Dégringolades, in der Gemeinde Hidokshan ein Tor, das „Tor von Fesula“ genannt wird. Wenn die Soldaten sich mit Ashtavede und Saibhang in diesem Gitterwagen auf den Weg machen, verlassen sie die Stadt wahrscheinlich durch dieses Tor. Dort in der Nähe könnten wir wahrscheinlich einen Befreiungsversuch wagen. Allerdings wäre ein wenig Unterstützung hilfreich. Kann nicht einer von euch zum Haus des Porfirio Empyreus gehen und den beiden Soldaten dort sagen, dass sie möglichst schnell dorthin kommen sollen?“ „Sicherlich, Flussgeweihter!“, antwortet einer der Holzsammler. „Das will ich gerne tun!“ Der junge Minotaur verabschiedet sich und verlässt die Gruppe.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #139 am: 20.05.2021 | 00:58 »
Eine Weile nach ihrer Begegnung mit dem philosophischen Garküchenverkäufer trennen sich die Wege des Philosophen Lokapriya und des ersten Soldaten. Lokapriyas Weg führt zu der Totenhalle, in der die Urne der Synesia Empyreus steht. Wie beim letzten Mal ist der Ort völlig verlassen. Bis auf den leichten Wind, der hin und wieder einen der Fensterläden zum Klappern bringt, ist es still. Lokapriya ist mit seinen Gedanken noch beim vergangenen Blutvergießen am ewigen Fluss. Trotzdem kommt er seiner Pflicht nach. Er geht zur Grabstätte der Synesia, holt ihre Schatulle aus seinem Bündel und stellt es vor ihrer Urne ab.

Dann schaut er sich um: Nichts hat sich verändert. Trotzdem spürt der Minotaur einen tiefen Frieden, der für eine Weile von diesem Ort auszugehen scheint. Es ist, als habe der Tod seinen Schrecken verloren. Zum ersten Mal seit dem Rinderopfer kann Lokapriya wieder an etwas anderes denken… an die Zukunft vielleicht sogar. „Ich werde Gouliza im friedlichen Mungo einen kleinen Besuch abstatten!“, beschließt der Minotaur und ein wenig getröstet verlässt er die Halle.

Etwas später sitzt Lokapriya vor einem heißen Tee in der Schenke und spricht mit Gouliza. Ihr und ihrem Minotaurengeliebten geht es gut, aber sie erschrickt, als sie von den schlimmen Ereignissen am ewigen Fluss hört. Gouliza nimmt Lokapriyas Hand und sagt: „Es ist schlimm für dich, nicht wahr? Was willst du jetzt machen?“ „Was soll ich schon machen?“, fragt Lokapriya. „Ich überbringe Botschaften.“ Gouliza nickt und sagt: „Vielleicht habe ich eine neue Kundin für dich. Bist du interessiert?“ Lokapriya nickt und Gouliza erzählt.

„Die Frau heißt Bhanumati und wohnt am Rand von Hidokshan. Sie hat einen groben und eifersüchtigen Mann geheiratet, der sie streng bewacht. Im Moment scheint es besonders schlimm zu sein. Sie hat schon ein paar Wochen nicht mehr das Haus verlassen. Dabei rennt ihr die Zeit davon. Bhanamuti ist eine großartige Bäckerin und hat sich so danach gesehnt, während des Festes der schlüpfenden Schildkröten ihr Können als Aushilfe in der berühmten Bäckerei Salloum unter Beweis stellen zu können. Zu diesem Fest ist dort Hochbetrieb und für die Vorbereitungen werden dort ein paar zusätzliche Hilfen angestellt. Allerdings ist es schon in zwei Tagen soweit! Bhanumati rechnet sich noch eine letzte Chance aus: Sie ist dabei ein paar ihrer unglaublichen Sarawak zu machen. Wenn jemand diese Kuchen gewissermaßen als Probestück zur Bäckerei bringen könnte, dann sind die Bäcker dort vielleicht schon überzeugt. Könntest du das nicht übernehmen, Lokapriya?“ Lokapriya ist einverstanden und macht sich auf den Weg.

Gegen Abend erreicht der Philosoph den Rand der Gemeinde Hidokshan. Dank Goulizas Beschreibung findet er das Haus von Bhanumati und ihrem Ehemann schnell. Neben dem Haus befindet sich eine geräumige Holzwerkstatt, vor der ein paar Fässer stehen. Ein Bretterzaun schirmt hinter dem Haus einen Garten mit einem kleinen Gartenhäuschen ab. Lokapriya schreitet entschlossen auf die Tür zu und klopft an. Ein finster aussehender Mann öffnet und sieht den Minotauren fragend an. Lokapriya sagt: „Ist Bhanumati zu sprechen?“ „Nein“, grunzt der Mann und will die Tür schon wieder schließen, da kann ihm der Philosoph noch für einen Moment über die Schulter blicken und sieht im hinteren Bereich des Raumes eine Frau stehen. Sie gibt Lokapriya mit Gesten zu verstehen, dass er ein wenig Geduld haben soll. Lokapriya sagt zu dem Mann: „Schade. Dann versuche ich´s ein andermal“

Kurz darauf steht Lokapriya auf der Straße und beobachtet Bhanumatis Haus. Als die Dämmerung einsetzt bemerkt er, dass jemand das Haus verlässt und in den Garten geht. Eine Frauenstimme summt leise eine alte Weise. Lokapriya geht auf de Bretterzaun zu und spricht: „Mir wurde berichtet, ihr braucht einen Boten?“ „Komm nach hinten, da gibt es eine Gartentür“, flüstert Bhanumati. Im hinteren Bereich des Gartens drückt Bhanumati dem Philosophen drei Samenkörner und ein vielleicht unterarmgroßes Bündel in die Hand. Lokapriya bedankt sich. Dann sagt Bhanumati: „Du wirst in der Bäckerei Salloum um diese Tageszeit niemanden mehr antreffen. Wenn du willst kannst du aber im Gartenhaus übernachten, da gibt es ein paar warme Decken. Pass nur auf, dass dich mein Gatte nicht entdeckt!“ Lokapriya nickt. Bhanumati verabschiedet sich und der Philosoph bereitet sich ein kleines Lager zwischen Werkzeugkisten und Kisten mit getrockneten Feigen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #140 am: 20.05.2021 | 01:00 »
Am nächsten Morgen verlagern sich die Geschehnisse um die Gefährten in den Süden Dégringolades. Am Vormittag erreicht der Anführer mit zwei der jungen Holzsammlern Hidokshan. Zu ihrer Überraschung treffen sie auf einem breiteren Weg den Philosophen Lokapriya, der sie grüßt. Er hat ein Stoffbündel unter dem Arm und scheint eigene Wege zu verfolgen.

Gegen Mittag erreichen der Anführer und die Holzsammler das Tor von Fesula. Die Torwachen nehmen keine Notiz von ihnen und so verlassen die vier Minotauren ungehindert die Stadt und gehen ein paar hundert Schritt die Straße entlang. An einer geeigneten Stelle verbergen sie sich im Dschungel, beobachten ein paar Reisende und warten.

Wenig später kommt es zu einem erstaunlichen Wetterphänomen. Die Sonne und der Himmel nehmen eine rot-orangene Färbung an und ein furchtbarer Sturm fegt durch die Luft. „Flussgeweihter!“, ruft einer der Holzsammler. „Seht doch dort!“ Drei Minotauren kämpfen sich durch den Sturm die Straße entlang. Es sind der dritte Holzsammler und die beiden Soldaten aus dem Haus von Porfirio Empyreus. „Kommt hier ins Gebüsch!“, ruft der Anführer und winkt sie herbei. Die Begrüßung ist herzlich und trotz des einsetzenden Regens sind die Anwesenden über schlagkräftige Unterstützung froh.

Dann beginnen von allen Richtungen furchtbare Donnerschläge zu erklingen und in ein paar der Urwaldriesen schlagen Blitze ein. Die Holzsammler schauen angstvoll den Anführer an, der sie aber beruhigt: „Dieses Unwetter spielt uns in die Hände! Wenn Ashtavede und Saibhang heute diese Straße entlang transportiert werden, dann werden wir sie befreien und müssen in diesem Sturm kaum mit weiteren Gegnern aus der Stadt rechnen.“ Nach diesen Worten schlägt ein Blitz in der Nähe der Minotauren ein und erfüllt den Ort mit grellem Licht. Während sich die Holzsammler und die Soldaten die Augen zuhalten, erinnert sich der Anführer an das Metallgerüst mit den Spiegeln, dass er bei seinem letzten Ausflug in den Dschungel dem Kästchen im Moorsee entnommen hat. Er befestigt es hinter seinen Ohren und stellt fest, dass ihm die gleißenden Blitze nicht mehr viel ausmachen.

Wenig später erkennen die Gefährten das, worauf sie gewartet haben:  Der Gitterwagen wird von zwei weiteren Minotauren die Straße entlang gezogen. In ihm befinden sich Ashtavede und Saibhang. Zwei Wachen gehen dem Wagen voran. Ein Kommandant namens Swarang Pandey flucht über das Gewitter und treibt die Minotauren zur Eile an.

„Drei Menschen und zwei Minotauren: das ist zu schaffen“, sagt der Anführer. „Wir versuchen es mit einem Ablenkungsmanöver“. Er nimmt zwei seiner Holzsammler zur Seite, stürmt mit ihnen aus dem Gebüsch und führt einen halbherzigen Scheinangriff auf die Begleiter des Gitterwagens durch. Swarang Pandey brüllt die Minotauren an: „Lasst den Wagen stehen und zeigt´s dem Geschmeiß!“ Doch nach ein paar Schlägen ergreift der Anführer mit den Holzsammlern gemeinsam die Flucht, nicht ohne seine Gegner immer wieder mit Schmährufen zu bedenken. „Los jetzt, beeilt euch, hinterher!“, brüllt Swarang Pandey und verfolgt die Angreifer in den Dschungel. Die beiden Wachen bleiben allerdings beim Gitterwagen. Sie scheinen erfahrene Veteranen zu sein, wirken relativ gelassen und schauen sich Rücken an Rücken mit kampfbereiten Speeren aufmerksam um.

„Es hilft nichts“, sagt der zweite Soldat zum ersten Soldaten und dem verbliebenen Holzsammler. „Jetzt oder nie!“ Die drei Minotauren springen aus dem Gebüsch und rennen auf den Käfigwagen zu. Ashtavede und Saibhang rufen ihnen aufmunternde Worte zu. Dennoch verlangsamt sich der Lauf der Angreifer. Die Wachen schauen sie derart verwegen und furchtlos an, dass sich die Minotauren gerade zu fragen beginnen, ob ihr Plan gut genug war. Die beiden Krieger scheinen jedenfalls bestens aufeinander eingespielt zu sein. Etwa zehn Schritt von ihnen entfernt kommen die Minotauren zum Stehen. Während Donner kracht und starker Regen auf die Reisenden niederprasselt mustern sich beide Seiten lange.

Auch die Flüchtenden im Dschungel haben es schwerer als geglaubt. Der Sturm ist hier fast noch schrecklicher, denn er bringt handfeste Gefahr: Bäume stürzen um, Blitze schlagen ein. Immer wieder überwinden die Fliehenden umgestürzte Baumriesen, bis schließlich Swarang Pandey und die beiden gegnerischen Minotauren den Anführer und seine Holzsammler schon fast eingeholt haben. In diesem Moment kommt den Gefährten allerdings der Zufall zu Hilfe. Ein besonders verheerender Blitz zuckt durch die Luft. Er läuft am Ende in vielen Verästelungen aus und eine dieser Feuerlanzen – vielleicht auch nur ihr Lichtschein – scheint direkt auf den Anführer zuzuschießen. Der Anführer wendet in dem Moment seinen Schädel, worauf der Strahl von den blanken Flächen seines Metallgestells widergespiegelt wird. Die Reflexion trifft direkt Swarang Pandey, der glaubt der Anführer sei in der Lage mit seinen Blicken Blitze zu verschießen. Laut schreiend fällt er zu Boden und zittert. Die ihm unterstehenden Minotauren geben die Verfolgung auf und kümmern sich um ihn. Der Anführer und die beiden Holzsammler versuchen daraufhin ungesehen die Straße nach Fesula wiederzufinden.

Für die Kämpfer bei dem Gitterwagen scheint die Zeit stillzustehen. Es ist, als seien die getauschten Blicke zu magischen Fesseln geworden, die beide Seiten bewegungsunfähig gemacht haben. Im strömenden Regen stehen sich die Krieger gegenüber und niemand wagt einen ersten Schritt. Viel später erst kündigt ein Krachen im nahen Unterholz die Rückkehr des Anführers und seiner Holzsammler an. Aber noch während diese Verstärkung auf den Käfigwagen zu rennt um den Kampf zu entscheiden, schlägt mit großem Krach ein gewaltiger Blitz in das Dach des Käfigs ein. Blitze züngeln an den Gitterstäben entlang zu Boden und scheinen die Gefangenen nicht zu verletzen. Sie haben allerdings zur Folge, dass der Wagen schließlich umkippt und sich das Gitter vom Boden losreißt. Ashtavede und Saibhang sind in Freiheit.

Lange Zeit mussten die beiden Gefangenen in ihrem Käfigwagen untätig den dramatischen Geschehnissen um sie herum zusehen. Nun stellt sich heraus, dass ihr Gemüt unter ihrer Ohnmacht gelitten hat. Für Saibhang fühlt es sich so an, als wachse der Stein, den er seit dem Rinderopfer in seinem Blättermagen spürt noch um ein Vielfaches an. Mit einem gewalttätigen Schrei stößt er eine der Wachen beiseite und stürzt in den Dschungel. Sein Brüllen ist so markerschütternd, dass Ashtavede und die beiden Soldaten ihm folgen. Der Anführer nutzt geistesgegenwärtig das Durcheinander um mit seinen Holzsammlern den beiden Wachen zuzusetzen und sie zu vertreiben.

Im strömenden Regen kehrt der Anführer mit seinen Holzsammlern nach Dégringolade zurück. Einer seiner Schutzbefohlenen sagt: „Du hattest Recht, oh Flussgeweihter! Die Elemente habe uns unterstützt!“
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #141 am: 20.05.2021 | 01:03 »
In der Nacht kehren die Minotauren, die sich unter der Führung des Kommandanten Swarang Pandey im Dschungel verirrt haben, endlich wieder ins Haus ihres Herrn zurück. In der Küche berichten sie zitternd bei einer Kanne Tee von ihren Erlebnissen und hören sich auch die Berichte ihrer Kollegen an.

Der traumatisierte Minotaur mit dem rötlichen Fell: Was für ein Blutbad! Das hätte nicht geschehen dürfen! Ich musssagen, Ashtavede war nicht ganz unschuldig daran. Er hat die Menschen gereizt!

Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Ja, immer mehr Gewalt bestimmt unseren Alltag. Auf der Straße nach Fesula sind wir heute von unseren eigenen Brüdern überfallen worden!

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Es wird nicht das letzte Blut gewesen sein, dass in Dégringolade vergossen wird.

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Ihr seid unverbesserliche Pessimisten. Ich habe heute gesehen, wie zwei Minotauren unter eigener Lebensgefahr ein paar orientierungslose Brüder am Fluss vor den Bogenschützen in Sicherheit gebracht haben. Es gibt noch immer Solidarität unter Minotauren!

Der traumatisierte Minotaur mit dem rötlichen Fell: Dennoch war es ein großes Unglück, was dort passiert ist. Die Menschen werden schon nervös, wenn nur ein paar Minotauren unterschiedlicher Herren ihre Zeit miteinander verbringen. Diese Versammlung heute war einfach zu viel für sie.

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Sie selbst halten natürlich Versammlungen ab, wie sie es für richtig halten!

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Die meisten Menschen haben Angst vor uns. Deswegen versuchen sie uns zu kontrollieren.

Der Minotaur mit den Adlertätowierungen und der Hakenhand: Ich habe aber gehört, es habe auch einige von ihnen in Verkleidung unter den Minotauren gegeben.

Der traumatisierte Minotaur mit dem rötlichen Fell: Das stimmt. Einer von ihnen wurde hinterher verletzt davongetragen.

Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Wenn die Menschen nicht solche Feiglinge wären, hätten wir heute bei dem Überfall die Angreifer schlagen können. Swarang Pandey hat sich nicht mit Ruhm bekleckert. Unsere Gegner trugen Holzknüppel!

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Was soll das? Sie haben die Stille gebrochen. Das war keine Heldentat!

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Es wird immer schwerer, die Regeln der Stille einzuhalten.

Der Minotaur mit den Adlertätowierungen und der Hakenhand: Weise und tapfer sollen wir sein. In diesen Zeiten schließt das eine meist das andere aus.

Der traumatisierte Minotaur mit dem rötlichen Fell: Es gilt für uns eben, abzuwägen, was schwerer wiegt. Gerechtigkeit, Weisheit, Tapferkeit?

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Frömmigkeit! Ich hörte davon, dass der Philosoph Lokapriya der Ahnenverehrung größtes Gewicht beimisst. Das scheint mir ein Bereich zu sein, an den wir viel zu selten denken.

Eine Weile herrscht Stille.

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Was ist mit den Gefangenen geschehen?
Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Sie hörten den Ruf des Dschungels und sind im Urwald verschwunden. Wir können froh sein, dass wir zumindest wieder zurückgefunden haben.

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Der Käfig wird jedenfalls ein paar Tage Reparatur benötigen.

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Letztlich können wir froh sein. Diesmal mussten wir nicht gegen unsere Brüder kämpfen.

Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Weil sich Swarang Pandey wie ein Rindvieh benommen hat.

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Was hast du gegen Rinder? Es gibt doch kaum einen erhebenderen Anblick als eine große Rinderherde.

Der traumatisierte Minotaur mit dem rötlichen Fell: Ich weiß nicht… das waren heute sehr viele Minotauren im ewigen Fluss. Wenn ich daran denke, verschwimmt alles vor meinem inneren Auge. Dutzende von uns wurden abgeschlachtet… sollen wir jetzt zur Tagesordnung übergehen, als sei nichts geschehen?

Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Irgendwann werden wir losschlagen müssen. Das kann nicht mehr lange so weitergehen. Ich spüre den Aufstand schon als Kribbeln in den Spitzen meiner Hörner.

Der Minotaur mit dem traurigen Gesicht: Das darf nicht geschehen! Unsere Stille wäre ein für allemal gebrochen. Wir hätten unsere eigene Kultur zerstört.

Der Minotaur mit den Adlertätowierungen und der Hakenhand: Vielleicht sollten wir in den Dschungel ziehen, weg von den Menschen.

Der Minotaur mit dem langen, struppigen Spitzbart: Vielleicht haben die Menschen nach diesem Ereignis ja auch ein Einsehen!

Lange Stille.

Der zornige Minotaur mit den leuchtenden grünen Augen: Irgendwann werden wir losschlagen müssen.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #142 am: 6.07.2021 | 01:02 »
13

Wenn die Schildkröten schlüpfen
wird überall in den Straßen der Stadt
gesungen und süßes Gebäck gegessen.
Alle umarmen sich
und tragen Hibiskusblüten im Haar.

Es gibt orangene, weiße, gelbe
und fliederfarbene.

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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #143 am: 6.07.2021 | 01:03 »
Ich zeige ein Bild mit aufgeschnittenem Sarawak-Kuchen aus Malaysia.

Wir betrachten die mit Lebensmittelfarbe behandelte grelle Außenhülle und die im Anschnitt erkennbaren kunstvoll zu geometrischen Mustern formierten inneren Teigschichten.

In einigen Köpfen entsteht eine Vorstellung, wieviel Arbeit und Geschick es braucht, um so etwas herzustellen.

Anerkennendes Murmeln ist zu hören.

Unsere Vision beginnt.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #144 am: 6.07.2021 | 01:05 »
Nach seiner Nacht in Bhanumatis Gartenhaus begibt sich Lokapriya, der Philosoph, mit seinem Bündel zur Bäckerei Salloum. Auf dem Weg begegnet er dem Anführer und zwei seiner jungen Holzsammler, die ihm einen verschwörerischen Blick zuwerfen. Ihr Weg führt zum Stadttor, Lokapriya aber grüßt lediglich und setzt seinen Weg fort. Schnell erkennt er, dass es sich bei Salloum um eine der führenden Bäckereien in Dégringolade handelt: Die Kunden stehen in einer Schlange bis auf die Straße und es dauert eine ganze Weile, bis Lokapriya mit einer Verkäuferin sprechen kann. Er erzählt, dass er ein Probestück dabei hat, mit dem sich eine Bekannte als Aushilfskraft für das Fest der geschlüpften Schildkröten bewerben möchte. Die Bedienstete ruft einen Bäcker, der aus einem Durchgang erscheint und Lokapriya in die Backstube mitnimmt.

Auf dem Weg dorthin läuft Lokapriya durch einen Flur und bestaunt die Zutaten, die sich in Säcken, Fässern und Regalen an den Wänden befinden. Dann aber stutzt er für einen kleinen Moment: Er blickt auf eine kleine Schale im Regal und sieht, dass sich in ihr eine Handvoll Kerne der gefleckten Zitrone befinden. Hat die Bäckerei Salloum auch die Backwaren für das Rinderopfer hergestellt?

Schließlich erreicht Lokapriya mit dem Bäcker die eigentliche Bachstube. Der Bäcker nimmt Lokapriyas Bündel entgegen, wickelt Bhanumatis Sarawak-Kuchen aus, betrachtet zufrieden die ebenmäßige Außenhülle und meint: „Dann wollen wir mal sehen!“ Mit einem großen Messer schneidet der Bäcker einen Kuchen an und schaut ins Innere. Die Teigschichten sind derart filigran und verschachtelt in den Kuchenleib gefaltet, dass sie wie ein faszinierendes Kaleidoskop aussehen. Lokapriya begreift, dass er etwas Außergewöhnliches zu Gesicht bekommt und schaut gespannt den Bäckermeister an, der eine ganze Weile schweigend vor dem Kuchen steht. Schließlich sagt er: „Das ist ein Kunstwerk! Wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn der Hersteller dieser Kostbarkeit bei uns arbeitet. Lauf sofort los, Rind, und sage Bescheid, dass wir hier einen Arbeitsplatz zu vergeben haben!“ Lokapriya nickt, aber es liegt ihm noch etwas anderes auf der Zunge. Daher sagt er: „Herr, habt ihr die Gebäckstücke für die Minotaurenversammlung im ewigen Fluss hergestellt?“ „Ja“, sagt der Bäcker abwesend. Er bewundert noch immer Bhanumatis Sarawak. Nach einer kurzen Pause sagt er: „Warum fragst du?“ „Nun, Herr, mich interessiert, ob ihr diesmal einen Kern der gefleckten Zitrone in eines der Gebäckstücke hineingegeben habt.“ „Wir hatten Anweisung, das nicht zu tun. Daran haben wir uns auch gehalten.“ „Braucht ihr denn dann diese Kerne dort im Regal noch, Herr?“, fragt Lokapriya. Der Bäcker probiert ein kleines Stück von Bhanumatis Sarawak, macht ein genießerisches Gesicht und sagt schließlich: „Wir haben sie nur einmal für diese Rinderversammlungen gebraucht. Unwahrscheinlich, dass sie noch einmal benötigt werden. Wenn du mich fragst, war das auch eine reichlich dumme Idee: einen Kern der gefleckten Zitrone im Teig verstecken! Nach diesem Blutbad am Vadhm sieht es aber so aus, als gäbe es so bald keine Rinderversammlungen mehr. Von mir aus also kannst du die Kerne haben. Sie sollen dein Botenlohn für diesen wunderbaren Sarawak sein.“

Lokapriya geht ans Regal. Er will die Kerne aus der Schale in seine Hand kippen und mitnehmen. Dabei passiert ihm aber ein Missgeschick: er bleibt mit der Schale am Regal hängen und die Kerne der gefleckten Zitrone fallen in einen darunter stehenden Sack Mehl. Der Bäcker beginnt zu schimpfen: „Pass doch auf, du Rindvieh! Sieh zu, dass du die Kerne da wieder herausfischst! Sie können gefährlich sein!“ „Ist mir schon klar“, brummt Lokapriya vor sich hin und gibt sich alle Mühe, die Kerne aus dem Mehlsack wieder herauszubekommen. Geraume Zeit später steht er über und über mit Mehl bestäubt auf der Straße. Was er mit den Kernen der gefleckten Zitrone anstellen soll, weiß er noch nicht. Daher steckt er sie erst einmal ein. Bis er zu Bhanumatis Haus zurückkehren kann vergeht aber noch eine ganze Weile, denn ein überraschend heftiger Wolkenbruch ergießt sich über Dégringolade und beendet eine Weile lang das geschäftige Treiben in den Straßen von Hidokshan.

Am späten Nachmittag kann Lokapriya endlich aufbrechen und zu Bhanumati gehen. Aus der Böttcherwerkstatt ihres Mannes sind Hammerschläge zu hören. Lokapriya klopft an die Haustür und Bhanumati selbst öffnet. Der Philosoph sagt: „Ich darf euch ausrichten, dass ihr eine Anstellung bei Salloum habt. Freut euch!“ Tatsächlich strahlt Bhanumati für einen kurzen Moment über das ganze Gesicht. Dann aber sagt sie: „Jetzt wird es Zeit, dass mein Gatte davon erfährt.“ Lokapriya nickt, sieht aber auch den ängstlichen Blick in den Augen der Frau und sagt dann: „Es gibt Unwetter, die man nicht beeinflussen kann!“ Er verabschiedet sich und geht. Zwei Häuserecken weiter hört er, wie zwischen Bhanumati und ihrem Mann ein lauter Streit ausbricht. Nachdenklich zieht Lokapriya davon.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #145 am: 6.07.2021 | 01:05 »
Nach ihrem Ausbruch ziehen Ashtavede und Saibhang, der erste Advokat, mit den beiden Soldaten durch den Dschungel. Bei der Expedition übernimmt der zweite Soldat die Führung, verliert aber schon bald jegliche Orientierung. Mit zunehmender Verzweiflung kämpfen sich die Minotauren durch das Gestrüpp. Da streckt der zweite Soldat plötzlich seinen linken Arm aus und bedeutet seinen Gefährten innezuhalten. Ein paar Schritte vor ihm zeigt sich an einem gewaltigen Baum eine merkwürdige Erscheinung. Zwischen dessen Lianen windet sich der nackte Oberkörper einer weiblichen Gestalt. Ist es eine Menschenfrau oder ein Trugbild aus dem Pflanzenreich? Der zweite Soldat ist sich nicht ganz sicher und nähert sich vorsichtig. Kurz darauf ist aus der Richtung des Baumes ein merkwürdiges Rascheln zu hören und plötzlich scheint die Rankenfrau kleine, mit Widerhaken versehene Lianen auf die Gruppe abzufeuern. Überrascht sehen sich die Minotauren um und müssen entsetzt feststellen, wie einige dieser Lianen in ihrer Nähe in Baumstämme einschlagen und dort scheinbar sofort Wurzeln treiben. „Sieht nicht gut aus!“, ruft der zweite Soldat. „Nichts wie weg!“

Hastig eilen die Minotauren durchs Unterholz. Nach einer Weile scheinen sie außer Gefahr zu sein und kümmern sich gegenseitig um ihre Gefährten. Offenbar ist niemand von einer der Lianen getroffen worden. „Ich kann diesen Dschungel nicht ausstehen“, meint der zweite Soldat. „Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen“, antwortet Ashtavede.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #146 am: 6.07.2021 | 01:07 »
Am Vorabend des Festes der geschlüpften Schildkröten treffen Mujeeb Gashkari und der zweite Advokat am Rand der Gemeinde Rhomoon bei Messenio Burcanus ein, um auf dessen Gesellschaft als Abendunterhaltung ihre Dienste anzubieten. Im Hause des Kaffeepflanzers ist eine illustre Gesellschaft zusammengekommen. Mujeeb und der zweite Advokat bekommen ein wenig zu Essen und lauschen einem Geschichtenerzähler. Dann erscheint Messenio, der Gastgeber, in einem imposanten Aufzug. Er ist in der Art eines Feldherrn gekleidet und bewaffnet. Offenbar kennt der Geschichtenerzähler Messenios Interessen und schwenkt geschickt auf Schilderungen aus dem Immerkrieg über. Hin und wieder wirft sich Messenio zu den blutrünstigen Erzählungen von Dschungelschlachten und Feldzügen durch mückenverseuchte Regenwälder in Pose. Er scheint den Feldherren der Erzählungen fast nachstellen zu wollen. Einige Gäste schauen ihm interessiert zu, andere sind irritiert oder belächeln ihn ein wenig. Der zweite Advokat versucht ein paar Worte an ihn zu richten, die knapp, aber mit einem feundschaftlichen, etwas kumpelhaften Ton erwidert werden.

Dann ist Mujeeb Gashkari und der zweite Advokat an der Reihe die Gesellschaft zu unterhalten. Natürlich hat der Hausherr den Vortritt und bekommt als erster ein Orakel. Mujeebs Spruch für Messenio Burcanus lautet: „Wenn ihr euer Können einsetzt, um Ereignisse zu euren Gunsten zu beeinflussen, werdet ihr von der Umwelt neu beurteilt werden!“ Messenio ist zufrieden mit dem Spruch und sieht ihn als Ermutigung, seine Fertigkeiten als Feldherr unter Beweis zu stellen. Er versorgt Mujeeb und seinen Assistenten mit Getränken, lobt sie vor seinen Gästen und erreicht dadurch, dass sich noch einige andere ein Orakel verkünden lassen. Mujeeb nimmt an diesem Abend relativ viele Samenkörner ein, da er aber auch zur Vorbereitung der Orakel viele giftige Bienen zerkaut, ist er hinterher völlig benebelt und legt sich erschöpft auf ein Kissenlager.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Gesellschaft zu lockeren Gesprächen übergegangen. Der zweite Advokat lauscht ihren Berichten und hört dann plötzlich, wie ein Mann von Kanta Planudes, dem „Nachbarn mit dem Olivenhain“, berichtet. Seinen Worten zufolge treibe sich hier in der Gegend seit einigen Tagen zwielichtiges Gesindel herum. Eine dieser zweifelhaften Figuren sei erst kürzlich mit einem Sack voller Samenkörner aus dem Haus des Olivenbauern gekommen. Der zweite Advokat spricht den Gast auf seinen Bericht an und erfährt noch, dass es sich bei dem Finsterling um einen gewissen Gaureeshankar Azam aus Takaundanyi gehandelt haben soll. Der zweite Advokat nickt grimmig. Er weiß, dass Gaureeshankar Azam der Mann ist, der anderen Stierzecken zusteckt, damit sie damit Minotauren peinigen können.

Am Ende der Feier bekommt der zweite Advokat noch für einen kurzen Moment die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Hausherrn. Er gewinnt den Eindruck, dass es sich um einen halbwegs passablen Angehörigen der oberen Schichten handelt. Sicher ist Messenio Burcanus verschroben, vielleicht auch etwas irre, aber er spricht fast wie zu einem Menschen mit ihm und fordert ihn öfter auf, sich etwas zu essen zu nehmen. Die Gelegenheit wäre da, dem Mann im Sinne Kanta Planudes zu einem Feldzug in den Dschungel zu überzeugen. „Will ich das denn überhaupt?“, fragt sich aber der zweite Advokat. „Kanta Planudes ist doch viel unsympathischer als dieser harmlose, gutmütige Spinner hier“. Daher lobt der zweite Advokat einfach noch ein wenig die Kaffeeplantage seines Gastgebers, packt seine Sachen zusammen, schultert den dösenden Mujeeb und begibt sich mit ihm ins Haus der Diener. Er sucht dort für sich und den Orakelmann einen Schlafplatz und wacht erst am späten Vormittag wieder auf.
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #147 am: 6.07.2021 | 01:07 »
Gegen Abend kämpfen sich Saibhang, der erste Advokat, Ashtavede und die beiden Soldaten noch immer durch den Urwald. Alle vier Minotauren sind damit beschäftigt, zusammenzubleiben und einen sicheren Weg einzuschlagen. Daher fällt auch nicht sofort auf, dass es Ashtavede offensichtlich nicht gut geht. Irgendwann sagt er aber: „Macht langsam mit mir!“ Saibhang sieht sich beunruhigt nach ihm um und merkt, wie ihm die Hände zittern. „Ashtavede, was ist los mit dir?“, will er wissen. Der tätowierte Minotaur aber setzt sich stöhnend an einen großen Baum und schweigt. Eine genauere Untersuchung ergibt, dass Ashtavede fiebert und unter Schüttelfrost, vielleicht sogar leichten Krämpfen leidet. Eine Weile verschwindet er hinter dem Baum und müht sich mit seiner Verdauung, mit der es auch nicht zum Besten steht. „Ich nehme an, er ist von einem bösen Geist besessen, der ihm das Sumpffieber gebracht hat“, sagt der zweite Soldat. „Wie gefährlich ist das für uns Minotauren“, fragt der erste Soldat. „Ich bin nicht sicher, aber wir sollten wohl ein Lager hier aufschlagen“, meint der zweite Soldat.

Wie sich ein solcher Geist vertreiben lässt, weiß keiner der Anwesenden. Die Nacht verbringen sie deshalb in große Blätter gewickelt. Abwechselnd wachen die Soldaten und Saibhang und hören dabei dem nächtlichen Dschungel und dem stöhnenden Ashtavede zu.
« Letzte Änderung: 6.07.2021 | 10:49 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #148 am: 6.07.2021 | 01:08 »
Der Anführer ist inzwischen wieder in seine Fischerhütte am Vadhm zurückgekehrt. Er bereitet gerade mit seiner Herde eine leichte Suppe zu, als eine junge Frau von der Straße aus auf seine Kochstelle zutritt. Es ist das Küchenmädchen Tasleem aus dem Amphitheater, die ihn bei seiner Flucht unterstützt hat. Mit ernstem Gesichtsausdruck setzt sie sich zu den Minotauren ans Feuer und sagt: „Ich habe dich gefunden, Rind! Sicherlich erinnerst du dich, dass du mir noch einen Gefallen schuldest.“ Der Anführer will wissen, wovon sie spricht, und so hilft sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge: „Du hast mir versprochen, dafür zu sorgen, dass vergangene Schmach gerächt wird. Der Schuldige ist dein Nachbar: Ayatashatru!“ Mit diesen Worten greift in ihren Rucksack und holt ein Bündel hervor, das sie vor dem Anführer aufrollt. Vor ihm liegen schließlich ein Blasrohr und eine handvoll Pfeile, deren Spitzen mit einer grünlich harzigen Substanz bestrichen sind. Tasleem sagt: „Das Werkzeug zur Rache habe ich bereits mitgebracht. Du musst es nur verwenden und wir sind quitt.“ Die Holzsammler und der Sänger schauen den Anführer mit großen Augen an, der aber nicht ganz so einverstanden mit dem Vorhaben Tasleems zu sein scheint. Er fragt: „Worum geht es überhaupt? Was hat dir der junge Herr getan?“ Tasleem erzählt widerwillig, dass sie eine Liebesbeziehung zu Ayatashatru hatte, die von seiner Seite aus den verwerflichsten Gründen beendet wurde. Der Anführer will, wissen, was sich Ayatashatru zu Schulden kommen lassen hat und Tasleem erzählt davon, wie er bei ihren zweisamen Treffen immer mehr von irgendwelchen abnormalen Vorstellungen besessen gewesen sei. Er gab sich grob, irgendwie animalisch und tat ihr weh, auch wenn sie darüber klagte. Am Ende verlangte er, beim Liebesspiel mit ihr einen Minotaurenumhang zu tragen. Das sei zu viel für sie gewesen. Tasleem beendet ihren Bericht: „Weil dieser verwöhnte Abschaum der Gesellschaft mit mir nicht seine perversen Gelüste befriedigen konnte, hat er mich ausgespuckt wie scharfen Rettich. Letztlich hat er auch dein Volk beleidigt. Daher muss er sterben. Niemand macht mit mir das, was er getan hat! Nimm das Blasrohr und beschieße ihn! Damit hast du deine Rettung bezahlt.“

Der Anführer beginnt auf Tasleem einzureden. Er zeigt zwar Verständnis für Tasleems Verletztsein, rät ihr aber, sich einfach nach einem anderen Mann umzusehen. Ayatashatru könne schließlich auch nichts für seine Veranlagung. Tasleem sagt: „Höre, Rind: Er hat mich nicht verlassen, er hat mich in meiner Würde verletzt. Das ist unverzeihlich!“ Der Anführer beginnt daraufhin Tasleem auf die Verhältnismäßigkeit ihrer Reaktion hinzuweisen: „Er hat dir wehgetan, mag sein. Du aber willst ihn ermorden lassen!“ Im Folgenden entsteht Streit, der von den anwesenden Holzsammlern und dem Sänger besorgt mitverfolgt wird. Tasleem zeigt sich störrisch und weist den Anführer darauf hin, dass er in ihrer Schuld stehe. Am Ende fragt sie ihn erregt, was er sich eigentlich einbilde: Er sei ein armseliger Minotaur, den sie aus dem Kerker befreit habe, wo bliebe da seine Dankbarkeit? Aber auch der Anführer wird lauter und erzählt ihr, dass er wegen irgendwelcher Liebesgeschichten niemals zum Mörder werde. Tasleem rollt ihr Blasrohr und ihre Pfeile wieder zusammen und brüllt: „Du wirst sehen, was du davon hast, du davongelaufener Sklave!“ Der Anführer brüllt zurück: „Ich sterbe lieber im Amphitheater, als für ein eingebildetes Küchenmädchen zum Mörder zu werden!“ Dieser Verlauf des Gesprächs allerdings wirft den Anführer aus der Bahn. Es fühlt sich für ihn so an, als bilde sich in seinem Netzmagen ein schwerer Stein. Einen Moment lang stützt er sich auf einen seiner Holzsammler. Der Sänger fragt ihn bang: „Ist euch nicht gut, Flussgesegneter?“ Dann aber brüllt der Anführer so laut er kann, stößt Tasleem zur Seite und stürmt in Richtung Dschungel davon.

Tasleem, die Holzsammler und der Sänger schauen sich an. Schließlich sagt der Sänger zu der jungen Frau: „Er hat den Ruf des Dschungels gehört. Es ist besser, wenn ihr jetzt geht.“ Schweigend steht Tasleem vom Feuer auf und geht ohne ein weiteres Wort davon.
« Letzte Änderung: 6.07.2021 | 10:53 von Chiarina »
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Re: [The Clay That Woke] Landschaft mit dem Sturz des Ikarus
« Antwort #149 am: 6.07.2021 | 01:13 »
Am nächsten Morgen scheint es Ashtavede etwas besser zu gehen. Er sagt: „Hier zu bleiben führt zu nichts. Ich will sehen, ob ich nicht ein Stück mit euch weitergehen kann.“ Etwas mühsam richtet er sich auf und setzt sich mit Saibhang, dem ersten Advokaten, und den beiden Soldaten in Bewegung. Schon bald wird allerdings deutlich, dass Ashtavede seine Krankheit noch nicht überwunden hat. Er stützt sich immer wieder mit einer heißen, feuchten Hand auf die Schulter des zweiten Soldaten und zittert auch ein wenig. Besorgt schauen sich die Expeditionsteilnehmer nach ihrem Freund um.

Etwas später erreichen die Minotauren mitten im Dschungel eine morastige Wiese mit vielen kleinen, roten Blumen. Während sie sich mit Ashtavede über das Feld schleppen erklingt plötzlich eine Stimme, die aus allen Richtungen zu kommen scheint: „Das sieht nach schlechter Vorbereitung aus! Wie seid ihr nur in diese ungünstige Lage geraten?“ Die Minotauren schauen sich um, sehen aber niemanden, und halten inne. Der zweite Soldat spricht: „Wer spricht? Gib dich zu erkennen!“ Die Antwort lautet: „Ich spreche. Das muss reichen. Traut ihr euren Ohren nicht? Habt ihr mahuwa-Schnaps getrunken? Was seid ihr für eine armselige Truppe!“ Der zweite Soldat sagt: „Du magst Recht haben, kannst du uns aber irgendwie behilflich sein? Wir haben einen Kranken dabei, der offenbar von einem übelwollenden Geist besessen ist.“ Die Stimme spricht: „Das Glück ist mit den Trotteln! Geht einfach noch ein paar Schritt weiter. Am Ende des Feldes gibt es ein paar Tümpel, in denen es von Blutegeln nur so wimmelt. Ihr müsst ein paar dieser Tierchen auf den Leib eures kranken Gefährten setzen. Sie werden den bösen Geist aus ihm heraussaugen.“

Während der zweite Soldat für Ashtavede eine geeignete Ruhestelle sucht, suchen Saibhang und der erste Soldat auf dem immer schlammiger werdenden hinteren Teil der Wiese nach den erwähnten Blutegeln. Schließlich erreichen sie drei kleine Tümpel, in denen es von diesen Lebewesen nur so wimmelt. Die beiden Minotauren fischen etwa ein Dutzend der Egel aus dem Wasser, kehren zu Ashtavede zurück und setzen sie ihm auf den Leib. Es dauert nicht allzu lang und Ashtavede fällt in eine gnädige Ohnmacht.

Der zweite Soldat schaut sich erneut auf der Wiese um, aber es ist noch immer niemand zu sehen. Er sagt: „Wir danken dir, aber willst du uns nicht verraten, mit wem wir es zu tun haben?“ „Euch muss man alles ganz genau erklären, nicht wahr? Ich bin die rote Stimme, und offensichtlich ist es meine Aufgabe, Minotauren zu helfen, die nicht selbst auf sich aufpassen können.“ „Oh!“, sagt Saibhang, „die rote Stimme! Wir durften bereits die stille und die helle Stimme kennenlernen!“ „Ihr seid dankbar dafür? Habt ihr nicht gemerkt, dass die beiden völlig idiotisch sind?“ „Nun“, sagt Saibhang verlegen, „bist du nicht in gewisser Weise verwandt mit ihnen? Wir wollten dir nicht zu nahetreten.“ „Und deshalb verstellt ihr euch und redet dummes Zeug? Ihr scheint mir auch nicht besser zu sein als die anderen Stimmen. Wahrscheinlich seid ihr ihnen schon komplett auf den Leim gegangen.“ Der erste Soldat versucht dem Gespräch eine Wendung zu geben und sagt: „Es ist also wahr? Ihr seid in gewisser Weise verwandt?“ „Ich kann es leider nicht völlig von mir weisen, Söhnchen! Wir drei sind das, was vom Geist eures Stammvaters übriggeblieben ist. In gewisser Weise bewegen wir uns über, unter und in den Minotauren. Dass ihr allerdings hier mit mir sprechen könnt, habt ihr allein meiner Mildtätigkeit zu verdanken.“ „Oh, vielen Dank auch dafür!“, beeilt sich der erste Soldat zu versichern.

Saibhang übernimmt das Gespräch und sagt: „Die stille und die helle Stimme hatten in gewisser Weise beide eine Art Botschaft für uns. Gibt es etwas, was du uns mitteilen willst?“ „Reicht es nicht, dass ich euren Kameraden rette?“, fragt die rote Stimme. „Mein Hinweis wird ihm das Leben retten, über euer Verhalten habe ich bisher nichts gesagt. Vielleicht sollte euch das zu denken geben!“ „Wie meinst du das?“, fragt der zweite Soldat. „Was soll ich armseligen Kreaturen wie euch raten?“, fragt die rote Stimme. „Schaut euch an, wie ihr hier in den Dschungel hineingeraten seid! Völlig ohne jede Vorbereitung! Und jetzt wollt ihr irgendeinen Rat von mir, der alle eure Probleme löst? Wie verblendet seid ihr eigentlich?“ „Nun, wir nehmen auch einen kleinen Tipp. Wenn er uns einen Schritt weiterbringt, sind wir bereits dankbar!“

Die rote Stimme lässt ein verächtliches Schnauben ertönen. Dann aber sagt sie: „Einverstanden. Ich werde euch eine kleine Geschichte aus einer fernen Vergangenheit erzählen. Mehr könnt ihr nicht verlangen.“ Erwartungsvoll setzen sich die Minotauren neben den schlafenden Ashtavede und hören zu. „Vor langer Zeit lebte Schaschbukkaho im Dschungel. Er war ein mächtiger Krieger und Herrscher, stark und mutig, niemand kam ihm gleich. Schaschbukkaho hielt die Pflanzen im Zaum und wies den Tieren feste Reviere zu. So hatte alles seine Ordnung und die Welt konnte weiter existieren. Dann aber schickten die Menschen aus der Stadt viele Krieger in den Dschungel und bekämpften die dort lebenden Kreaturen, sich selbst und auch Schaschbukkaho. Lange blieb Schaschbukkaho siegreich und tötete viele Gegner. Schließlich aber unterlag er und wurde von seinen Gegnern in Stücke gerissen. Schaschbukkaho aber war noch nicht gänzlich tot, in seinen Gliedern befand sich noch Leben. Einige der Glieder wälzten sich in den Fluss und wurden in die Stadt geschwemmt. Andere blieben im Dschungel und beschworen in sehnsuchtsvollen Rufen ihre Einheit. Aber auch, wenn es später zu Begegnungen kam, wurde Schaschbukkaho nie wieder das, was er einmal war. Seine Kraft war verloren und die Welt, so wie er sie kannte, war ebenfalls verloren. Heldenhafte und mutige Taten können ihren Untergang verzögern, aufhalten lässt er sich aber nicht.“

Die Minotauren sehen sich an. Sie runzeln ihre Stirn oder pressen ihre Lippen zusammen. Schließlich sagt der zweite Soldat: „Das klingt nicht sehr vielversprechend, rote Stimme. Willst du damit sagen, dass wir den Untergang von Dégringolade nur aufschieben können?“ Ein verächtliches Lachen ist zu hören. Dann sagt die rote Stimme: „Ich sprach von heldenhaften und mutigen Taten und habe ernsthafte Zweifel daran, dass ausgerechnet ihr dazu in der Lage seid.“

Saibhang überlegt eine Weile und sagt dann: „Wir Minotauren leben nach den Gesetzen der Stille, so wie es für unser Volk in Dégringolade üblich ist. Was uns die anderen Stimmen geraten haben, klang aber danach, dass wir diese Gesetze brechen müssen. Wie stehst du zu diesen Regeln?“ Die rote Stimme sagt: „Ihr habt diese Gesetze doch ohnehin nie eingehalten! Ständig steht ihr vor irgendwelchen Entscheidungen, wisst nicht mehr ein noch aus und dreht dann durch! Ihr könnt die Gesetze der Stille im Hinterkopf behalten, sie sollten euch aber nicht davon abhalten, Entscheidungen zu treffen!“ Nachdenklich nicken Saibhang und die beiden Soldaten.

Schließlich sagt die rote Stimme: „Ich habe mich jetzt lange genug mit euch armseligen Kreaturen abgegeben. Morgen früh wird es eurem Gefährten besser gehen. Kehrt zurück in die Stadt! Der Dschungel scheint kein geeigneter Aufenthaltsort für euch zu sein. Und wenn ihr die Wiese verlasst, achtet auf die Seilfallen der Äußeren! Die Gegend hier ist nicht ganz ungefährlich!“ „Wir danken dir, rote Stimme“, sprechen schließlich Saibhang und die beiden Soldaten fast gleichzeitig. Dann rollen sie sich in große Blätter und schlafen ein.

In der Nacht erwacht Saibhang. Irgendetwas krabbelt über ihn hinweg. Er entzündet ein Holzscheit und sieht am Rande der Wiese eine goldene Schildkröte, die auf ihn zu warten scheint. Ein wenig nachdenklich betrachtet er seine schlafenden Gefährten, rüttelt dann kurz am ersten Soldaten und sagt ihm: „Ich verschwinde einen Moment, bin aber gleich zurück.“ „Mhm“, murmelt der erste Soldat mit halb geöffneten Augen schläfrig vor sich hin. Saibhang nähert sich der Schildkröte, die sich nun in Bewegung setzt. Saibhang folgt ihr eine ganze Weile lang durch den nächtlichen Dschungel. Schließlich bleibt das Tier stehen. Saibhang schaut sich um und sieht nicht weit entfernt einen Hügel, dessen Fuß auf der Saibhang zugewandten Seite von einer kleinen Felswand gebildet wird. In dieser Wand befindet sich eine Spalte, aus der helles Licht fällt.

Saibhang nähert sich vorsichtig dem Licht und glaubt den Eingang zu einer Art Höhle gefunden zu haben. Als er einen ersten Schritt ins Hügelinnere macht, begrüßt ihn eine Stimme: „Tritt näher, mein treuer Diener!“ Saibhang macht ein paar Schritte mehr und kann jetzt das Innere der Höhle einsehen. Das Licht ist hier so hell, dass Saibhang mit den Augen zwinkern muss. Nur mit Mühe kann er im Höhleninneren eine würdevoll erscheinende Gestalt erkennen, die offenbar auf einer Art Thron sitzt. Das gleißende Licht scheint die Gestalt zu umfließen und verhindert es, dass Saibhang genauere Details erkennen kann. Schließlich spricht die Gestalt zu ihm: „Sei gegrüßt, mein Sohn! Du hast den Ort gefunden, der das Ende deiner Leiden verheißt!“

Saibhang begreift relativ schnell, wem er hier gegenübersteht. Es ist die helle Stimme, von der ihm die beiden Soldaten bereits erzählt haben. Und was ihm die helle Stimme erzählt, ähnelt auch den Worten, die sie vor einiger Zeit an den Anführer, den Philosophen Lokapriya und die beiden Soldaten gerichtet hat. Sie will die Ungerechtigkeiten der Menschen von Dégringolade beseitigen und braucht dafür Saibhangs Hilfe. Ihr Plan ist es, während einer der Gladiatorenkämpfe im Aphitheater von Dégringolade auf der Ehrentribüne ein verheerendes Feuer zu entfachen, in dem die sich dort regelmäßig versammelnden „schändlichsten Bewohner der Stadt“ vernichtet werden. Dafür aber brauche sie einen Gehilfen, der sie unbemerkt ins Amphitheater bringt. Schließlich fordert sie Saibhang auf: „Nimm aus dem Regal eine der Wasserflaschen und entkorke sie. Ich werde meine Essenz im Inneren der Flasche konzentrieren. Öffne die Flasche dann erst wieder, wenn du dich während einer Veranstaltung im Amphitheater befindest. Denke an all die Demütigungen, die die Menschen dir während deines bisherigen Lebens zugefügt haben! Denke an die Brüder, deren gewaltsamen Tod du mit ansehen musstest, an die Füße, die nach dir traten und die Verbeugungen, zu denen du selbst den Unwürdigsten gegenüber gezwungen warst. Handle beherzt und verhilf mir, der hellen Stimme, zur Herrschaft, auf dass ein goldenes Zeitalter für euch Minotauren anbreche!“ Gebieterisch deutet die Lichtgestalt daraufhin auf ein Wandregal in dem ein leerer Trinkschlauch liegt.

Saibhang überlegt einen Moment, dann tritt er an das Regal heran, nimmt den Schlauch heraus und entkorkt ihn. Das Licht bündelt sich daraufhin in einer kleinen Kugel, die so hell ist, dass Saibhang sein Gesicht abwenden muss. Dann wird es plötzlich dunkel. Saibhang sieht sich um und erkennt, dass nur aus der Öffnung des Trinkschlauches ein Lichtstrahl in die Höhle fällt. Schnell verkorkt er den Schlauch woraufhin es völlig finster wird. Saibhang holt tief Luft, dann nähert er sich vorsichtig der Höhlenwand und tastet sich an ihr entlang zurück ins Freie.

Unter dem Sternenlicht entzündet er erneut ein Holzscheit, muss aber feststellen, dass die goldene Schildkröte nicht mehr aufzufinden ist. Er seufzt, denkt einen Moment nach und kehrt dann in die Höhle zurück. In den Regalen hat er ein paar Pergamente gefunden, die er sich jetzt noch ein wenig genauer ansieht. Eines von ihnen enthält einen dieser Sprüche, von denen die Gefährten schon ein paar gefunden haben. Saibhang liest:

Der Wald achtet nicht auf das Tier.
Beständig rauscht er.
Was liegt an?   
Hör zu!


Einen Moment denkt er nach, dann zuckt er mit den Schultern, steckt das Pergament ein und versucht durch den Urwald hindurch den Rückweg zur Wiese mit den roten Blumen zu finden. Nach einigen hundert Schritten hört er plötzlich über sich eine erstickte Stimme: „Hilfe! Hilf mir!“ Saibhang schaut nach oben und sieht den Anführer, der offenbar das Opfer einer Seilfalle geworden ist. Mit etwas Mühe klettert Saibhang auf einen der schlanken Bäume und schneidet den Anführer los.

Der Anführer erzählt Saibhang von seinem Erlebnis mit Tasleem, bei dem er die Kontrolle über sich verloren hatte und den Ruf des Dschungels hörte. Saibhang nimmt ihn mit zur Wiese mit den roten Blumen. Ashtavede und die beiden Soldaten schlafen. „Die drei werden Augen machen, wenn sie morgen erwachen“, sagt Saibhang zum Anführer. Dann legen sich auch er und der Anführer schlafen. Saibhang knotet die Trinkflasche sicher an seiner Kleidung fest und schläft schon bald ein.
« Letzte Änderung: 6.07.2021 | 11:07 von Chiarina »
[...] the real world has an ongoing metaplot (Night´s Black Agents, The Edom Files, S. 178)