Am nächsten Morgen scheint es Ashtavede etwas besser zu gehen. Er sagt: „Hier zu bleiben führt zu nichts. Ich will sehen, ob ich nicht ein Stück mit euch weitergehen kann.“ Etwas mühsam richtet er sich auf und setzt sich mit Saibhang, dem ersten Advokaten, und den beiden Soldaten in Bewegung. Schon bald wird allerdings deutlich, dass Ashtavede seine Krankheit noch nicht überwunden hat. Er stützt sich immer wieder mit einer heißen, feuchten Hand auf die Schulter des zweiten Soldaten und zittert auch ein wenig. Besorgt schauen sich die Expeditionsteilnehmer nach ihrem Freund um.
Etwas später erreichen die Minotauren mitten im Dschungel eine morastige Wiese mit vielen kleinen, roten Blumen. Während sie sich mit Ashtavede über das Feld schleppen erklingt plötzlich eine Stimme, die aus allen Richtungen zu kommen scheint: „Das sieht nach schlechter Vorbereitung aus! Wie seid ihr nur in diese ungünstige Lage geraten?“ Die Minotauren schauen sich um, sehen aber niemanden, und halten inne. Der zweite Soldat spricht: „Wer spricht? Gib dich zu erkennen!“ Die Antwort lautet: „Ich spreche. Das muss reichen. Traut ihr euren Ohren nicht? Habt ihr mahuwa-Schnaps getrunken? Was seid ihr für eine armselige Truppe!“ Der zweite Soldat sagt: „Du magst Recht haben, kannst du uns aber irgendwie behilflich sein? Wir haben einen Kranken dabei, der offenbar von einem übelwollenden Geist besessen ist.“ Die Stimme spricht: „Das Glück ist mit den Trotteln! Geht einfach noch ein paar Schritt weiter. Am Ende des Feldes gibt es ein paar Tümpel, in denen es von Blutegeln nur so wimmelt. Ihr müsst ein paar dieser Tierchen auf den Leib eures kranken Gefährten setzen. Sie werden den bösen Geist aus ihm heraussaugen.“
Während der zweite Soldat für Ashtavede eine geeignete Ruhestelle sucht, suchen Saibhang und der erste Soldat auf dem immer schlammiger werdenden hinteren Teil der Wiese nach den erwähnten Blutegeln. Schließlich erreichen sie drei kleine Tümpel, in denen es von diesen Lebewesen nur so wimmelt. Die beiden Minotauren fischen etwa ein Dutzend der Egel aus dem Wasser, kehren zu Ashtavede zurück und setzen sie ihm auf den Leib. Es dauert nicht allzu lang und Ashtavede fällt in eine gnädige Ohnmacht.
Der zweite Soldat schaut sich erneut auf der Wiese um, aber es ist noch immer niemand zu sehen. Er sagt: „Wir danken dir, aber willst du uns nicht verraten, mit wem wir es zu tun haben?“ „Euch muss man alles ganz genau erklären, nicht wahr? Ich bin die rote Stimme, und offensichtlich ist es meine Aufgabe, Minotauren zu helfen, die nicht selbst auf sich aufpassen können.“ „Oh!“, sagt Saibhang, „die rote Stimme! Wir durften bereits die stille und die helle Stimme kennenlernen!“ „Ihr seid dankbar dafür? Habt ihr nicht gemerkt, dass die beiden völlig idiotisch sind?“ „Nun“, sagt Saibhang verlegen, „bist du nicht in gewisser Weise verwandt mit ihnen? Wir wollten dir nicht zu nahetreten.“ „Und deshalb verstellt ihr euch und redet dummes Zeug? Ihr scheint mir auch nicht besser zu sein als die anderen Stimmen. Wahrscheinlich seid ihr ihnen schon komplett auf den Leim gegangen.“ Der erste Soldat versucht dem Gespräch eine Wendung zu geben und sagt: „Es ist also wahr? Ihr seid in gewisser Weise verwandt?“ „Ich kann es leider nicht völlig von mir weisen, Söhnchen! Wir drei sind das, was vom Geist eures Stammvaters übriggeblieben ist. In gewisser Weise bewegen wir uns über, unter und in den Minotauren. Dass ihr allerdings hier mit mir sprechen könnt, habt ihr allein meiner Mildtätigkeit zu verdanken.“ „Oh, vielen Dank auch dafür!“, beeilt sich der erste Soldat zu versichern.
Saibhang übernimmt das Gespräch und sagt: „Die stille und die helle Stimme hatten in gewisser Weise beide eine Art Botschaft für uns. Gibt es etwas, was du uns mitteilen willst?“ „Reicht es nicht, dass ich euren Kameraden rette?“, fragt die rote Stimme. „Mein Hinweis wird ihm das Leben retten, über euer Verhalten habe ich bisher nichts gesagt. Vielleicht sollte euch das zu denken geben!“ „Wie meinst du das?“, fragt der zweite Soldat. „Was soll ich armseligen Kreaturen wie euch raten?“, fragt die rote Stimme. „Schaut euch an, wie ihr hier in den Dschungel hineingeraten seid! Völlig ohne jede Vorbereitung! Und jetzt wollt ihr irgendeinen Rat von mir, der alle eure Probleme löst? Wie verblendet seid ihr eigentlich?“ „Nun, wir nehmen auch einen kleinen Tipp. Wenn er uns einen Schritt weiterbringt, sind wir bereits dankbar!“
Die rote Stimme lässt ein verächtliches Schnauben ertönen. Dann aber sagt sie: „Einverstanden. Ich werde euch eine kleine Geschichte aus einer fernen Vergangenheit erzählen. Mehr könnt ihr nicht verlangen.“ Erwartungsvoll setzen sich die Minotauren neben den schlafenden Ashtavede und hören zu. „Vor langer Zeit lebte Schaschbukkaho im Dschungel. Er war ein mächtiger Krieger und Herrscher, stark und mutig, niemand kam ihm gleich. Schaschbukkaho hielt die Pflanzen im Zaum und wies den Tieren feste Reviere zu. So hatte alles seine Ordnung und die Welt konnte weiter existieren. Dann aber schickten die Menschen aus der Stadt viele Krieger in den Dschungel und bekämpften die dort lebenden Kreaturen, sich selbst und auch Schaschbukkaho. Lange blieb Schaschbukkaho siegreich und tötete viele Gegner. Schließlich aber unterlag er und wurde von seinen Gegnern in Stücke gerissen. Schaschbukkaho aber war noch nicht gänzlich tot, in seinen Gliedern befand sich noch Leben. Einige der Glieder wälzten sich in den Fluss und wurden in die Stadt geschwemmt. Andere blieben im Dschungel und beschworen in sehnsuchtsvollen Rufen ihre Einheit. Aber auch, wenn es später zu Begegnungen kam, wurde Schaschbukkaho nie wieder das, was er einmal war. Seine Kraft war verloren und die Welt, so wie er sie kannte, war ebenfalls verloren. Heldenhafte und mutige Taten können ihren Untergang verzögern, aufhalten lässt er sich aber nicht.“
Die Minotauren sehen sich an. Sie runzeln ihre Stirn oder pressen ihre Lippen zusammen. Schließlich sagt der zweite Soldat: „Das klingt nicht sehr vielversprechend, rote Stimme. Willst du damit sagen, dass wir den Untergang von Dégringolade nur aufschieben können?“ Ein verächtliches Lachen ist zu hören. Dann sagt die rote Stimme: „Ich sprach von heldenhaften und mutigen Taten und habe ernsthafte Zweifel daran, dass ausgerechnet ihr dazu in der Lage seid.“
Saibhang überlegt eine Weile und sagt dann: „Wir Minotauren leben nach den Gesetzen der Stille, so wie es für unser Volk in Dégringolade üblich ist. Was uns die anderen Stimmen geraten haben, klang aber danach, dass wir diese Gesetze brechen müssen. Wie stehst du zu diesen Regeln?“ Die rote Stimme sagt: „Ihr habt diese Gesetze doch ohnehin nie eingehalten! Ständig steht ihr vor irgendwelchen Entscheidungen, wisst nicht mehr ein noch aus und dreht dann durch! Ihr könnt die Gesetze der Stille im Hinterkopf behalten, sie sollten euch aber nicht davon abhalten, Entscheidungen zu treffen!“ Nachdenklich nicken Saibhang und die beiden Soldaten.
Schließlich sagt die rote Stimme: „Ich habe mich jetzt lange genug mit euch armseligen Kreaturen abgegeben. Morgen früh wird es eurem Gefährten besser gehen. Kehrt zurück in die Stadt! Der Dschungel scheint kein geeigneter Aufenthaltsort für euch zu sein. Und wenn ihr die Wiese verlasst, achtet auf die Seilfallen der Äußeren! Die Gegend hier ist nicht ganz ungefährlich!“ „Wir danken dir, rote Stimme“, sprechen schließlich Saibhang und die beiden Soldaten fast gleichzeitig. Dann rollen sie sich in große Blätter und schlafen ein.
In der Nacht erwacht Saibhang. Irgendetwas krabbelt über ihn hinweg. Er entzündet ein Holzscheit und sieht am Rande der Wiese eine goldene Schildkröte, die auf ihn zu warten scheint. Ein wenig nachdenklich betrachtet er seine schlafenden Gefährten, rüttelt dann kurz am ersten Soldaten und sagt ihm: „Ich verschwinde einen Moment, bin aber gleich zurück.“ „Mhm“, murmelt der erste Soldat mit halb geöffneten Augen schläfrig vor sich hin. Saibhang nähert sich der Schildkröte, die sich nun in Bewegung setzt. Saibhang folgt ihr eine ganze Weile lang durch den nächtlichen Dschungel. Schließlich bleibt das Tier stehen. Saibhang schaut sich um und sieht nicht weit entfernt einen Hügel, dessen Fuß auf der Saibhang zugewandten Seite von einer kleinen Felswand gebildet wird. In dieser Wand befindet sich eine Spalte, aus der helles Licht fällt.
Saibhang nähert sich vorsichtig dem Licht und glaubt den Eingang zu einer Art Höhle gefunden zu haben. Als er einen ersten Schritt ins Hügelinnere macht, begrüßt ihn eine Stimme: „Tritt näher, mein treuer Diener!“ Saibhang macht ein paar Schritte mehr und kann jetzt das Innere der Höhle einsehen. Das Licht ist hier so hell, dass Saibhang mit den Augen zwinkern muss. Nur mit Mühe kann er im Höhleninneren eine würdevoll erscheinende Gestalt erkennen, die offenbar auf einer Art Thron sitzt. Das gleißende Licht scheint die Gestalt zu umfließen und verhindert es, dass Saibhang genauere Details erkennen kann. Schließlich spricht die Gestalt zu ihm: „Sei gegrüßt, mein Sohn! Du hast den Ort gefunden, der das Ende deiner Leiden verheißt!“
Saibhang begreift relativ schnell, wem er hier gegenübersteht. Es ist die helle Stimme, von der ihm die beiden Soldaten bereits erzählt haben. Und was ihm die helle Stimme erzählt, ähnelt auch den Worten, die sie vor einiger Zeit an den Anführer, den Philosophen Lokapriya und die beiden Soldaten gerichtet hat. Sie will die Ungerechtigkeiten der Menschen von Dégringolade beseitigen und braucht dafür Saibhangs Hilfe. Ihr Plan ist es, während einer der Gladiatorenkämpfe im Aphitheater von Dégringolade auf der Ehrentribüne ein verheerendes Feuer zu entfachen, in dem die sich dort regelmäßig versammelnden „schändlichsten Bewohner der Stadt“ vernichtet werden. Dafür aber brauche sie einen Gehilfen, der sie unbemerkt ins Amphitheater bringt. Schließlich fordert sie Saibhang auf: „Nimm aus dem Regal eine der Wasserflaschen und entkorke sie. Ich werde meine Essenz im Inneren der Flasche konzentrieren. Öffne die Flasche dann erst wieder, wenn du dich während einer Veranstaltung im Amphitheater befindest. Denke an all die Demütigungen, die die Menschen dir während deines bisherigen Lebens zugefügt haben! Denke an die Brüder, deren gewaltsamen Tod du mit ansehen musstest, an die Füße, die nach dir traten und die Verbeugungen, zu denen du selbst den Unwürdigsten gegenüber gezwungen warst. Handle beherzt und verhilf mir, der hellen Stimme, zur Herrschaft, auf dass ein goldenes Zeitalter für euch Minotauren anbreche!“ Gebieterisch deutet die Lichtgestalt daraufhin auf ein Wandregal in dem ein leerer Trinkschlauch liegt.
Saibhang überlegt einen Moment, dann tritt er an das Regal heran, nimmt den Schlauch heraus und entkorkt ihn. Das Licht bündelt sich daraufhin in einer kleinen Kugel, die so hell ist, dass Saibhang sein Gesicht abwenden muss. Dann wird es plötzlich dunkel. Saibhang sieht sich um und erkennt, dass nur aus der Öffnung des Trinkschlauches ein Lichtstrahl in die Höhle fällt. Schnell verkorkt er den Schlauch woraufhin es völlig finster wird. Saibhang holt tief Luft, dann nähert er sich vorsichtig der Höhlenwand und tastet sich an ihr entlang zurück ins Freie.
Unter dem Sternenlicht entzündet er erneut ein Holzscheit, muss aber feststellen, dass die goldene Schildkröte nicht mehr aufzufinden ist. Er seufzt, denkt einen Moment nach und kehrt dann in die Höhle zurück. In den Regalen hat er ein paar Pergamente gefunden, die er sich jetzt noch ein wenig genauer ansieht. Eines von ihnen enthält einen dieser Sprüche, von denen die Gefährten schon ein paar gefunden haben. Saibhang liest:
Der Wald achtet nicht auf das Tier.
Beständig rauscht er.
Was liegt an?
Hör zu!
Einen Moment denkt er nach, dann zuckt er mit den Schultern, steckt das Pergament ein und versucht durch den Urwald hindurch den Rückweg zur Wiese mit den roten Blumen zu finden. Nach einigen hundert Schritten hört er plötzlich über sich eine erstickte Stimme: „Hilfe! Hilf mir!“ Saibhang schaut nach oben und sieht den Anführer, der offenbar das Opfer einer Seilfalle geworden ist. Mit etwas Mühe klettert Saibhang auf einen der schlanken Bäume und schneidet den Anführer los.
Der Anführer erzählt Saibhang von seinem Erlebnis mit Tasleem, bei dem er die Kontrolle über sich verloren hatte und den Ruf des Dschungels hörte. Saibhang nimmt ihn mit zur Wiese mit den roten Blumen. Ashtavede und die beiden Soldaten schlafen. „Die drei werden Augen machen, wenn sie morgen erwachen“, sagt Saibhang zum Anführer. Dann legen sich auch er und der Anführer schlafen. Saibhang knotet die Trinkflasche sicher an seiner Kleidung fest und schläft schon bald ein.