Charlie und die Scheuklappenfabrik
eine Geschichte mit n Moralen (n ist Element der natürlichen Zahlen inkl. 0)
Ich möchte eine kurze Geschichte mit euch teilen, die ich in letzter Zeit öfter als Beispiel verwende. Vielleicht gefällt sie euch ja.
Diese Parabel verwendet D&D, weil es ein sehr klares Beispiel liefert – und aus anderen Gründen, die unten noch klarer werden. Das sollte aber nicht als Kritik an oder Beschränkung auf D&D gesehen werden. Es ist bloß ein opportunes Beispiel für etwas, das ähnlich in fast allen Rollenspielen auftritt.
Stellen wir uns drei Rollenspieler*innen vor, nennen wir sie ganz traditionell Alice, Bob und Charlie. Die drei stiegen mit Dungeons & Dragons ein und spielten es nun schon eine Weile. Sie sind richtige Fans des Rollenspiels geworden und wollen jetzt möglichst vielfältige Spielerfahrungen machen. Sie möchten erleben, was ihr neues Hobby noch alles für sie bereithält.
Sie sitzen zusammen und besprechen, wie sie dieses Ziel angehen wollen.
Alice beschließt: „Ich mag Magier und möchte jeden Spruch im Spielerhandbuch mindestens einmal zaubern.“
Bob dagegen will mehr: „Ich möchte jedes Volk und jede Klasse im Spielerhandbuch mindestens einmal spielen. Nicht jede Kombination, das wäre ja unmöglich, aber jedes Einzelteil.“
Charlie dagegen geht die Sache ganz anders an. Ihr Plan lautet: „Ich möchte auf jeder Stufe des klassischen Lebensweges einmal eine Figur verkörpert haben: ein Kind, einen Jugendlichen, einen jungen Erwachsenen, jemand Verliebtes, einen Ehepartner, einen Elternteil, einen Großelternteil, einen Rentner und einen Sterbenden. Vielleicht erweitere ich es noch etwas – zum Beispiel ein Adoptivkind oder jemanden, der nicht an Altersschwäche, sondern an Krankheit stirbt.“
Man mag unterschiedlicher Meinung sein, welche dieser Optionen einem mehr zusagt. Das ist Geschmackssache. Vielleicht findet man die Idee absurd, einen Elternteil zu spielen. Aber es scheint mir schwer abzustreiten, dass Charlie vielfältigere Rollenspielerfahrungen machen wird als ihre Mitspieler*innen.
Die Moral(en) von der Geschicht’
Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Geschichte eine Moral hat. Ich verwende sie bloß gerne als Beispiel, um zu verdeutlichen:
(a) Die Erwartungen, die ein Rollenspiel durch seine Optionen und Vokabeln erzeugt, sind oft viel wichtiger für die Spielentscheidungen als die harten Regeln, weil sie bestimmen, in welche Richtungen wir überhaupt losdenken, bevor wir uns fragen, ob oder wie die Regeln das abbilden können. Es gibt nichts in den D&D-Regeln, was das Spielen von Greisen verbieten würde. In manchen Editionen gibt es dafür sogar Regeln im Grundbuch. Aber die erzeugten Erwartungen passen wenig hierzu.
(b) Deshalb können ganz weiche Anstöße sehr viel bewirken. Hätte das Charakterblatt direkt auf der ersten Seite ein Feld zu den Familienangehörigen (was in mittelalterlichen Großfamilien eigentlich Sinn ergäbe), dann hätte Charlies Wahl wenige überrascht. (Aus ähnlichen Gründen spielen viele Leute die WoD ganz anders, als die harten Regeln andeuten mögen, weil sie sich nach der Verpackung der Regeln richten.)
(c) Ein System oder einige wenige Systeme als Platzhirsch(e) zu haben, beschränkt die Vielfalt im Rollenspiel, weil dadurch die Scheuklappen regieren. Den meisten Spielern bleiben dann viele Möglichkeiten verwehrt, nicht weil das System oder die Spielleitung sie verböte, sondern weil die Spieler selbst gar nicht erst an sie denken.
(d) Ich spiele bei D&D fast immer Menschen und finde andere Völker ziemlich egal. Das verwundert viele Rollenspieler, aber wenn man einmal angefangen hat, auf Charlies Ebene über Rollenspiel nachzudenken, dann kümmert einen dieses Element einfach wenig. Ob ein Charakter Kinder hat, ist erheblich bedeutender als, ob er Nachtsicht hat. Das ist mir doch egal.
(e) Ich bin sicher, euch fallen noch mehr ein…