Ich werfe mal noch eine Beobachtung ein: Fast alle Posts gehen davon aus, dass Rollenspiele eine Geschichte erzählen sollen. Ich weiß, dass das eine gebräuchliche KONVENTION ist, aber in meinen Augen ist es absolut nicht selbstverständlich oder die einzige Möglichkeit, zumindest wenn wir „Geschichte“ im Sinne eines Buchs, eines Films o.ä. verstehen -- das noch weiter zu abstrahieren, Führt dann weg von einer pragmatischen Diskussion. Spiele können aber auch vorrangig kompetitiv sein (Mensch ärgere dich nicht), sie können vorrangig unseren Sammlerdrang ansprechen (Pokemon), sie können einfach Spaß an Humor und Randomness erzeugen (Twister). Und natürlich gibt es auch schon eine Menge Rollenspiele, die die Geschichte an zweite Stelle stellen oder ganz außen vor lassen.
Was dann auch wieder zurück zu frühem D&D führt: Ich meine, klar erzählen die Con-Dungeons, die mit Bestenlisten gespielt wurden, irgendeine Geschichte im Sinne von „emergent Storytelling“, aber das ist nicht der Grund, aus dem man die gespielt hat.
(Nur zur Sicherheit: Mir geht es aber nicht darum, zu diesen „Glory Days“ zurückzukehren, ne? Ich will nur mal infragestellen, ob es abseits dieser scheinbaren Extreme nicht auch andere Richtungen gibt, in die man sich hätte bewegen können — und ob der Fokus auf wahlweise klassisches D&D oder aber „Geschichten erzählen“ uns nicht künstlich einschränkt.)
Und exakt deshalb verstehe ich nicht, warum du wie natürlich davon ausgehst, dass moderne Indies sich bewusst in Opposition zu D&D begeben. Natürlich ist D&D noch das große Ding (das sich aber, seien wir so fair, auch über die Editionen immer wieder ganz neu erfunden hat – zu D&D4-Zeiten waren die Absetzbewegungen auf Indie-Seite ja vor allem von der OSR geprägt, die zu einem altschuligen Spielerlebnis hin wollten.) Man muss aber auch bedenken, dass Rollenspiel inzwischen fast 50 Jahre alt ist. Und während dieser Zeit gab es einige Spiele, die die Szene maßgeblich beeinflusst haben. Traveller. Shadowrun. Amber Diceless. Die oWoD. Die erste Generation Forge-Indies. Die OSR. Um nur einige zu nennen.
Und dann eben pauschal zu sagen: "Moderne Indies sind immer noch selbstbewusst sehr anders als D&D" – das ist für mich als würde man sagen "Moderner HipHop grenzt sich selbstbewusst vom Blues ab." Oder "Moderner Actionfilm grenzt sich selbstbewusst vom 50er-Jahre Film Noir ab." Das ist alles nicht falsch. Aber so richtig richtig ist es auch nicht. Die Triebfedern für die Abgrenzung liegen nicht in D&D begründet, sondern in anderen Rollenspielen. Fate ist keine Antwort auch D&D. Ich würde sagen es ist eine Antwort auf GURPS. Und Monsterhearts und Liminal? Die antworten auf Vampire. Sogar Vampire 5 antwortet auf Vampire.
D&D (oder besser vielleicht sogar Chainmail) waren natürlich ursächlich für die Entwicklung des Hobbies. Aber inzwischen gibt es andere Einflüsse, zu denen man sich in Abgrenzung begeben kann. Auch Fremdeinflüsse, wie etwa das Improtheater, das für viele Indies im narrativen Bereich ein wichtiger Bezugspunkt wurde.
Ich würde dahingehend auch annehmen, dass es wirklich Indie-Rollenspiele gibt, die sich weitgehend vom Prinzip
Spiel entfernen: "Itras By" fiele mir da ein, was nicht nur auf Würfel verzichtet, sondern überhaupt auf quantifizierbare Werte. Oder auch Fiasco, wo die Würfel mehr Steuerungsmechanismus sind als alles andere. Und dann gäbe es noch die Indies, die ihren narrativen Ansatz so ausdeuten, dass sie eben keine Geschichte im klassischen linearen Sinn erzählen wollen, sondern eben den emergenten Aspekt des Mediums in den Fokus rücken, ohne dabei gleich gamistisch oder simulationistisch zu sein – im Grunde wäre das der Gegenentwurf zu "Thematischen Rollenspielen" (Super Begriff, vielleicht wäre auch "Motivische Rollenspiele" passend), die ja bewusst auf einen "Geschichtskomplex" abzielen.
Beispiele für die Variante "Geschichtsloser Storygames" (for lack of a better term) wäre sowas wie "I'm sorry, did you say street magic", wo man eine Stadt erschafft, als eine Ansammlung kleiner Momente, Beschreibungen und Einzelerfahrungen, mit der man weder wirklich eine Story erzählt, noch modelliert oder simuliert – hier geht es wenn überhaupt um "Geschichten", die sich emergent aus den Beschreibungen ergeben. Im Grunde "Visual Storytelling" ohne Bilder. Und das grenzt sich zu D&D gar nicht so ausdrücklich ab.
Und dann hätten wir im Bereich der thematischen Rollenspiele noch die, ich nenne sie mal, "Thematischen LARPs", bei denen die Grenze zwischen Pen&Paper und Live-Rollenspiel verschwimmt, weil der Live-Teil ziemlich abstrakt und der Rahmen sehr klein ist. "Shelter in Place" wäre da vielleicht ein Beispiel. Die haben sich sicherlich auch vom Norwegian LARP inspirieren lassen.
Und dann sollten wir vielleicht noch die umgekehrte Richtung mit in den Blick nehmen – damit meine ich nicht, dass D&Dige Spiele sich von Indies inspirieren lassen. Viel grundsätzlicher über Spielformen hinweg: Es gibt inzwischen nicht wenige Brettspiele (die ja als Spielform D&D zumindest mit beeinflusst haben), die sich jetzt von Storygames oder Impro-Games beeinflussen lassen. Sei es sowas wie "King's Dilemma" oder Deduktionsspiele allgemein. Seien es Legacy-Games, wo die "Story" mit jedem Mal Spielen unabänderlich und emergent voranschreitet.