Dieses Thema liegt mir auch sehr am Herzen, leider redet man dabei oft aneinander vorbei, weil die Erfahrungshorizonte einfach so unterschiedlich sind. Ich finde den Ausgangsbeitrag eigentlich schon sehr gut auf den Punkt und möchte mir den für mich entscheidenden Punkt hier herausgreifen:
Falls man also nicht in der Gruppe die Entwicklungslinien und denkbare Schlüsselszenen planen und absprechen (und dann nur noch nachspielen?) will, sondern "frei" spielt (play to find out?), sind glaubhafte Entwicklungen irgendwie recht schwierig.
Diese Vorstellung des "dann nur noch nachspielens", die hält sich so hartnäckig und die steht so im diametralen Gegensatz zu den Runden, die ich am Allerliebsten spiele. Dabei werden Charaktere so angelegt, dass sie bestimmte offene Fragen, Konflikte oder Themen mitbringen, die im Spiel verhandelt und dramaturgisch durchgespielt werden sollen. Das wissen auch alle, also nicht nur der SL. Auch die Backstory-Geheimnisse sind der ganzen Gruppe vorher bekannt, sodass auch die anderen Mitspieler diese entsprechend anspielen können, selbst wenn ihre Charaktere noch nichts davon ahnen.
Letztendlich zeichnet sich dieser Spielstil durch mehr Vorbereitung und weniger Improvisation aus, als "play to find out" im Sinne der pbtA-Systeme. Im Vorwege wird bereits an den Charakteren und der Gruppenkonstellation gefeilt, es wird bereits gedanklich durchgespielt, wohin es laufen
könnte, um auszuschließen, dass das Set-up eine Sackgasse darstellt. Es können auch schon grobe Linien skizziert werden, in welche Richtung es dann gehen soll oder welche Wendungen/Entwicklungen im Spiel dann auf jeden Fall kommen sollen. Und der SL richtet seine Vorbereitung natürlich auch daran aus und plant in Akt-Strukturen und Szenen. Trotzdem ist das, was hinterher passiert, viel mehr als nur einfaches "nachspielen", denn allein durch die Tatsache, dass man das kooperativ mir vier, fünf, sechs Leuten zusammen macht, ergibt sich immer genug an überraschenden Wendungen, vielleicht nicht in den ganz groben Eckpunkten aber auf jeden Fall im Detail. Und außerdem ganz wesentlich ist dabei der darstellerische, erzählerische, ich bin versucht zu sagen: künstlerische Aspekt. Es reicht halt nicht, dass mein Charakter einen klar angelegten "Saulus zum Paulus" Arc hat, von dem jeder ahnt, dass er kommen wird. Sondern ich muss es eben dann auch umsetzen, das Timing, den Dialog, die Darstellung, es muss unterhaltsam sein und meine Mitspieler müssen es mir abkaufen, ich kann es auch nicht alleine, ich brauche das Zuspiel im richtigen Moment, das ist eben genau das, worum es bei uns geht (für Forge-Affine: die "Fruitful Void").
Für mich und einige Gleichgesinnte, mit denen ich viele denkwürdige Runden gespielt habe, ist dafür gute Vorbereitung sehr wesentlich, und das geht dann einfach mit einem gewissen Maß an Planung auch einher. Dadurch wird unser Spielerlebnis nuancierter, komplexer und ultimativ befriedigender. Es ist meiner Erfahrung nach überhaupt gar nicht so, dass es dann ein reines "nur noch nachspielen" ist, viel eher hatte ich in sehr frei improvisierten Runden oft das Gefühl, dass immer nur die offensichtlichste Wendung, das platteste Klischee gespielt wurde und am Ende trotzdem die Handlung wenig glaubwürdig war, weil doch irgendwo ein Plot Hole klaffte und die Motivation der Charaktere insgesamt kaum nachvollziehbar blieb.
Im Übrigen halte ich es für eine falsche Dichotomie, zu sagen, in improvisierten Runden sind Charakter Arcs ergebnisoffen und in vorbereiteten Runden sind sie es nicht. Ich habe schon gut vorbereitete Drama-Runden erlebt, in denen ein Charakter mit einem total offenen Konflikt versehen war, wo die Spielerin bis kurz vor Schluss selber noch nicht wusste, in welche Richtung sie den auflöst, und das wirklich komplett aus dem Spielverlauf heraus entschieden hat. Und ebenso habe ich in improvisierten Runden total absehbare Character Arcs erlebt, wo nach der zweiten Szene jeder sagen konnte, worauf das hinausläuft.
An letzterem ist auch aus meiner Sicht überhaupt nichts falsch, es macht die einzelne Szene nicht weniger interessant oder anspruchsvoll, manchmal im Gegenteil. Man darf halt nicht zu schematisch sein, das gilt übrigens ja auch für andere Erzählformen. Man muss flexibel bleiben und die Dinge im Fluss lassen, man muss ja auch auf die anderen achten, man darf nicht blocken und muss alles zusammen weben. Dabei dann trotzdem aufs gewünschte Ergebnis zu kommen und zwar so, dass es wirklich passt und glaubwürdig und unterhaltsam ist... das ist aus meiner Sicht viel schwerer, als "play to find out", um noch mal etwas provokanten Elitismus zum Ende einfließen zu lassen.
Einige der allerbesten Momente meiner Rollenspiellaufbahn waren solche, wo einer Drama-Runde die entscheidende, öffnende Wendung fehlte, alle spielten die Szenen weiter, so wie sie sich eben entwickelten, alle wussten, dass da etwas passieren musste, das den Spin in die von allen gewünschte Richtung bringt, aber erst durch den rettenden Geistesblitz eines Mitspielers konnte der Plot auf genau die perfekte, plausible, den Motivationen der Charaktere entsprechende und noch dazu
überraschende Weise gedreht werden. In solchen Momenten hätte ich den betreffenden Mitspieler küssen können.