Mehrfach wurde hier ja eingeworfen, dass es ein gewisses Ausmaß an Anomie in einem Setting braucht, um für Abenteuer zu funktionieren. Das klingt für mich überzeugend.
In einer Spielwelt besteht eine mehr oder weniger ausgeprägte, harmonische Ordnung, die 1) von äußeren feinden bedroht ist (die Orcs vor den Toren), die 2) von inneren Feinden bedroht ist (die korrupten Verräter im Stadtrat und die gierigen Oligarchen, die sie schmieren) und 3) strukturelle Schwächen hat (selbst unsere großartige Republik hat Lücken im Gesetzestext und erst Recht in der Umsetzung).
Ein "helles" Setting wäre eine Spielwelt mit geringer geringer Anomie. Größtenteils verläuft alles in geordneten, harmonischen Bahnen. Institutionen funktionieren so, wie sie sollen und sind überwiegend gerecht bzw. entsprechend unserer Wertvorstellungen, die äußere Bedrohung ist vorhanden, aber überschaubar und gefährdet nicht akut die Ordnung der Dinge. Die innere Verkommenheit lässt sich nicht leugnen, wird aber immer wieder aufgedeckt und korrigiert. Rollenspielerisch bedeutet das: Abenteuer und Regeln sorgen dafür, dass die Charaktere mit ehrlichen, fairen, humanen Methoden erfolgreich gegen die drei Gefährdungen vorgehen können.
In einem fynsteren Setting herrscht hingegen ein großer Zustand der Anomie. Institutionen sind verfallen, ihre Träger korrupt, ihre Ausführungsorgane käuflich, die Barbaren stehen nicht nur direkt vor den Toren, sondern morden, plündern und versklaven überall im Land, es gibt nur wenige, halbwegs stabile Punkte des Lichts, in die sich die Verderbnis unaufhaltsam hineinfrisst. Die Regelmechanik fördert hinterhältige Taktiken (Giftanschläge, rituelle Menschenopfer, Sklavenhandel usw.), damit die Charaktere realistische Erfolgschancen haben, und die Abenteuer sind darauf ausgelegt, die wenigen Punkte des Lichts mit allen Mitteln (!) zu verteidigen (was natürlich in dieser Spiel-Wirklichkeit aussichtslos ist, denn der Zweck heiligt eben nicht die Mittel).
Das sind jetzt zwei Extrempunkte auf der Skala. So, wie ich es einschätze, bewegen sich die meisten Gruppen in einem Mittelfeld. Beispielsweise sind einige korrupte Taktiken für die Spielfiguren erlaubt (z.B. Assassinen verwenden Gift und meucheln sogar schlafende Gegner, auch Paladine dürfen einen Hinterhalt legen), aber andere Taktiken sind verboten (SCs werden nicht reich durch Sklavenhandel und wirken keine Blutmagie, die Menschenopfer erfordert). Die Regeln unterstützen ein tendenziell eher "ehrenhaftes" Vorgehen (Gifte sind teuer, meucheln ist schwierig).
Das Ausmaß der Bedrohungen ist hingegen hoch genug, um Handlungen zur Verteidigung des Status Quo gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Primär sind die äußeren Bedrohungen sichtbar und können bekämpft werden, eben die Orcs, die in Banden durchs Land streifen. Die inneren Bedrohungen sind auch vorhanden, aber klar als Gegner der bestehenden Ordnung erkennbar, wie z.B. umstürzlerische Dämonenkulte, die im Verborgenen agieren. Die Institutionen werden meist als unproblematisch und bewahrenswert angesehen: Sklaverei ist verboten, die Lichtkirchen sind gemäßigt in ihren Regeln, die Gesetze geben jeder Bevölkerungsgruppe eine Chance zur Teilhabe, der allgemeine Wohlstand ist hoch, verdient und einigermaßen gerecht verteilt usw.
Entsprechend sind auch die Abenteuer aufgebaut. Es geht darum, diesen Zustand zu verteidigen. Viel zu verbessern gibt es nicht, denn die SCs leben ja sozusagen in der besten aller Welten.
In einem dysteren Setting wird dagegen oft auch bei den Institutionen die Axt angelegt. Die SCs sind Außenseiter, die nicht in die harmonische Ordnung integriert sind oder die Ordnung ist nicht so harmonisch, wie es auf den ersten Blick scheint.