Also, gestern Staatsoper Unter den Linden, Berlin, es wurde gegeben Hippolyte & Aricie von Jean-Philippe Rameau (1683-1764). Der Simon Rattle hat das Freiburger Barockorchester dirigiert, gesungen haben unter anderem die Prohaska und die Kozena (da gehört irgendwo noch ein Akzent drauf).
Spielplantechnisch erst mal eine Sensation! In Berlin, eine Rameau-Oper! Okay, die Komische Oper hat in den letzten Jahren schon Castor & Pollux und Zoroastre gemacht, aber nachdem Castor & Pollux so ein total unangenehmes Fremdschämerlebnis war, habe ich mich gar nicht erst in den Zoroastre getraut. Die Staatsoper hat sich mit dem Orchester, den Sängern und bedingt auch mit Rattle wenigstens die richtigen Leute geholt, damit immerhin musikalisch schon mal nicht all zu viel schief gehen konnte.
Die Inszenierung war -- man erwartet es inzwischen ja auch gar nicht mehr anders -- äußerst underwhelming. Aber immerhin waren manche Bilder zwischendurch einigermaßen ausdrucksstark, es gab ein paar mitreißende Schlagabtausche auf der Bühne und: richtiges Ballet!! (In der Komischen Oper ist der Chor ohne erkennbaren Zusammenhang mit der Musik über die Bühne gestampft, so kann man einen der größten Komponisten für Balletmusik auch in die Geschmacksgüllegrube kippen). Der Gesamteindruck der Bühne war eher trist, es war oft dunkel, manchmal auch neblig, die Kostüme waren abstrakt fantasielos, es wurde viel mit trüben Lichteffekten gespielt. Wenigstens rannte niemand sinnlos auf der Bühne herum, die Sänger mussten sich nicht alle fünf Takte zu Boden werfen und wälzen. Eine nicht tolle, aber erträgliche Inszenierung.
Rameaus Musik hat aber für ein tolles Opernerlebnis gesorgt! An der Handlung ist ja nicht viel dran, sie dient in erster Linie und auf sehr geschmackvolle Weise dazu, immer wieder Anlass zu konfliktreichen, rezitativischen Monologen oder Dialogen, zu schönen kleinen oder auch größeren Arien und Ballet- und Choreinlagen zu geben, und in den groß angelegten Divertissements, wenn die Dämonen der Unterwelt herumtoben, Götter zu den Sterblichen herabsteigen oder Ungeheuer den Protagonisten verschlingen, da entfaltet Rameau ein sagenhaftes Feuerwerk.
So gut und fleißig der Chor der Staatsoper den Rameau einstudiert hat, so fehlte bei ihm noch das letzte Quäntchen. Man hört halt, dass er sonst Verdi und Wagner schmettert, der besondere Gestus des französischen Barock wollte sich nicht ganz einstellen, aber das ist Meckern auf hohem Niveau. Prohaska hat nach einem schwachen Einstieg im ersten Akt in den letzten beiden dann mal wieder ganz toll gesungen, und der Hippolyte war auch zum Dahinschmelzen.
Nebenbei mal wieder eine Lektion gelernt, ein welch schlichtes Gemüt das -- für Berliner Verhältnisse überraschend gut gekleidete -- Publikum hat: Als Diana die beiden leidgeplagten Liebenden am Ende miteinander vereinigt und das glückliche Ereignis vor arkadischer Idylle gefeiert wird, wird natürlich auch eine Musette zum Tanz aufgespielt, und wenn eine Musette getanzt werden soll, dann erklingen eben auch Musettes, in diesem Falle zwei, und als die wie eine Mischung aus Oboe und Dudelsack klingenden Instrumente lospfeifen, halten viele der Zuschauer das wohl für einen Witz (Dudelsack, witzig, ne?) und lachen.
Und im Rausgehen nach der Vorstellung höre ich einen hinter mir, der seiner Partnerin mansplained, wieso der Abend scheiße war, denn das war ja nur Geschrammel, weil die Franzosen ja so stockkonservativ waren in ihrem Absolutismus und von den Guten (und Fortschrittlichen!) wie Vivaldi und Bach ja gar nix wissen wollten und sich immer nur um ihren französischen Stil gezofft hätten und das kann ja nichts werden, alles Mist. Aha! Exakt so muss das gewesen sein mit diesen Franzosen damals, die waren wahrscheinlich noch schlimmer als die Russen! Schnell nach Hause rennen und Vivaldi und Bach streicheln!