Selbst wenn man zwischen eigener Persönlichkeit und Spielfigur trennen kann (sehe ich eher selten, kommt aber vor), ist immer noch die Frage, ob man das, was da passiert, erzählen/hören möchte.
Mein Grund, kein "grimdark" spielen zu wollen ist, dass da Dinge geschehen und Situationen erzeugt werden, die ich nicht thematisieren möchte.
Es gibt übrigens z.B. in
Castle Falkenstein explizit Anweisungen dafür, wie der Autor sich das Spiel vorstellt. Es gibt (normalerweise) keine expliziten Schilderungen grausamer Dinge, sondern es wird quasi der Vorhang davorgezogen. Außerdem soll die Gruppe Gelegenheit haben, sowas zu verhindern. Vor allem soll heroisches, edles Handeln gefördert werden. Regelseitig z.B. dadurch, dass es keine Meuchelmorde an Spielerfiguren gibt und dass Situationen einen nicht-tödlichen Ausgang haben sollen und dass in eigentlich allen Situationen ein Ehrenkodex gewahrt wird. Gewalt ist aber durchaus möglich.
Dilemmata sind durchaus vorgesehen, aber eben solche, die sich für die Inszenierung schnulzig-ritterlichen Heldentums eignen. Und natürlich ist normalerweise ein guter Ausgang möglich und wahrscheinlich.
Und natürlich gibt es den Satz "Erst kommt das Fressen und dann die Moral".
Der ist aber sehr oft falsch interpretiert. Brecht meint damit nicht, dass die Moral egal wäre und sich jeder selbst der nächste ist oder gar sein sollte.
Brecht meint, dass die Befriedigung elementarer (!) Grundbedürfnisse Voraussetzung dafür ist, moralisch sein zu können.
Die meisten Spieler am Tisch dürften satt und warm sein, die meisten Entscheidungen über die wir hier sprechen, sind auch keine, in denen sich die Spielerfiguren in akuten Notlagen befinden und daher nach Brecht moralisch zu entschuldigen sein könnten.
Das seh ich auch so.
Teilweise ist für mich auch gerade der Widerspruch zu den eigenen moralischen Vorstellungen interessant. Wenn wir die Englischen Gentlemen um 1924 spielen, die völlig überzeugt sind, dass sie das Maß der Welt sind, dann wissen wir als Spielende gleichzeitig um die Opiumkriege, die Schrecken der Sklaverei, die Indian Tea Company, usw. Wir spielen die Gentlemen trotzdem so wie sie sich selbst sehen.
Die sind in der Regel aber weit weg. Falls wir tatsächlich in den Opiumkriegen oder in einem kolonialen Kontext spielen und falls die Gräuel im Spiel thematisiert werden, wird es vielleicht anders aussehen.
Deshalb übertragen ja viele beliebte Pseudo-Mittelalter-Fantasy-Rollenspiele auch in hohem Maß moderne Moralvorstellungen in ihre Spielwelt. DSA und viele DnD-Welten dürften da sehr gute Beispiele abgeben.
Klar ist es interessant, sich in völlig andere Figuren, Zeiten, Wertvorstellungen zu versetzen. Aber das können nur die Wenigsten. Und dann wird es auch oft schnell plump und klischeehaft, weil man eben nur eine unzureichende Vorstellung von dem Weltbild und den Vorstellungen der Figuren hat. Schon bei Beispielen, die uns ziemlich nahe sind, funktioniert das eher schlecht. "Interkulturelle Kompetenz", der Umgang mit anderen Welt-, Menschen- und Wertebildern ist schon bei den eher kleinen Unterschieden unseres globalisierten Zeitalters schwierig. Schon das Verständnis der Lebensrealität der anderen zwischen Angehörigen von verschiedenen Schichten derselben Kultur ist ein großes Problem.