Autor Thema: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis  (Gelesen 4003 mal)

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Offline Suro

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #50 am: 20.11.2023 | 18:46 »
Disclaimer: Ich habe keine große Ahnung von der (historischen) Theoriedebatte - man sehe mir meine Naivität nach.

Hey Vermi, vielen Dank für diese ausführlichen Schilderungen, ich finde das interessant und gut nachvollziehbar :)

Ich glaube, wenn man den Unterschied zwischen dem PbtA-Spiel und dem Dramaspiel noch weiter herausarbeiten will, sehe ich zwei Richtungen, unterschieden nach:

Im Spiel: Gerade bei "One-Shots" sehe ich deine Unterscheidung zwischen der Ausrichtung auf "Überraschungen für alle von Szene zu Szene" bei PbtA und "Stimmige, abgerundete, dramatische Geschichte als Gesamtprodukt" beim Dramaspiel als Prototypen. Bei  "Kampagnen" hat (siehe unten) auch Hilfsmittel, die auf kausale Plausibilität und dramatischen Zusammenhang ausgelegt sind, es bleibt aber im Spiel - denke ich - zumindest ein wesentlicher Unterschied: Die "Moves" bei PbtA führen meiner Erfahrung nach dazu, dass man "Improvisation unter kreativer Einschränkung" betreiben muss. Das passiert dadurch, dass die Moves gewisse Elemente der Handlung festlegen, einen aber dazu zwingen, zu überlegen, wie man das interpretiert, sodass es im Gesamtzusammenhang Sinn ergibt. Für mich entsteht hier eine spannende Herausforderung (die gar nichts damit zutun hat, was man im RPG sonst unter "herausforderungsorientiertem" Spiel versteht), die ich sehr gerne mag. Für Dramaspiel drängt sich hier aber  die Spielmechanik in den Vordergrund und führt zu Irritationen, die es bei regelarmen, traditionellen Spielen so nicht gibt.

Vor- und Nachbereitung: Wie andere bereits bemerkt haben, haben auch viele PbtA-Spiele explizit Hilfsmittel, die Plausibilität und Zusammenhang herstellen sollen. Das ist, grob gesagt, wozu all die "Fronts" und "Dangers" und "Grim Portents" und "Clocks" da sind. Nichtsdestotrotz sind diese Hilfsmittel - darüber hast du ja weiter oben schon Worte verloren - dazu da, ein gewisses Erlebnis zu produzieren und zugleich die nötige Vorbereitungszeit zu reduzieren; das erreicht man größtenteils denke ich über genrespezifische Setzungen, die (ähnlich wie die Moves) auch etwas einengend sind. Wer nicht glaubt, dass dieses "Streamlinen" in vielen PbtA-Spielen ein Ding ist, sollte sich mal anschauen, wie Playbooks funktionieren. Trotzdem gilt auch bei PbtA, dass das Spielerelebnis und das Gesamtprodukt in Bezug auf die "gute Geschichte" stark davon profitiert, wenn die Gruppe viel Zeit in Vor- und Nachbereitung (mit und zusätzlich zu den Hilfsmitteln) investiert - ich mache das oft trotzdem nicht, weil ich ein schrecklicher Spielleiter bin, und meine Freizeit zu häufig mit hirnlosem Konsum verbringe, anstatt meine Runden gut vorzubereiten.
Im Gegensatz zu "Team PbtA" nutzt Dramaspiel solche Hilfsmittel nicht - ich nehme an, in irgendeiner Weise zu einschränkend, oder als nicht notwendig empfunden? Ob, warum und welche Hilfsmittel stattdessen genutzt werden (Ratgeber aus dem Buch-/Theater-/Film-Kontext?), ist mir auch noch nicht ganz klar geworden - ich vermute aber, dass es da einfach keine allgemeingültigen, klaren, schematischen Konzepte gibt (wie es Jiba, wenn ich ihn oben richtig verstandnn habe, gerne sehen würde)? Trotzdem fände ich es spannend, noch einen Blick darauf zu werfen, welche Inhalte da wie von wem vorbereitet werden, und wie sich das von "Team PbtA" unterscheidet. Zwei Eindrücke: Ich meine mich erinnern, dass du in der Vergangenheit auch mal eine Lanze für "szenische Vorbereitung" gebrochen hast - szenische Vorbereitung gibt es in PbtA RAW praktisch gar nicht, hier wäre also vermutlich noch ein Unterschied zu finden. Auch die "psychologische" Ausdeutung der Charaktere und der Verbindungen zwischen ihnen scheint mir von dem, was ich von den Tanelorn-Dramarunden mitbekommen habe, einen höheren Stellenwert zu besitzen, als es in den meisten PbtA-Regelwerken anklingt.

Abgesehen davon gibt es innerhalb der PbtA-Familie auch extrem viele Unterschiede, wie das Spieldesign funktioniert, vor allem wenn man "PbtA-verwandten"-Kram wie City of Mist oder Blades in the Dark mit in den Topf wirft. Dungeon World kann man z.B. ziemlich hart mit autoritärem oder autoritärer SL spielen, ohne dass die Spieler:innen viel Gelegenheit haben, über ihre Charaktere hinaus irgendwelchen Input zu geben und ohne gegen das Regelwerk zu spielen. Bei anderen Spielen ist das anders. Soll heißen: Manche Details in Spielweise und -Motivation kann man nicht "Team PbtA" als ganzes anlasten - für die Unterscheidungen, die du hier machst, ist das vermutlich auch nicht nötig, es wird aber oft dazu führen, dass irgendjemand "Das ist aber gar nicht so!" schreit, weil sich das je nach Gruppe und spezifischem System unterscheidet.
Suro janai, Katsuro da!

Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #51 am: 20.11.2023 | 20:07 »
Hey Suro, vielen Dank für deinen Beitrag, du hast das bezogen auf pbtA viel besser beschrieben, als ich es könnte, und auch den Unterschied zum Drama-Spiel genau richtig erfasst. Auf einer abstrakten Ebene sind die Prozesse nahezu entgegengesetzt: Bei pbtA nimmt das System als Ausgangspunkt Setzungen vor, die dann von den Spielern mit Inhalt und Sinn gefüllt werden müssen. Beim Drama-Spiel kommen alle Setzungen entweder aus dem Kanon oder von einem Spieler, und müssen von vornherein Sinn ergeben, um überhaupt Berücksichtigung zu finden. Das System wird allenfalls ganz am Ende konsultiert, um Zweifelsfragen zu entscheiden. Insoweit ist Drama-Spiel ganz traditionelles Rollenspiel. Darin liegt der wesentlichste Unterschied. Was die interessante Tangente aufwirft, wie man Runden einordnet, deren Prozess dem Drama-Spiel entspricht, aber bei denen die Art der Vorbereitung und das Maß an Improvisation eher dem gleicht, was ich als "Team pbtA" einsortiert habe (Gruß an Jesto :-* ). Muss ich noch drüber nachdenken.

Zu deiner Frage nach Hilfsmitteln: Streamlining und grobe Vereinfachung verträgt sich in der Tat nicht gut mit Drama-Spiel, weshalb allzu einfache Checklisten und Formulare eher nicht bzw. höchstens als Ideengeber weiterhelfen. Sehr wichtig ist aus meiner Sicht ein Bezugsrahmen in Form von Quellenmaterial, entweder indem man direkt in einem bekannten fiktionalen Universum spielt und sich aus dessen Kanon bedient, oder indem man bezüglich Genre und Stimmung klare Referenzen angibt ("Agenten-Thriller im Jason Bourne Stil" oder ähnliches). Natürlich gibt es auch ein paar originäre Rollenspielsettings, die das leisten, weil sie hinreichend thematisch ausgerichtet sind. Damit hat z.B. die World of Darkness seinerzeit gepunktet. "No Myth" hat es eher schwer, was nicht heißt, dass es nicht in Ausnahmefällen auch funktionieren kann.

Szenische Vorbereitung finde ich ein extrem nützliches Planungstool sowohl für das Pacing, als auch insbesondere als Widerpart zur Backstory. Viele (aber nicht alle) Drama-Spielleiter, die ich kenne, nutzen sie, mit unterschiedlichem Grad an Detail und Struktur. Es ist für mich so ein bisschen wie ein Kochrezept: Wie soll ich ohne Rezept (Szenen) wissen, was ich einkaufen soll (Backstory)? Ich bin dann immer etwas erstaunt, wenn Leute zu mir sagen, Kochen mit Rezept ist doch total langweilig, da weißt du doch vorher schon, was rauskommt. Nicht so genau, wenn ich ein neues Rezept koche, und ich muss es ja auch erstmal hinkriegen, so rein handwerklich. Und ich mache es garantiert sowieso nicht genauso, wie es im Rezept steht, am Ende. Aber ich will ja, dass es geil schmeckt und alles zur richtigen Zeit fertig wird, das kriege ich doch ohne Rezept höchstens hin, wenn ich immer das gleiche koche. Anderen ist vielleicht wichtiger, einfach gemeinsam in der Küche rumzuwerkeln und Spaß dabei zu haben, und dass der Teller auf dem Insta-Post schick aussieht. Die schmecken auch vielleicht gar keinen so großen Unterschied. Was ja auch völlig okay ist, aber ich schmecke nun mal den Unterschied und möchte gerne was Leckeres essen. Ergibt das Sinn?

Beziehungen zwischen den SCs und ggf. ein, zwei Schlüssel-NSCs haben in den besten Drama-Runden, die ich gespielt habe, immer eine große Rolle gespielt, man kann aber unterschiedliche Gewichtungen zwischen Character Arcs und Hauptplot haben. Die magische Zauberformel, was genau ein Beziehungsgeflecht zwischen Charakteren braucht, damit es am Tisch zündet, die habe ich noch nicht gefunden und die lässt sich mit Sicherheit auch gar nicht unabhängig von den Persönlichkeiten der Spieler betrachten. Letztendlich, je mehr Zündstoff in der Ausgangssituation drinsteckt, desto ergiebiger, aber die Spieler müssen es am Tisch dann eben auch anzünden. So gesehen, war der Forge-Begriff vom Frontloading gar nicht mal so unpassend, nur dass er dort eben sehr negativ konnotiert war. Und ehe ich jetzt komplett die Kontrolle über meine Metaphern verliere, höre ich lieber auf. ;D
« Letzte Änderung: 20.11.2023 | 21:28 von Lord Verminaard »
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Offline Alexandro

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #52 am: 20.11.2023 | 20:54 »
Ich wollte damit auch nicht aussagen, dass diese Spieler für alle Ewigkeit weiter als Casual Gamers Rollenspiel spielten. Sicherlich haben die meisten längst wieder aufgehört, oder spielen nur noch sehr sporadisch, wenn ihr alter SL noch mal einlädt. Worum es mir ging war, dass sie jedenfalls nicht anfingen, sich ernsthaft für Rollenspiel zu interessieren.

Das habe ich wie gesagt anders erlebt. Entweder ist der Zauber ihres "alten (autoritären) SL" schnell verflogen (und sie begannen sich ernsthaft dafür zu interessieren, was es sonst noch so im Rollenspiel gibt) oder der Zauber ist verflogen und sie schlossen daraus, dass Rollenspiel generell nichts für sie ist. So unterschiedlich sind die Erfahrungen.

Zitat
Zum Rest: Du gehörst zu den Leuten, die nicht glauben, dass es objektiv gute und objektiv schlechte Drehbücher gibt, und die es für reine Ansichtssache halten, ob eine bestimmte Entscheidung eines Charakters oder eine bestimmte Wendung der Geschichte glaubwürdig ist oder nicht.

Öhmm, nein. Ich weiß nicht, wie du zu dieser Ansicht kommst. Ich lege schon objektive Kriterien an Drehbücher und Charakterentscheidungen an (vielleicht kommt das hier im :t: nicht so rüber, weil (gerade im "Sehen"-Channel) eher emotional bewertet wird und objektive Analysen nicht gewünscht sind - sobald man mal sagt "Das ist objektiv nicht gut" wird das als Abwertung des Gesprächspartners ausgelegt - egal wie irrational dieser argumentiert... und weil ich auf diese Art von "Drama" keinen Bock habe, halte ich mich eher zurück mit dieser Art von Analysen, und schwäche da eher ab).

Ich weiß allerdings nicht, ob die von mir angelegten Kriterien dieselben wie bei dir und deiner Gruppe sind, denn bei
Zitat
Naja, dieselben Kriterien halt, die in der Fachliteratur für professionelle Autoren diskutiert werden.
ist das operative Wort ja "diskutiert": selbst wenn man sich einig darüber ist, welche Kriterien einen signifikanten Einfluss darauf haben, ob ein Drehbuch "gut" oder "schlecht", besteht in den seltensten Fällen Einigkeit über deren Gewichtung.

Zitat
Demnach siehst du auch keinen qualitativen Unterschied zwischen einer erwürfelten überraschenden Wendung, die spontan rückwirkend plausibilisiert wird, und einer sorgfältig vorbereiteten, fest in der Backstory verankerten und planvoll in eine Dramaturgie eingebettete Wendung.

Ebenfalls falsch (deswegen hatte ich mich ja gegen simulative Regeln im Drama-Spiel ausgesprochen).

Bleibt trotzdem die Frage: Wer entscheidet, wann die Wendung ins Spiel kommt? Sind die Spielenden telepathisch vernetzt, oder schmeißt irgendwann einfach eine Person die Wendung rein (weil dey der Meinung ist, jetzt passts' gerade) und wenn keiner widerspricht, dann passiert das so? Fragen über Fragen.

Zitat
Folgerichtig meinst du, dass meine gesamte Spielphilosophie auf Sand und Einbildung gebaut ist.

Hier würde ich ebenfalls sagen, dass du mich missverstehst. Ich glaube durchaus, dass das was du beschreibst für deine Gruppe funktioniert. Aber ohne genauere Details bleibt das was du beschreibst halt nebulös und nicht reproduzierbar. Und damit für Außenstehende wertlos.
« Letzte Änderung: 20.11.2023 | 21:03 von Alexandro »
Wer beim Rollenspiel eine Excel-Tabelle verwendet, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren.

Offline Lord Verminaard

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #53 am: 20.11.2023 | 21:22 »
Aber ohne genauere Details bleibt das was du beschreibst halt nebulös und nicht reproduzierbar. Und damit für Außenstehende wertlos.

Ah, fehlende Reproduzierbarkeit. Einstiegshürden. Ja. Das ist der Sache immanent. Das war vielleicht oft ein Missverständnis, wenn ich über Drama-Spiel geschrieben habe, dass es eine allgemeinverständliche Anleitung sein sollte, mit der jeder das zu Hause mal ausprobieren kann. Drama-Spiel bringt keine Geschichten zu dir. Sondern es lässt Geschichten aus dir raus, die schon in dir drin sind. Und ebenso die der anderen Spieler, die sich dann miteinander verflechten. Das ist notgedrungen sehr individuell.

Aber, Vermi, wenn du deine Art zu spielen nicht lehren kannst, warum schreibst du denn überhaupt darüber? Ist das nicht völlig sinnlos? Ich weiß nicht. Hast du den Eindruck, niemand hat aus diesem Thread etwas mitgenommen?
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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #54 am: 20.11.2023 | 21:40 »
Aber, Vermi, wenn du deine Art zu spielen nicht lehren kannst, warum schreibst du denn überhaupt darüber? Ist das nicht völlig sinnlos? Ich weiß nicht. Hast du den Eindruck, niemand hat aus diesem Thread etwas mitgenommen?

Muß denn irgendjemand etwas aus diesem Thread mitnehmen, oder reicht es schon, ihn einfach als eine andere Form von Rant-Faden zu betrachten? :) Will sagen, es ist ja hier im :t: nicht völlig unüblich, daß jemand auch mal einen Faden startet, einfach nur, um sich etwas von der Seele zu schreiben...

Offline felixs

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Re: Full Circle, oder, das Erzählspiel-Missverständnis
« Antwort #55 am: 20.11.2023 | 23:20 »
Ich habe sehr viel mitgenommen. Eher Versatzstücke zwar und der rote Faden fehlt mir. Aber das macht nichts; ich nehme gern auch hübsche Versatzstücke für mein Horizontmosaik  ~;D
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