M.E. liegt das umfassendere Problem in der Frage nach der Bereitschaft, die Wahrnehmung einer anderen Person am Tisch erst einmal einfach gelten zu lassen, ohne sich angegriffen zu fühlen. Wenn ich als SL der Meinung bin, dass ich wirklich gar nichts ins Spiel gebracht habe, was einem meiner Mitspieler gerade derart sauer aufstoßen könnte, dass das eine Spielunterbrechung/Verlagerung auff andere Themen rechtfertigt, und jemand zückt die X-Karte, dann fühlt sich das natürlich wie ein Missbrauch an - die Person hat das ja "ohne guten Grund" getan, also wahrscheinlich nur, weil sie aus purem Spaß an der Böswilligkeit sabotieren will oder schlicht die Aufmerksamkeit genießt.
Wenn ich dagegen erst einmal davon ausgehe, dass die Person einen legitimen Grund für ihr Handeln hat, auch, wenn ich den vielleicht so unmittelbar nicht nachvollziehen kann, ist es im besten Fall eine Leichtigkeit für jede auch nur halbwegs flexible SL, das Problemthema gemeinsam zu umschiffen. (und hinterher darüber reden, um zu klären, was eigentlich Sache war, ist damit ja auch nicht zwangsläufig vom Tisch.) Dafür braucht es eben nur die Einsicht, dass es auch andere legitime Perspektiven auf das Geschehen am Tisch geben kann als die eigene.
Klar kann es Missbrauch geben. Aber wie hier schon vielfach gesagt: Wer eine Runde böswillig sabotieren will, wird dabei auch innerhalb des sozialen und mechanischen Regelwerks immer einen Weg finden. Sei es durch exzessives Rules Lawyering, auf das gerade sonst niemand Bock hat, sei es durch sture "Mein Charakter ist halt so"-Nummern, sei es durch manipulatives Verhalten. Da kann die X-Card im besten Fall sogar noch ein kleiner Schutz gegen sein: Die kann ich ja auch nutzen, wenn ein Spieler gerade durch seinen Ego-Trip allen das Treffen versaut.
Wie gesagt verwende ich die X-Card in vertrauten Runden, in denen ich mich halbwegs sicher fühle und auch keine Angst vor Konflikten habe, nicht. In offenen Runden habe ich sie schon oft verwendet, sie wurde aber nie genutzt. Und sobald sie zur Gewohnheit geworden ist und die Vorstellung, dass die X-Card mal angetippt wird, nicht mehr beängstigend ist ("O Gott! Was hab ich falsch gemacht?"), empfinde ich sie tatsächlich als Entlastung bei solchen Runden, auch, weil sie die Verantwortung ein Stück weit in die Runde gibt - sie ist ein klares Signal, das sagt: alle sind für's soziale Miteinander in der Gruppe zuständig, das muss die SL nicht alleine managen.
Ich würde die X-Card auch keiner Runde aufzwingen wollen, die sich in ihrem Kreis dagegen entscheidet, finde es aber gut, wenn sie bei öffentlichen Runden Standard ist. Eine Gefahr kann ich in ihr beim besten Willen nicht erkennen, und das Missbrauchspotenzial beschränkt sich darauf, dass sie wie praktisch alles im Rollenspiel auch dazu eingesetzt werden kann, die anderen Spieler zu gängeln und zu nerven. Aber wie gesagt: Wer das will, schafft es mit oder ohne X-Card.