The Hidden Isle ist ein Rollenspiel aus Wien, das letztes Jahr erfolgreich über Kickstarter finanziert wurde und derzeit in Auslieferung ist. Ich habe es gestern erstmals ausprobiert.
Setting
The Hidden Isle spielt in einer alternativen Version der irdischen Renaissance. Diese wird nicht nur als die Zeit des Fortschritts dargestellt, sondern auch als die Zeit des Schießpulvers, des Kolonialismus, der Expansionsbestrebungen des osmanischen Reichs, der Tyrannen usw. Die SCs verkörpern Agent:innen von Dioscoria, einer hinter einer Nebelwand verborgenen Insel im Meer. In Dioscoria versammeln sich jene, die von der Gesellschaft missverstanden oder verfolgt werden oder aus anderen Gründen aus ihrer Heimat geflohen sind. Sie können in Dioscoria lernen und in Frieden leben, werden aber auch nach London, Venedig, Konstantinopel usw. ausgeschickt, um Missionen für Dioscoria durchzuführen. The Hidden Isle ist aber auch eine Welt voller Magie, die im wesentlichen so aussieht, wie man sich das in der Renaissance vorgestellt hat. John Dee praktiziert daher in England erfolgreich Alchemie, während in Qazvin Dschinne zu finden sind.
Leider ist das Setting von The Hidden Isle nur grob ausgearbeitet. Für einen OneShot macht das überhaupt nichts, für eine längere Kampagne, in der die Charaktere zwischen den Missionen auch nach Dioscoria zurückkehren, hätte ich mir aber etwas mehr Substanz und vor allem Konflikte gewünscht. Es wird zwar angedeutet, dass auch in Dioscoria nicht alles eitle Wonne ist, dabei bleibt es aber. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass ich das Setting nicht besonders originell oder aufregend finde. Es ist aber funktional, da es einen klaren Auftraggeber und einen „Safe Space“ für die Zeit zwischen den Abenteuern bietet.
Bei der Beschreibung der verschiedenen (irdischen) Städte fällt auf, dass diese sehr kurz gehalten sind und oft mehr als die Hälfte der Seite leer ist. Hier muss man aber sagen: Die Beschreibungen enthalten sehr kondensiert jene Infos, die man benötigt, um ein Abenteuer in der jeweiligen Stadt zu leiten (zumindest wenn man die jeweilige Stadt im RealLife halbwegs kennt). Für Details und Hintergrundinfos muss man aber andere Quellen heranziehen. The Hidden Isle nennt dazu bei jedem Kapitel empfehlenswerte Literatur und Online-Artikel (keine langen Listen, sonder eine Handvoll Vorschläge, von denen alle, die ich mir angesehen habe, wirklich gut waren). Ich war über die halbleeren Seiten zunächst irritiert, finde es mittlerweile aber gut, dass hier nicht unnötige Sätze geschrieben wurden, nur um den Platz zu füllen. Wer kompakte Infos gegenüber langen Wälzern bevorzugt, ist hier sicher gut bedient.
Regeln
Bei Dioscoria wird nicht gewürfelt, sondern Proben werden über Tarot-Karten abgehandelt. Der Spieler erhält, je nachdem wie gut er in einer Fertigkeit ist, 1-4 Karten, die SL erhält je nach Schwierigkeit der Probe 2-4 Karten. Durch Gegenstände, Vorteile und anderen besonderen Umstände, kann sich die Zahl der Karten auch noch verschieben. Auch durch das Ausspielen bzw. Einbeziehen der Laster (Burdons, Vices), sowie der Ideale (Ideals, Virtues) können weitere Karten hinzukommen. Dann spielen beide Seiten eine Karte aus und man schaut, wessen Karte sticht:
- Hat der Spieler einen Trumpf und die SL nicht, ist es ein voller Erfolg.
- Gewinnt der Spieler nicht durch Trumpf, sondern durch den höheren Kartenwert, liegt ein Teilerfolg vor.
- In allen anderen Fällen ist die Aktion ein Misserfolg.
Zum Leiten fand ich das System angenehm, da man sehr einfach Vorteile, Items, besondere Schwierigkeiten usw. abbilden kann, indem man zusätzliche Karten vergibt. Bei unserer Testrunde hat sich allerdings auch gezeigt, dass die ganz überwiegende Mehrzahl aller Proben Teilerfolge waren. Gerade, wenn die SL 3+ Karten auf der Hand hat, ist meist auch ein Trumpf darunter und ein voller Erfolg damit nicht mehr möglich.
Magie wird ebenfalls über solche Proben abgehandelt (mit ein paar Besonderheiten). Es gibt im Spiel ein paar Vorschläge für magischen Spezialisierungen, aber keine Liste an Zaubern oder klare Vorgaben dazu, was mit Magie alles möglich ist (und wie schwer das jeweils ist). Das ist einerseits cool, weil man dadurch sehr leicht unterschiedliche Formen der Magie abbilden kann und auch die Kreativität angeregt wird. Ich glaube aber, dass mehr Beispiele im Buch uns gerade zu Beginn sehr geholfen hätten, damit sich das Magiesystem nicht ganz so beliebig und nach Handwedeln anfühlt.
Das Orakel
Zu Beginn eines Abenteuers wird das Orakel befragt, um herauszufinden, welche Mission die SCs erfüllen müssen. Das ist ein kooperativer Prozess, bei dem SL und Spieler:innen gemeinsam Tarot-Karten ziehen und interpretieren und so festlegen, um welche Art von Mission es sich handelt (z.B. einen Gegenstand stehlen), wer der Gegenspieler ist, was auf dem Spiel steht und was die erste Anlaufstelle für die SCs auf ihrer Mission ist. Bei unserer Runde gestern hat diese Mechanik sehr gut funktioniert. Klar, als SL muss man recht viel improvisieren, aber umgekehrt hatte ich das Gefühl, dass alle Spieler:innen stärker involviert waren, weil sie bei der Erstellung der Mission und des Gegenspielers mitwirken konnten. Ich glaube auch, dass dieser Abenteuer-Generator ganz generell hilfreich sein kann, um eigene Abenteuer zu schreiben.
Außerdem erhalten alle Spieler:innen zu Beginn der Mission eine Tarot-Karte, mit der im Abenteuer eine Vision ausgelöst werden kann. Bei meinem OneShot gestern hat sich das als sehr praktisch erwiesen, um das Pacing zu steuern, den Hintergrund des Gegenspielers einfließen zu lassen oder auch einmal eine Lösungsmöglichkeit aufzuzeigen, als die Gruppe anstand.
**
Insgesamt hat die Runde The Hidden Isle uns sehr viel Spaß gemacht. Ich weiß nicht, ob mich das Setting für eine längere Kampagne ausreichend interessiert, als Kampagnenrahmen für mehrere Einzelmissionen ist Dioscoria aber sicher gut geeignet. Die Tarot-Mechanik ist innovativ, passt zum Setting und ist sowohl für die Spieler:innen- als auch für die SL-Seite unkompliziert. Ich würde beim nächsten Mal aber evtl. eine Hausregel einführen, die es ermöglicht, die Karten der Spielleitung und damit die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen zu reduzieren, wenn die SCs irgendwelche Vorbereitungen treffen, um die Gefährlichkeit einer Handlung zu reduzieren.
Der Abenteuer-Generator hat ebenfalls sehr gut funktioniert und ermöglicht es, The Hidden Isle ohne Vorbereitung zu spielen. Alleine aus diesem Grund kann ich mir gut vorstellen, dass das Spiel bei mir noch ein paar Mal für Oneshots mit Assassine’s Creed Flair auf den Tisch kommen wird.