Sie kommt wieder zu sich, mit gereinigten Wunden und ein paar Heftpflastern, unter einer alten Armeedecke, in die man sie gewickelt hat. Sie befindet sich in dem Zimmer mit den zerkratzten Holzwänden. Tageslicht scheint hell und friedlich durch die nun geöffneten Vorhänge des Kellerfensters hinein.
Vorsichtig bewegt sie ihre Glieder. Sie hat einen furchtbaren Muskelkater, als hätte sie den ganzen gestrigen Tag unaufhörlich Kraftsport gemacht. Davon abgesehen fühlt sich alles ausgeruht an, energetisch … und
menschlich. Sie macht ein überraschtes Geräusch, und sieht ihre Hände an, die Handflächen und Handrücken. Sie sieht wieder aus wie vorher! Auch ihr Gebiss ist wieder völlig normal, kleine, gerade Beißerchen. Sie sieht sich desorientiert um.
„Du bist ja endlich wach!“, sagt die Stimme von Hank. Er tritt näher an das Gitterfenster und linst vorsichtig nach drinnen. Er hat eine fiese Schwellung an der Stirn, da, wo der Gangster ihn letzte Nacht auf das Autodach gedotzt hatte.
„Ich … ich bin wieder ein Mensch!“
„Gewissermaßen …“
„Ich dachte, ich hätte mich vollständig verloren ...! Ich dachte, ich hätte mich verwandelt, und müsste ab jetzt für immer …“
Zoe steht unter heftigen Muskelschmerzen auf, tritt ihrerseits an die Tür heran, und sieht Hank unverwandt ins Gesicht. Sofort tritt er wieder einen Schritt weg von ihr.
Zoe schnaubt verächtlich, und kommentiert, „Was glaubst Du denn, was ich vorhabe? Durch das Gitter fassen und Dich schnappen, um Dir in die Nase zu beißen, oder was?“
Hank lacht unsicher.
„Bei Leuten wie Dir weiß man nie. Na ja. Gut jedenfalls, dass Du endlich wieder wach bist.“
„Ja. Kann mich kaum bewegen, jede Muskel tut weh …“
„Kein Wunder. Wir haben gesehen, was Du draußen vor der Hütte angestellt hast.“
Zoe legt sich die Hand vor den Mund.
„Ich … ich … habe die aufgefressen, oder? Die drei mit den Jagdgewehren …“
„Nee. Als wir rauskamen, war Deine Rage gerade weitgehend verflogen. Du … wahrscheinlich wolltest Du die anfressen, ja. Aber Sabin hat Dich abgehalten. Und dann bist Du zusammengeklappt, und hast Dich kurz darauf zurückverwandelt.“
Zoe verharrt mit den Fingern vor die Lippen gepresst und geschlossenen Lidern. Vor ihrem geistigen Auge tanzen Erinnerungsfetzen von einem abgebissenen Unterarm, einem durchgebissenen Oberschenkelknochen, den man zwischen den Kiefern zersplittern fühlt wie eine trockene Gebäckstange … Der Geruch der Todesangst. Der Geschmack des körperwarmen Blutes.
„Ich glaube, ich muss kotzen“, haucht sie.
„Kann eigentlich nicht sein. Hast letzte Nacht im Halbschlaf schon alles rausgekotzt, was drin sein konnte.“
„Echt?“
„Jau. Aber ich hab' Deinen Eimer hier noch, kannste nochmal wiederhaben.“
„Ist die Bude hier also nicht abgefackelt, ja?“, fragt sie stattdessen.
„Sabina und wir anderen haben alles gelöscht. Die ganze Holzfassade draußen ist verkohlt. Ist jetzt aber auch egal.“
„Wieso? Diese Mistkerle! So ein schönes Haus …!“
„
Wieso …?! Na, weil Sabina und die anderen umziehen. Noch heute. Wir ziehen mit.“
„Was? Aber warum? Die Kerle sind doch alle geflohen, glaube ich!“
„Der Feind kennt jetzt diese Zuflucht. Es gibt keinen Anlass, zu glauben, dass die nicht gestern mit anderen ihresgleichen telefoniert haben, während ihrer Anfahrt hierher. Damit haben wir gleich zwei Safe Houses verloren letzte Nacht, erst das in Highland Park, dann dieses hier in Irish Hills.“
„Diese scheiß Hooligans, die trauen sich doch nicht nochmal hierher! … Lasst mich hier raus.“
„Die Hooligans letzte Nacht waren aber doch nicht die einzigen von deren Streitkräften! Das waren wahrscheinlich einfach nur die Entbehrlichsten, oder die, die am schnellsten hierher zu dirigieren waren. Die haben noch ganz andere Verbündete.“
„Was ist überhaupt mit der Polizei? Drüben im Dorf muss man Schüsse gehört haben.“
„Als die Cops vorhin hier waren, waren wir schon fertig mit Aufräumen. Da gab’s nichts mehr zu finden.“
„Aufräumen …“
„Na, was Du übrig gelassen hast, haben wir im Wald verscharrt.“
„Ich muss kotzen, glaube ich …“
„Wirklich diesmal?“
„Keine Ahnung … ich will hier raus … bitte … mach' die Tür auf …“
Hank schweigt unschlüssig, und rührt sich nicht vom Fleck.
„Mach' die Tür auf! Shady Sabina hat gestern Nacht gesagt, ich dürfe jederzeit raus! Ich will an die Luft!“
Das soll der armen Zoe einen neuen, zweiten Rage-Punkt einbringen, das wilde Tier ist nicht gern eingesperrt!
„Was is'n los?“, hört man nun aus Bodennähe Kylah wimmern, völlig schlaftrunken.
„Kylah!“, sagt Zoe, stellt sich auf die Zehenspitzen, und sieht durch das Gitterfenster ihre Mitschülerin in einem Schlafsack auf dem Boden liegen.
„... Hat Dich die ganze Nacht bewacht!“, sagt Hank mit einem traurigen Schmunzeln.
„Mach'
auf!“, knurrt Zoe, und ihr Zahnfleisch pocht, die blonden Härchen auf ihren Unterarmen stellen sich auf.
Hank gehorcht endlich.
Zoe kommt in ihre Decke gewickelt aus dem Zimmer, und sieht auf den Schlafsack herab. Kylah blinzelt im Halbschlaf, sie ist blass und sieht aus, als stünde sie immer noch völlig neben sich.
Statt sie also zu behelligen, rauscht Zoe die knarrenden Treppenstufen hinauf.
„Wo willst Du denn hin?!“, ruft Hank ihr nach, „Wir müssen unmittelbar aufbrechen!“
„Wo sind meine Klamotten!“, faucht Zoe, als sie endlich realisiert, dass sie unter der blöden Armeedecke nur Boxershorts und ein Unterhemd anhat, Second-Hand-Klamotten von irgendwem.
„Was glaubst denn Du? Haste zerschlissen gestern Nacht!“, sagt Hank, „Wo willst Du denn hin?“
„Ich ertrage das alles nicht! Ich gehe an die Luft.“
Fast prallt Zoe auf dem engen Flur mit einer der Hüttenbewohnerinnen zusammen, die zwei Reisetaschen in den Händen trägt, beide erschrecken gleichzeitig voreinander. Die Reisetaschen poltern zu Boden.
Zoe drückt sich ohne weitere Kommentare durch die Hintertür, wie gestern bei der Flucht mit Kylah. Läuft barfuß über den Rasen, der jetzt im Herbstsonnenschein vor ihr liegt. Sie erreicht den morschen Verschlag bei der Baumgrenze. Die Schuppentür ist in Einzelteilen nach außen aufgeflogen, Bretter liegen im Gras verstreut. Zentimeterdicke Furchen sind neben der Türöffnung aus der Bretterwand heraus geschlagen worden. Ihre Fingerspitzen tasten ehrfürchtig darüber. Sie erinnert sich, das hatte
sie gemacht, bei ihrer grauenvollen Verwandlung, mit einem einzigen Schlag ihrer Klauenhand. Sie sieht auch die Abdrücke von Hinterpfoten im nassen Gras, wie von einem riesigen Hund, zentnerschwer. Nein, kein Hund. ... Zoe glaubt, dass sie zu hyperventilieren beginnt, ihr Atem geht zu schnell und zu heftig. Sie wendet sich ab, und läuft zwischen die Bäume, in den Wald.
Ihr ist eiskalt mit ihren nackten Füßen. Aber die Luft von den feuchten Baumrinden und Moosen und dem alten Laub am Boden und vom Erdreich darunter riecht plötzlich unfassbar gut für sie. Sie fühlt sich schlagartig besser. Sie gleitet an einer Eiche herab in sitzende Position, mit dem Rücken gegen den Stamm. Die Decke wird voller Baumgrün und Matsch sein, wenn sie wieder in die Hütte geht, aber das ist jetzt auch mal egal.
Eine Weile sitzt sie nur da, atmet tief die köstliche Waldluft, und fröstelt vor sich hin. Ohne einen weiteren Gedanken in ihrem Kopf, ihr gesamter Verstand scheint ihr wie eine Wunde, über der sich eine nur dünne Schorfschicht gebildet hat.
Schließlich hört sie Schritte näher kommen durch das knackende Unterholz. Shady Sabina, und Hank folgt ihr mit einigem Abstand.
„Kleine, so sehr ich Dir ja Deine Ruhe gönne, nach allem, was Du gerade durchgemacht hast … wir müssen gleich abfahren!“, sagt die kompakt gebaute Frau in warmherziger Stimme.
„Muss ich mitkommen?“, fragt Zoe kraftlos, als sie aufschaut.
„Oh, ja, mein Kind! Wir können Dich nicht hier lassen, der Feind wird bald wieder hierher kommen. Und wir haben außerdem gerade die Verantwortung für Dich. Wir müssen zusehen, dass Dir nix geschieht, bis Deine eigenen Leute Dich holen kommen können.“
„Meine Eltern dürfen
um keinen Preis was davon erfahren, was hier vorgefallen ist …“
„Deine Eltern meine ich auch nicht. Wenn die Blutsgeschwister wären, dann wüsste ich das. Ich bin orn'tlich rumgekommen in meinem Leben. Ich kenne die meisten von unserem Schlag in Detroit und umzu!“
„Blutsgeschwister …“
„Ja, ja! Manche haben es mehr in sich, manche weniger, das Uralte Blut! In Dir aber, Kleine, in Deinen Adern pulsiert es stark. Wie wir gestern Nacht gesehen haben!“
Ungelenk kommt sie bei Zoe an, und verschnauft.
„Wer sind die dann … meine Leute?!“, wagt Zoe zu fragen.
„Deine Lippen sind schon ganz blau! Ab nach drinnen jetzt! Und wir müssen Dir wieder 'ne Hose über'n Arsch ziehen, ich habe schon Klamotten für Dich rausgelegt!“
„Antworten Sie erst, Shady Sabina.“
„Ja, ja. Mir soll’s Recht sein“, sagt Sabina beschwichtigend, und lässt sich auf ihren Gehstock gestützt schwerfällig dem Mädchen gegenüber nieder, auf einer Baumwurzel.
„Ach herrje, ach herrje“, muffelt sie dabei.
Hank bleibt unschlüssig in der Distanz stehen, hört nur zu.
„Deine Leute, Kleine … das ist Dein Stamm. Wir wissen aber leider alle nicht, wer die eigentlich sind. Gibt nicht mehr viele vom Uralten Blut hier in Detroit und umzu. Normalerweise hätten die Dich genauestens im Auge gehabt, denn es wird meistens sehr gründlich Buch geführt über alle Sprösslinge … oder die unsichtbaren Mächte hätten ihnen geholfen. Irgendwas ist da schief gegangen … eigentlich hätten die längst herbeikommen müssen. Du bist offensichtlich ein Verlorener Welpe.“
„Welpe … wie bei einem wilden Hund …?“
„Na, glaubst Du das? Fühlst Du Dich denn wie ein Schosshund, mein Schatz?“, kichert Sabina.
„Wie ein
Wolf … ‚Wolfsblütige‘, ja, schon klar.“
„Nichts ist klar! Das hast Du nur aufgeschnappt. Ich weiß, dass Du leichtsinnigerweise mit Kylah unten auf dem Undersalt Market warst. Ihr habt Euch in Gefahr begeben. Das hätten Deine Leute zu verhindern gewusst, wenn sie hier irgendwo wären.“
„Kylah gehört zu Euch, das hab' ich jedenfalls begriffen. Ihr seid diese …“
„Wir sind die Knochenbeißer!“, nickt Sabina.
„Warum habt Ihr Euch nicht auch … verwandelt, letzte Nacht?“
„Wir hier sind alle Blutsgeschwister. Wir können hinter den Schleier sehen, das wohl, aber wir sind keine Werwölfe.“
„So wie
ich es bin …“, bringt Zoe heraus, und ein Schauder läuft ihr heiß und kalt über den Rücken.
„So, wie Du das bist, Kindchen. Sehr richtig. Letzte Nacht war Dein Erster Wandel.“
„Heute ist noch einmal Vollmond!“, wimmert Zoe entsetzt, „Heißt das, alles von letzter Nacht geht dann wieder von vorne los?“
„Nein, na ja … vielleicht. Ab jetzt wirst Du Kontrolle lernen. Das wird aber ein langer Weg. Der Vollmond, das ist Dein Mond. Euereinem sagt man Wildheit nach. Fast wärst Du noch ein Dreiviertelmond geworden, weißte. Aber Dein Vorzeichen, das ist der Vollmond. Der schien auch, als Du geboren wurdest.“
„Woher wollen Sie denn das wissen?!“
„Es gibt sowas wie Mondkalender!“, kichert die Alte, „Habe ich in der Hütte, ganz altmodisch in Buchform, und hundertprozentig verlässlich! Und Kylah kennt ja Dein Geburtsdatum.“
„Ihr habt Kylah von vornherein auf mich
angesetzt! Ihr habt der gesagt, sie soll sich als meine Freundin ausgeben, damit Ihr mich
überwachen könnt!“
„Um auf Dich aufzupassen, Kindchen, ja. Obwohl Du ja von einem anderen Stamm bist. Aber so wie Du wirkst, bist Du für Deine Leute ziemlich wertvoll. Dich denen wiederzubringen, das wäre vielleicht etwas Anerkennung wert, und eine hübsche Belohnung! Noch dazu in Zeiten wie heute, näch, wo so wenige Nachkommen da sind. Keine Sorge, wir geben vorerst weiter auf Dich Acht, bis wir Deine Herkunft geklärt haben.“
„Ich muss heute noch zurück nach Detroit. Ich muss mich um das Auto von Ellen kümmern, und zu meinen Eltern, und bei meiner Arbeit Bescheid sagen. Und ich habe einen Termin bei der Schulpsychologin. Ich muss ganz viel telefonieren …“
„Das kannst Du nicht verantworten. Du musst Dich von den Menschen fern halten.“
„Zumindest mit meinen Eltern muss ich reden!“
„Ach Kind, Du darfst ihnen eh nicht sagen, was geschehen ist. Sie sind nicht vom Uralten Blut, also darf der Schleier nicht für sie gehoben werden.“
„Was macht das Blut da für einen Unterschied?! Und überhaupt sind das meine Eltern — wenn ich also wolfsblütig bin, dann die logischerweise ja doch auch!“
„Das Vermächtnis überspringt gerne mal eine Generation. Und mit Vererbung hat das sowieso nichts zu tun“, winkt die Alte ab, „Da sind andere Naturgesetze am Werk als die, die Du bisher kennst. Alles was Du bei sowas zustande bringen würdest, wäre Deinen alten Herrschaften den Schreck ihres Lebens einzujagen. Aber Du könntest sie nicht dazu bringen, zu verstehen, was Du jetzt bist. Es ist ohnehin zu früh für sowas. Du musst vorerst Kontrolle lernen, näch? Du wirst Dich jetzt erstmal auf einen Telefonanruf beschränken müssen.“
„Was ich jetzt bin … aber … ich habe doch Verantwortung für so viele Sachen, ich muss meinen Alltag auf die Reihe kriegen …“
„Dein früheres Leben ist vorbei, Kindchen. Du kannst
nie zurück“, sagt Shady Sabina, Mitleid liegt in ihrer Stimme, aber gleichzeitig Bestimmtheit.