"Ich weiß.", antwortete Brille prompt. Sein Bart zuckte kurz. Ein Schmunzeln. Er ließ sich in die Lehne des Stuhls sinken und faltete die Hände über dem kleinen, speckigen Bäuchlein.
"Wärst du ein Wannabe, würde ich jetzt ein wenig Herumtaktieren. Ich würde dich zappeln lassen, ein paar verschleiernde Andeutungen machen und nichts, rein gar nichts dazu sagen.
Da du aber der bist, der du bist...", wieder das Zucken, "...gehen wir das Ganze mal etwas anders an. Dennoch weoßt du aber, dass du dich hier weit aus dem Fenster lehnst, oder?" Brille wiegte seinen Kopf etwas, wie als müsse er noch etwas abwägen.
"Also: Weizmann ist Prio Eins. Ich gehöre allerdings nicht zu den Häschern, und ich glaube, dass unsere geschäftliche Beziehung nicht ganz unschuldig daran ist, Zago."
Er langte nach der Tasse Kaffee. "Du erkennst jetzt wahrscheinlich, dass ich zwischen zwei Stühlen sitze. Indem ich so offen mit dir rede, weißt du wenigstens, woran du bist." Brille spitzte die Lippen und nippte an dem heißen, echten Kaffee.
"Er ist einer unserer wichtigsten Aktivposten. Ein brillanter Wissenschaftler, frische, ungewöhnliche Ideen und ein Talent für nobelpreisverdächtige Forschungen. Der Konzern hat ihn daher von Anfang an protégiert, ihm ein ganzes Labor eingerichtet und sich bemüht, die Verbindungen zu Pomorya nicht mehr über Anwälte für Umweltrecht laufen zu lassen, sondern aus ihm ein Aushängeschild für das Umweltbewusstsein der AG Chemie zu machen."
Er räusperte sich. "Das ist gründlich in die Hose gegangen. Nicht nur, dass Weizmann trotz allem seinen eigenen Kopf besitzt...er ist auch, wie viele geniale Köpfe vor ihm, wie soll ich sagen, nicht ganz richtig in der Birne. Ich glaube, man nennt es schizoid.
Er ist reserviert, zurückgezogen und scheu, manchmal sogar launenhaft bis überspannt, wirkt fast verschroben, kühl, abweisend, ohne die geringste Fähigkeit, warme, zärtliche Gefühle, ja sogar Zorn oder Ärger anderen gegenüber zu zeigen, bis hin zur Gleichgültigkeit gegenüber Lob oder Tadel. Offenbar gibt es für ihn nur wenige Tätigkeiten, dieihm Freude oder Vergnügen bereiten. Und deshalb hat er auch keine engen Freunde oder Vertraute - ob gewünscht oder eben auch nicht.
Das einzige, was ihm etwas bedeutet, ist seine Arbeit. Und die AGC dachte, er sei damit zufrieden.
Aber es muss irgend etwas passiert sein. Irgend etwas, das ihn dazu brachte, die AGC verlassen zu wollen. Leider weiß der Konzern nicht, was es war - sie wollten ihn befragen, doch er vertröstete sie geschickt bis nach dem Kongress in Köln.
Dann muss er Vorbereitungen für seine Flucht getroffen haben. Die AGC glaubt, er habe Verbindungen zu den Leuten gesucht, die in Hamburg alles besorgen können: Einen sicheren Weg aus der Obhut eines Konzerns hinaus, neue Pässe, neue Identität. Und ab da kam wohl die Vory ins Spiel. Den Kontakt hat er in der Hamburger Unterwelt gesucht, aber die AGC vermutet, dass ihm ein 'alter Freund' letztendlich geholfen hat: Andrasz Vak.
Vak arbeitete lange Zeit als eine Art Datenkurier für brisante Informationen und Daten, die zwischen der AGC und ihren Dependancen in Osteuropa nicht über offizielle Kanäle ausgetauscht werden sollten. Möglicherweise hat Vak auch einmal Daten zwischen Weizmann und Osteuropa hin- und hergeschleust und sie kannten sich.
Also, gehen wir davon aus, dass Vak und Weizmann gemeinsame Sache gemacht haben. Dann aber gab es einen Angriff auf Vaks Discothek, das "Hungarian". Vielleicht war Weizmann dort, als es stattgefunden hat, vielleicht auch nicht. Tatsache ist, dass danach die AG Chemie Himmel, Hölle und alles dazwischen in Bewegung gesetzt hat, um Weizmann zu finden."
Brilles blaue Augen beobachteten Zago eingehend. Und Zago musste sich fragen, warum Brille plötzlich so ungewohnt offen war...nun ja. Er gehörte nicht offiziell zu den Häschern, aber wenn er etwas lieferte, dass zu Weizmann führte, hätte er seine Stellung im Konzern wahrscheinlich ein weiteres Mal zementiert.