Nimrott bestätigte:
"Dann kehren wir zum See zurück. Eine Fackel zu entzünden ist sicherlich keine schlechte Idee."
Nachdem Talonis ein geeignetes Stück Holz gefunden hatte, umwickelte er es mit einem alten Lumpentuch. Gasper hatte Öl für die Waffenpflege bei sich, so dass sie damit das Tuch tränken konnten. Die selbstgebaute Fackel brannte hell und spendete viel Licht. In einem engen Kreis um die Gruppe schienen die Schatten des Waldes gebannt zu sein, doch sehr weit konnte man mit dem Ding nicht leuchten. Nichts desto trotz machten sich die Reisenden auf, den See wieder zu finden. Was Nimrott vermutet hatte und die übrigen wenigstens ahnten, trat ein. Der See befand sich nicht dort, wo er sein sollte. Sie waren ihren eigenen Spuren gefolgt. Sie hätten das Gewässer erreichen müssen. Anscheinend war diese ganze Welt verdreht, Orte hatten hier keinen festen Platz. Auch ihre Fußabdrücke schienen verändert, waren teilweise verstreut oder endeten im Nichts.
Sie hatten bereits viele Stunden gesucht, da mussten sie aufgeben, weil dier Erschöpfung an ihnen nagte und die Fackel nicht mehr brannte. Sie fanden eine Stelle, an der die feuchten, fauligen Bäume nicht ganz so dicht standen und einen helbwegs offenen Platz frei ließen. Der dunkle Himmel lag wie ein massives Gewölbe über ihnen, welches jeden Moment einzustürzen drohte. Einige merkwürdig anmutende, ausgewaschene Lehmhügel reihten sich an der lichten Stelle aneinander. Auch bei genauerem Hinsehen offenbarte sich nicht, warum sie hier waren. Dass Mortan es trotz des feuchten Holzes gelang ein Feuer zu entzünden, zeugte von seiner zwergischen Abstammung und damit vom handwerklichen Geschick, das jedem seines Volkes in die Wiege gelegt war.
Luana dachte an die Worte ihres alten Meisters. Ihr hatte er vor langer Zeit etwas über geheime Pforten im Nebel und in den Schatten erzählt. Waren das die Pforten in das Schattenreich? Bei genauerem Nachdenken fiel ihr auf, dass jeder Ort, den sie in den letzten Stunden betreten hatten etwas vertrautes aufwies. Ihr zweites Gesicht gestattet es der Halbelfe mehr zu sehen, als den übrigen. Dabei war es nicht einmal eine Gewissheit, eher ein Gefühl, das den Orten anhaftete. Sie schienen ihre Gegenstücke in der realten Welt zu haben oder könnten wenigstens Pforten sein. Lange grübelte sie nicht mehr vor sich hin, denn schon bald übermannte sie der Schlaf.
Mortan übernahm die Wache, während die übrigen ruhten, weil er als Zwerg mit wenig Schlaf auskam. Vielleicht hätte die Wahl auf keinen besseren Fallen können, denn wieder schoben sich die zwei merkwürdigen Gestalten in sein Blickfeld, die er bereits zuvor gesehen hatte. Immer wieder drehte er sich schreckhaft um, weil er hoffte sie so gänzlich erblicken zu können. Doch immer wieder verschwanden die Schemen vor seinen Augen, so als wären sie bloße Einbildungen. Irgendwann starrte der Zwerg lediglich auf die sanfte Glut des heruntergebrannten Lagerfeuers, um ein Ablenkung zu haben. Trotzdem kamen die Schemen wieder. Bald kamen sie sogar näher. Dann hielt es Mortan nicht mehr aus und versuchte erneut einen Blick zu erhaschen. Diesesmal verschwanden die Schatten nicht. Sie standen zwischen den Bäumen und starrten zunächst regungslos in seine Richtung. Der Zwerg bekam es mit der Angst zu tun, denn seine ganze Wahrnehmung änderte sich schlagartig. Es gab keine klaren Geräusche mehr, sondern nur noch dumpfte Töne ohne Tiefe. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an. Die Formen von Gegenständen seiner Umgebung wirkten stumpf und unwirklich. Jetzt waren die Gestalten besser zu erkennen. Es handelte sich um zwei dicke, große Kerle mit blasser, ledriger Haut, die abgestorben wirkte. Die Gesichter waren regungslos, die Blicke bleich und kalt. Der Eine bewegte seinen Mund. Es schien Mortan, als ob Erde herausquoll, anstatt dass Worte den Mund verließen. Der andere dicke Kerl versuchte nicht zu reden. Der Zwerg erkannte erst jetzt, dass der aufgedunsene Bauch geöffnet war und ihn eine eiternde, klaffende Wunde wie ein breiter Mund angrinste. Mortan traute sich nicht eine Bewegung zu machen. Er schluckte schwer und hoffte, dass die beiden Fremden keine bösen Absichten hegten. Er sah, wie die große Gestalt, der unablässig feuchte Erde aus dem Mund quoll, auf die Schlafenden zuging. Mortan war wie gelähmt und hoffte, dass nicht er das Ziel dieses Wesens war. Dann bewegte sich die Gestalt an einem der großen Lehmhügel vorbei, blieb kurz stehen und stemmte sich mit der Kraft faseriger, lebloser Muskeln, die deutlich hervortraten, dagegen. Es grollte, die Erde bewegte sich. Ganz plötzlich kehrte Mortans natürliche Wahrnehmung zurück und beide Gestalten verschwanden aus seinem Blickfeld. Die Umgebung wirkte nun wieder wie zuvor. Er stellte mit Erstaunen fest, dass er genau auf Nimrott blickte, der sich an die steile Wand des Lehmhügels gelegt hatte. Nur einen unbedeutenden Augenblick später, rutschte der Lehm ab und begrub den Zauberer unter sich. Der dadurch verursachte Lärm, riss schlagartig alle Übrigen aus dem Schlaf.