Es gab da mal einen spitzenmäßigen Artikel in der NEON zum Thema Meinung.
Mal sehen ob ich finde. [EDIT: Gefunden!]
[EDIT2: Lesbar gemacht!]
Kein KommentarMEINUNGEN haben viel mit Obst gemeinsam. Sie sind schnell verderblich, oft unreif und im Überfluss vorhanden.
Das Meer, die Wogen, das Rauschen, die untergehende Sonne eine Kaminflamme am schläfrigen Himmel, alles ist Ruhe, Stille, Frieden, die Seele schaukelt in der Hängematte, nippt am Whiskey Sour, sie steckt sich eine Zigarre an, selbst Gott gähnt zufrieden – es gibt Augenblicke, da ist alles gut.
Außer: Jemand hat eine Meinung dabei. Jemand, der nicht einmal einen wunderschönen Sonnenuntergang am Meer einen wunderschönen Sonnenuntergang am Meer sein lassen kann. Sondern der dann sagt: »Es ist echt so: Es gibt einfach nichts Ruhigeres als das Meer.« Oder: »Hier sieht man deutlich, dass das Wasser immer schmutziger wird.« Oder auch: »Sonnenuntergänge sind ja total überschätzt.«
Solche Menschen können nicht anders, als immer und zu allem ihre Meinung zu äußern. Immer und zu allem haben sie auch eine. Welche, ist völlig egal. Jede Meinung ist ihnen lieber als keine. Damit bewerfen sie uns dann in Kantinen, Zugabteilen, Kneipen und selbst abends am Strand.
Auch in den Zeitungen liest man ständig von ihnen. In Leserbriefen sowieso und in Kommentarspalten. Obendrein setzt man uns noch ungefragt die Meinungen von Befragten vor. Dann steht im Nachrichtenteil: 55 Prozent der Deutschen sind der Meinung, dass die Rechtschreibreform rückgängig gemacht gehört, 38 Prozent sind dagegen. 58 Prozent meinen, dass Studiengebühren falsch sind, 35 Prozent halten sie für richtig. Überall wimmelt es von Überzeugungen und ihren Prozentzahlen. Weiter: 74 Prozent finden, dass wir uns heute für Auschwitz nicht mehr schuldig fühlen müssen, 20 Prozent sagen doch. 81 Prozent wollen Gewaltvideos verbieten lassen, 17 Prozent nicht. 68 Prozent würden niemals, niemals! gentechnisch veränderte Lebensmittel kaufen, 29 Prozent schon. Wie viel Prozent wollen eigentlich wissen, was die Leute in solchen Meinungsumfragen denken?
Und im Schatten dieser Wolkenkratzer von Ansichten und Gewissheiten duckt sich, verzagt und verschämt, eine Minderheit, so exotisch wie Gelbsucht unter Schlümpfen: Sieben, sieben, sechs, ein und drei Prozent antworteten in den erwähnten Umfragen nur »weiß nicht«. Keine Ahnung, nicht mein Thema, fragense wen anders. Dabei müssten das viel mehr Befragte sagen, wenn sie ehrlich und mutig genug wären. Selbst auf die Frage »Werden die Unternehmen in Deutschland im Vergleich zum Ausland zu stark besteuert?« sagten 54 Prozent ja, 31 Prozent nein – und nur 15 Prozent gaben an, sie wüssten es nicht. Die Besteuerung von Unternehmen! Im Vergleich zum Ausland! Wie in aller Welt kommt man in so einer Frage an eine Meinung? Gibt es die auf dem Schwarzmarkt, zusammen mit einem Tütchen Koks und zwei Karten fürs WM-Finale? Wer sich ohne Meinung erwischen lässt, macht sich verdächtig, lächerlich oder beides. Ist er so teilnahmslos, dass er nie Nachrichten schaut und nie Zeitung liest, nicht einmal BILD? So scheu, dass er Angst hat, was Falsches zu sagen? So berechnend, dass er seine Meinung verschweigt, um erst in Ruhe sein Fähnchen nach dem Wind zu richten? Meinungsbildung ist ja oft ein sehr einfacher Prozess, in dem sich die meisten nicht für das entscheiden, was sie für richtig halten, sondern für das, von dem sie glauben, dass die meisten anderen es für richtig halten. Oder ist der Meinungslose doch nur so blöde, dass er die Sache einfach nicht begriffen hat? »Na hör mal, dazu musst du doch eine Meinung haben! Soll ich dir sagen, was ich denke?« – »Was heißt das, du weißt nicht so genau? Sag gleich, wenn ich dich langweile.« – »Du hast keine Meinung? Dann gehst du wohl auch nicht wählen?«
Die Leute tun so, als herrsche nicht Meinungsfreiheit, sondern Meinungspflicht, als wäre es das Gleiche, ohne Meinung aus dem Haus zu gehen wie ohne Hose. Doch jene Meinungsfreiheit, die wir zu Recht als eines der kostbarsten Güter unserer Verfassung ehren und verteidigen, umfasst auch die Freiheit, keine Meinung zu haben – statt sie anderen bei jeder Gelegenheit hinzuschmieren wie Sperma aufs Butterbrot. Doch, genau so fühlt sich das an. Wenn wir einen milderen Vergleich nehmen wollen, sind Meinungen wie Pflaumen. Mehr Wert können sie kaum haben, denn wertvolle Dinge wie Gold oder Juwelen hegt und hortet man ja, statt sie blind rauszuhauen. Diese Pflaumen also trägt jeder bei sich, ständig, um sie anderen in eigentlich schönen Momenten in den Schlund zu pressen.
Das ist der erste Irrglaube von den Meinungen: immer eine haben zu müssen. Diese Inflation geht so weit, dass – mit dem zweiten Irrtum – die Pflaumen schon verhökert werden, lange bevor sie gut sind. Wer gönnt sich noch den Luxus, seine Meinung erst einmal reifen zu lassen, bevor er sie in die Welt schmeißt? Diese Eile kommt vielleicht vom Fernsehen. Sobald ein berühmter Mensch in eine Kamera spricht, weiß er alles immer ganz genau und vertritt diesen Punkt mit Bestimmtheit. Die vielen unberühmten Leute, die nie in eine Kamera sprechen, wollen dann auch so tolle Meinungen. Kein Problem: Sie müssen ja nur den Kameramenschen nachsprechen.
Und ist eine Ansicht erst in die Welt gesetzt, rühren sich ihre Besitzer – das ist die dritte Idiotie – nicht mehr von der Stelle. Einmal eine Meinung, immer eine Meinung. Einmal gegen Atomkraft, immer gegen Atomkraft, einmal gegen Gentechnik, immer gegen Gentechnik. Man kann durchaus Linker und trotzdem für Atomstrom und Gentechnik sein, aber zu spät: Viele schreien Dagegen oder Dafür im gleichen Reflex, mit dem Fußballfans in jeder Situation den Schiedsrichter ausbuhen, in der er gegen die eigene Mannschaft pfeift. Egal wie zermatscht, verfault und angeschimmelt die Meinungspflaumen sind, die Menschen hängen an ihnen, als wären es alte Familienfotos. Bloß nicht heute Ja und morgen Nein. Denn wer ständig seine Meinung wechselt, dem unterstellt man, dass er eigentlich gar keine hat. Und das ist ja angeblich das Allerschlimmste. Die eifrigsten Meinungsesel sind natürlich die Politiker. Die sagen bestimmt zweihundert Meinungen am Tag, und jede davon ist so fest in die Erde gerammt wie ein Achttausender. Schwer vorstellbar, dass ein Moderator fragt: »Sind Sie mehr für Gentechnik oder mehr für Bio?«, dann überlegt Angela Merkel eine Weile und sagt: »Oha, da erwischen Sie mich aber auf dem falschen Fuß, da müsste ich mich erst informieren. Aber wissen Sie, es ist doch sowieso immer das Gleiche: Wie man’s macht, macht man’s falsch. Oder?« Würde Angela Merkel das sagen – sehr viele Wähler hätten von ihr eine schlechte Meinung. Also strafft sie ihr Image, ihre Erscheinung und natürlich ihre Rhetorik, auf dass sie in jeder Sekunde so entschlossen wie möglich wirke, ohne jeden Augenschlag des Zweifels. So wandelt sie schrumplige und mufflige Pflaumen in volle und saftige, und siehe, diese Frau hat eine Meinung und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Aber selbst wenn die Pflaumen in vollem Saft stehen: Wie viele davon sollen wir denn noch essen? Von all den Meinungen kriegt man ja Durchfall. Wer hat je bezweifelt, dass Gentechnik eine heikle Sache ist? Wer würde dagegen protestieren, dass Gewaltvideos mit Vorsicht zu genießen sind? Das ist die vierte Plage der Meinungen: Auch die selbstverständlichsten, unbestreitbarsten und also absolut überflüssigsten Auffassungen stopft man uns immer und immer wieder in die Köpfe, dann rauschen sie durch uns hindurch, nichts davon bleibt hängen, und wir? Wir schlucken weiter, ewig.
Aber man darf schwanken. Unentschlossen ist nicht gleich denkfaul. Die Entschlossenen machen es sich oft viel leichter. Sie müssen nicht denken. Stattdessen haben sie eine Meinung. In Wahrheit sind es aber oft die Achselzucker, die Weiß-nicht-Sager, die am gründlichsten nachgedacht haben. Sie schlucken eben nicht jede wurmstichige Frucht, die man ihnen vorsetzt, sondern sie beißen mal hier an und mal dort, weil sie wissen: Die meisten Dinge auf der Welt sind schrecklich zweischneidig. Zum Beispiel die Rechtschreibreform. So täuschend hitzig auch darüber diskutiert wird: Sie ist nicht richtig, sie ist nicht falsch, sie ist ein langweiliges, graues Vielleicht.
Man darf Unwissenheit zugeben. Wer zum Beispiel versteht schon so viel von der Gentechnik, von der Föderalismusdebatte und von der Türkei, dass er guten Gewissens eine Haltung vertreten kann? Du hast dich wirklich damitbeschäftigt? Gut, dann sprich zu uns. Du hast unsere volle Aufmerksamkeit.
Man darf manchmal drauf pfeifen. Die Flat Tax in Osteuropa? Die Torhüterdebatte? Sorry, es gibt noch andere Probleme. Man muss nicht nur nicht zu allem Stellung beziehen, man muss sich nicht einmal für alles interessieren. Das befreit. Oft machen Meinungen erst Dinge wichtig, die es gar nicht sind. Meinungen sind die Wachstumshormone von Scheinthemen. Und man darf seine Meinung für sich behalten. Das darf man am allermeisten. Eine Meinung, nach der man handelt, ohne sie auszusprechen, wird zu etwas Besserem: zu einer Haltung.
Aber man kann das alles natürlich auch anders sehen.