Der Schöpfer
„Er ist die Luft, die wir atmen, und das Brot, das wir essen. Er durchdringt alles und jeden - das Gute wie das Böse. Aber wir kennen nicht einmal seinen Namen.“
Fünfter Gesang, Der Herr des Seins
Die Wanderer hatten das verwunderliche Universum schon weit hinter sich gelassen, als sie sich in einen neuen Kosmos begaben. Er war kalt und dunkel. Keine Sterne zogen ihre Bahnen, keine Sonne erhellten die Welten und nirgendwo schien es Leben zu geben. Sie bewegten sich durch das Dunkel, als sie auf eine Scheibe stießen. Sie war winzig. Sie schien verloren in dieser Weite und eine unsagbaren Traurigkeit umgab sie. Es gab weder Berge noch Meere. Es existierte kein Leben und nichts schien je darauf wachsen zu können. Einzig ein feiner weißer Staub bedeckte sie wie ein Leichentuch. Am Rand der Scheibe saß ein Knabe auf einem Stuhl und starrte in die Dunkelheit des Alls. Tränen liefen ihm über die Wangen. Blut quoll aus seinen Händen, in die er seine Fingernägel tief vergraben hatte.
Er hatte einen Kreis in den Staub gezeichnet und beobachte mit leblosen Blick, wie sein Blut hineintropfte: „Das bin ich“, sagte der Knabe und deutete auf den Kreis. „Das Ende ohne Anfang und der Anfang ohne Ende. Ich bin die Unendlichkeit, Liebe und Hass zugleich. In mir vereinigten sich alle Geschöpfe des Lichts und der Dunkelheit, wie auch alle Materie dieser Welt. Ich bin der Schöpfer. Doch meine Kinder sind tot.“
Sie setzten sich hinzu und fragten ihn, warum er weinte. Er wusste es nicht. Es war nicht der körperlich Schmerz, den er sich selbst zugefügt hatte. Es war auch nicht die Traurigkeit, die seine Seele befallen hatte. Da war noch die innere Kraft, die immer wieder versuchte, aus den Tiefen seines Körpers emporzusteigen. Er konnte diese Kraft kaum bändigen, doch er zügelte sie mit all seiner Macht.
Die Wanderer umhüllten den Knaben mit ihrer Liebe und wogen ihn zärtlich in den Schlaf. Aber selbst im Schlaf versiegten nicht seine Tränen, und aus seinen Händen quoll noch immer das Blut wie ein Fluss unendlicher Verzweiflung.
Als er wieder erwachte, erzählte er ihnen von einem Traum. Es war schon lange her, dass er geträumt hatte - viel zu lange. Er hatte seine Brüder und Schwestern gesehen, an deren Gesichter er sich nicht mehr erinnern konnte. Und er hatte sich gesehen, zu einer Zeit, in der er noch mit ihnen vereint gewesen war. Als der Kreis noch nicht durchbrochen war und die große Einheit noch bestand.
Sie berichteten sie ihm von dem anderen Universum, welches sie einst besucht hatten und für einen kurzen Moment hörte der Knabe zu weinen auf. Ein Lächeln erfüllte seine Seele und die Traurigkeit war verschwunden.
„Diese Welt, die ihr besucht habt, ist ein Mitglied meiner Familie“, sagte der Knabe mit zitternder Stimme. „Sie ist ein Teil der großen Einheit gewesen und somit ein Teil von mir, wie ich auch ein Teil von ihr war.“
Die Wanderer offenbarten ihm, dass sie seine Worte nicht verstanden und so sprach der Knabe weiter.
„Einst waren wir eine große Einheit, verbunden zu einer großen Sphäre. Unsere Kraft war unvorstellbar und unsere Harmonie vollkommen. Doch dieser Einklang hatte uns unbekümmert werden lassen und dies nutzten unsere Feinde, die Sembaren, um unsere Einheit zu zerstören. In unvorstellbarem Schmerz zerriss diese und schleuderte uns durch das All. Als wäre diese Trennung noch nicht unerträglich genug, fand sich jeder von uns in einem leeren, toten Universum wieder.“
Die Wanderer erzählten wieder von dem anderen Universum, berichteten von der dortigen Schönheit des Lebens und von der Vollkommenheit der Sterne. Dort war keine Leere und sie hatten keine Kälte verspürt.
Das Lächeln des Knaben erlosch und die Traurigkeit kehrte zurück.
„Was sehen eure Augen hier?“ Er deutete auf den weißen Staub um sich herum. Sie sagten, dass sie außer Staub nichts erkennen konnten.
„Nein“, entgegnete er verbittert, „das sind Träume und Länder, Gefühle und Lieder, Leben und Tod.“
Nun verstanden sie: Der Knabe war der Schöpfer. Er war einst Teil der großen Einheit gewesen. Um das Universum zu formen und zu beleben, musste er nur die Kraft freisetzen, die in ihm ruhte. Dann würde auch er Welten schaffen, Sonnen gebären und das Universum nach seinen Gedanken formen können. Aber er versuchte, dies um jeden Preis zu verhindern und so fragten sie ihn, warum er sein Kraft bändige.
„Wenn ich meine Kraft freisetze, so werde ich eins mit allem“, sprach er. „Es wird nichts mehr zurückbleiben. Meine Kraft wird schwinden und ich werde endgültig an diesen Ort gefesselt sein. Dann werde ich niemals meine Geschwister finden können.“
Der Knabe verbarg sein Gesicht in den blutüberströmten Händen. Blut und Tränen vermischten sich zu einer hellroten Flüssigkeit, die durch seine Finger rann.
Das Leid des Knaben berührte die Wanderer und so erzählten sie ihn von der Kraft der anderen Universums. Sie berichteten von der Energie, die alles umgab und die mit jedem Augenblick ein wenig mehr zu wachsen schien. Dann verstanden sie.
Die Kraft der Sphäre war mit der Schöpfung des Universums nicht aufgebraucht. Es war die Saat, die gelegt wurde, um neue Stärke zu gewinnen. Die Existenz der Welten, wie auch das Leben und Sterben der Kreaturen, gaben der Sphäre wieder etwas von ihrer verlorenen Kraft zurück und mit jedem Tag würde dieser wieder wachsen.
Sicherlich, sagten Sie, würde er eines Tages zu einer noch mächtigeren Kreatur aufsteigen. Dann würde er sein Gefängnis hinter lassen und sich wieder mit seinen Geschwistern vereinigen könnte.
Jetzt verstand auch der Knabe und sein trauriges Gesicht hellte sich auf. Er schien Erlösung gefunden zu haben. Seine Traurigkeit verwandelte sich in Freude, sein Leid in Glück. Nun konnte er die Kraft, die ihn schon so lange quälte, endlich befreien.
Er betrachtete seine Hände. Sie hatten zu bluten aufgehört.
Die Geburt der Sphäre
„Es ist ein Moment der Freude und des Glücks. Es ist der Anfang aller Dinge und allen Lebens. Für manche ist er aber auch der Anfang unendlichen Leides.“
Siebter Gesang, Licht des Lebens
Das All erbebte. Eine Sonne wuchs aus dem Nichts empor. Ihr folgte ein Planet mit einem kleinen Mond. Für einen Augenblick war der Planet ein kalter, toter Stein. Dann regnete es Feuer. Eine riesige Schlucht tat sich auf, aus der sich Berge und ein Fluss erhoben. Neben dem Fluss entstand eine Stadt und neben ihr eine weitere. Die Spitzen der Berge bedeckten sich mit Schnee Ein Wald wuchs und Pflanzen grünten den Boden.. Blaue und grüne Tiere durchstreiften den Wald und stillten ihren Durst an dem kühlen Nass des Flusses. Auf den Felsen der Berge erblühten Blumen und Pflanzen in allen Farben des Regenbogens, der die Städte überspannte. Aus den Städten kamen Wesen gelaufen, um den Augenblick ihrer Geburt zu feiern. Die Wesen waren von großer Schönheit und voller Anmut. Sie tanzten und sangen auf den Wiesen vor ihren Städten. Als die neu geborene Sonne zum ersten Mal hinter dem Horizont verschwand deutete nichts mehr darauf hin, dass hier vor kurzer Zeit nur eine Wüste weißen Staubes war.
Sie hatten die Geburt der neuen Welt aus dem All beobachtet. Der Knabe war verschwunden, aber sie konnten seine Gegenwart spüren. Jedes noch so kleine Teilchen der Sphäre war von ihm durchdrungen und das Leben pulsierte durch das Universum und mit jedem Augenblick konnte sie die Freude und die Befreiung des Knaben spüren.