noch Festtag, der 20. Vorgeheim
Ein schwerer Schlag trifft mich an der rechten Schulter. Stechender Schmerz durchzuckt mich, und ich werde zu dem eisernen Gitter zurückgeschleudert. Reichlich Blut strömt aus der Wunde, und zu meinem Unglück schlängeln sich die beiden Tentakeln weiter auf mich zu. Unwillkürlich zuckt meine Hand zum Schwertgriff, doch mir wird sofort klar, dass ich mit dieser Verwundung die gute Waffe nicht gerade wirkungsvoll werde führen können. Was mir als Hoffnung bleibt ist lediglich der Feuerkristall, den ich immer noch in meiner Linken halte, denn meine Gefährten können mir nicht beistehen - sind sie doch immer noch durch die eiserne Sperre von mir getrennt. In magischen Dingen bin ich nun leider gar nicht bewandert ...aber das ist mir jetzt egal, entweder werde ich hier und jetzt zerfleischt, oder ich unternehme irgend etwas Verrücktes - und zwar sofort.
„PÒZAR ZMÈNIT KURÀKY!!!“ brülle ich aus Leibeskräften - wenn ich mein Khazalid noch nicht ganz vergessen habe, sollte das etwa soviel bedeuten wie: „Brennet und werdet zu Asche“. Zugleich umklammere ich den Stein noch fester und strecke ihn den Tentakeln entgegen. Und dann scheint mit einem Mal die Zeit still zu stehen: Die Tentakeln verharren mitten in der Bewegung, und rings um mich wird plötzlich alles taghell - so gleißend hell, dass ich kaum noch irgendetwas erkennen kann. Die Luft um mich herum beginnt zu knistern, dann sogar zu brennen, so zumindest erscheint es mir, und tief in meinem Inneren bereitet sich ein schier unbeschreibliches Hochgefühl aus - so muss sich unendliche Macht anfühlen! Niemand kann mich jetzt noch aufhalten!
Dann schwindet das Gleißen so rasch, wie es mich zuvor geblendet hat. Von den Tentakeln ist nichts mehr zu sehen, nur ein säuerlicher Brandgeruch liegt noch in der Luft. Was war das denn???
„Ist alles in Ordnung, Sigurd?“, reißt mich Magnus' tiefe Stimme aus den Gedanken, und jetzt schmerzt auch meine Wunde wieder. „Ich glaube schon ... bis auf meine Schulter, da hat es mich ziemlich erwischt. Aber jetzt sollten wir erst einmal sehen, wie wir diese Eisensperre hier aufbekommen. Vorsichtig taste mich ich - natürlich mit den Füßen! - durch den Schlamm, und tatsächlich: Das hier muss das Seil sein, das vorhin den verwünschten Mechanismus ausgelöst hat. Ich versuche es, mit der Stiefelspitze ein wenig daran zu ziehen, und plötzlich höre ich auch ein dumpfes 'Klack'. Aber sonst geschieht überhaupt nichts. Na ja, vielleicht muss man es ja in die entgegengesetzte Richtung ziehen. „Magnus, sieh doch mal, ob Du das zu fassen bekommst!“ Mit dem Stiefel schiebe ich das Seil unter dem untersten Gitterstab hindurch, und Magnus greift danach - es hat doch seine Vorteile, dass dieser Krieger seine Handschuhe nie ablegt. Wieder ertönt ein 'Klack', doch auch diesmal bleibt das Gitter geschlossen. Also zieht Magnus etwas heftiger an dem Seil, und dann ... reißt es, und der Sigmarianer verliert beinahe das Gleichgewicht. „Ja, dann war das wohl doch nur der Auslösemechanismus ...es muss doch noch einen anderen Weg geben, dieses Gitter zu öffnen!“, murmelt er vor sich hin, aber für mich klingt es mehr danach, als wolle er sich selbst beruhigen, und nicht uns. Also mache ich mich daran, beide Wände abzutasten, aber leider ohne Erfolg. Monalon, die es mir auf der anderen Seite des Gitters gleichtut, ergeht es auch nicht besser. Schließlich wird Magnus ungeduldig, greift mit beiden Händen beherzt in den knöcheltiefen Schlamm und beginnt damit, die ersten Gitterstäbe mit der rotbraunen Masse zu bestreichen. Eine wahrhaft geniale Idee, war ihm doch aufgefallen, dass offenbar sämtliches Metall, das mit diesem Schlamm in Berührung kommt, sich mehr oder weniger aufgelöst hatte, etwa wie die Rüstungen der beiden toten Oger, oder auch die Eisenteile des Tisches in der Schlafkammer der Zwerge. Die Frage ist nur, wie lange das wohl dauert. Immerhin bemerkt Monalon, dass sich das Metall langsam aufheizt, und die Stangen klingen auch zunehmend hohl, wenn man dagegenklopft. Schließlich zieht Magnus seine kleine, handliche Elfen-Axt hervor und schlägt auf die ersten Stäbe ein. Und er hat geradezu durchschlagenden Erfolg! Das war leider auch bitter nötig, denn gerade, als er die untersten vier der insgesamt zwölf Stäbe beseitigt hat, so dass meine beiden Gefährten sich hindurchschlängeln können, um zu mir in den Gang zu gelangen, kommen aus dem großen 'Empfangsraum' hinter ihnen bereits wieder zwei riesige Tentakeln herbei geschlängelt. Erfreulicherweise prallen sie aber an den restlichen Gitterstäben ab. Wie gut, dass die 'Dinger' keine Augen haben!
„Könntet ihr euch bitte mal um meine Schulter kümmern - die schmerzt doch ungemein!“, begrüße ich meine Gefährten, kaum dass sie sich durch den gerade für den kräftig gebauten Magnus qualvoll engen Spalt gezwängt haben. „Aber vielleicht solltet ihr zuvor doch lieber die Handschuhe ausziehen“, bringe ich mit einem gequälten Lächeln noch hervor - ein paar dieser Würmer und wer weiß was noch für ein Getier in diesem Schlamm lebt, würden der Wunde sicher nicht sonderlich gut tun. Magnus reißt die zerfetzten Stoffreste des Hemdes von meiner Schulter und saugt dann lautstark die Luft durch die Zähne - die Platzwunde ist wohl noch tiefer, als ich gedacht habe. Wenigstens muss ich sie jetzt nicht sehen ...mir wird schwindelig, und ich spüre gerade noch, wie Magnus mir den Griff eines Dolches zwischen die Zähne schiebt - und dann beginnt Monalon mit der 'Operation'. Sie hat ja jetzt hoffentlich schon etwas Übung darin, immerhin hat sie ja vorhin noch bei unserem Sigmarianer eine sehr ähnlichen Verwundung behandelt. Vorhin? ...wie lange ist das jetzt wohl schon her? Wir müssen ja jetzt schon viele Stunden hier im Zwergenschrein verbracht haben, und es wird Zeit, dass wir irgendwann mal zur Ruhe kommen! Stechender Schmerz schreckt mich aus meinen Gedanken. „So geht das nicht, Monalon! Wir müssen ihn irgendwo hinlegen“, beschließt Magnus, und so wird meine Schulter erst einmal notdürftig verbunden, um wenigstens die Blutung etwas zu lindern.
Der Weg zurück scheint wenig einladend - da war zwar der Tisch in der Schlafkammer der Zwerge, aber stabil war der ja nicht mehr, da alle Eisenteile zerfallen waren, die ihn noch aufrecht hielten. Darauf diese 'Operation' durchzuführen, erscheint auch Magnus unmöglich. Und mir geht es von Augenblick zu Augenblick schlechter, ich kann mich kaum noch aufrecht halten. „Kann mir irgendjemand bitte mal den Feuerkristall abnehmen und vorangehen? Ich fühle mich dazu nicht recht in der Lage ...“. Ich habe noch nicht einmal ausgesprochen, da reißt mir Monalon den Stein förmlich aus der Hand - und ich meine auch, ein gefährliches Blitzen in ihren Augen wahrgenommen zu haben. Und jetzt, wo ich den Kristall nicht mehr in der Hand halte, fühle ich mich nicht nur noch schwächer als zuvor, sondern verspüre tief in meinem Inneren plötzlich eine gähnende Leere und unendliche Einsamkeit, so dass es mir fast unmöglich scheint, die Tränen zurückzuhalten. Aber vor meinen Gefährten zu heulen wie ein Schlosshund? Nein, so weit bin ich dann doch nicht! Dennoch, diese unendliche Trauer droht mich fast zu überwältigen.
Langsam und mit unsicheren Schritten folge ich Monalon den Gang hinab, immer wieder muss Magnus mich stützen - und ich bin mir sicher, das liegt nicht nur an dieser Platzwunde! Nach schier endlosem Marsch (wahrscheinlich sind in Wahrheit nur Minuten vergangen!) betreten wir einen eindrucksvollen Saal: Sicher zehn Manneslängen misst er in der Höhe, die Wände sind glatt verputzt und kunstvoll geziert: Muster und Wappen in allen Farben. Zu unserer Linken sehe ich eine Tür, ein weiterer Gang führt unserem Eingang gegenüber wieder hinaus - er scheint noch tiefer in die Erde zu führen, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, denn allmählich kann ich nicht einmal mehr aufrecht stehen! Während ich weiter den Blick schweifen lasse, sehe ich rechts von uns eine halbrunde Aussparung in der Wand, die mich unwillkürlich an eine Kapelle oder einen edlen Schrein denken lässt. Ein mächtiges Podest aus leuchtend weißem Marmor erhebt sich darin, fast eine Manneslänge empor (und ich meine nicht 'Zwergenmanneslänge'!). Nur die untersten Stufen sind von diesem wurmbefallenen Erdreich bedeckt, höher scheint es nicht einmal eine Staubschicht zu geben. An der Rückwand dieser 'Kapelle', wie ich sie jetzt einfach mal nennen möchte, sind drei gewaltige, königsblaue Banner herabgelassen, davor steht je ein Sessel, der eher an einen Thron erinnert. Allem Anschein nach wurden sie für Zwergenfürsten gefertigt - ich zumindest hätte meine liebe Not, mich darauf zu setzen (und würde mir dann vermutlich mit den Knien die Ohren zuhalten ...). Auf der linken und auf der rechten Schmalseite dieser 'Kapelle' erkenne ich eine Tür beziehungsweise einen Treppenaufgang - und aus dem Gang fällt ein sonderbar irisierendes Licht. So ein Leuchten habe ich noch nie gesehen - es scheint aus unendlicher Ferne zu kommen, und doch reicht es aus, um die ganze 'Kapelle' hell zu erleuchten. Während mein Blick erneut über die königsblauen Banner streift, fällt mir ein Vorfall aus dem Middenheimer Karneval ein, als eine Gruppe Gaukler sich in eben dieser königlichen Farbe gewandete und sich dadurch gewaltigen Ärger einhandelte. So etwas gilt in der Welt der Zwerge als ziemliche Anmaßung und zieht empfindliche Strafen nach sich. Die Menschen des Reiches haben das, soweit ich weiß, früher einmal genau so gesehen, aber mittlerweile zeugt blaue Kleidung vor allem davon, dass ihr Träger entschieden zu viele Kronen sein eigen nennt, mehr aber eben auch nicht. Aber ich schweife wohl ab...
Vorsichtig watet Monalon durch den Schlamm auf das Podest zu, doch auf halber Strecke bleibt sie an irgendetwas hängen und verliert das Gleichgewicht. Während sie stürzt, reißt sie mit einem Bein ihr Hindernis in die Höhe, und Magnus und ich können erkennen, dass es eine alte, völlig vermoderte Holzbank gewesen sein muss. Na prima - wenn hier wirklich einmal Tische und Bänke gestanden haben, gibt es bestimmt noch mehr solcher Stolperfallen!
Zwar ist die kleine Magierin schnell wieder auf den Beinen, aber man sieht ihr deutlich an, dass all die Würmer und das andere Getier, das jetzt über ihren ganzen Körper kriecht, sie zutiefst anekelt. (Hat sie nicht vorhin noch gesagt, ich solle mich nicht so anstellen, als ich das gleiche Problem hatte?!) Gemeinsam gelingt es uns aber dann doch recht schnell, die Magierin von diesem Übel zu befreien, auch wenn ich mich allmählich überhaupt nicht mehr auf den Beinen halten kann.
Auf das weiße Marmorpodest zu gelangen, das den Boden der 'Kapelle' darstellt, erweist sich dann doch als deutlich einfacher als zunächst vermutet, denn Magnus führt mich behutsam durch den Schlamm und tastest bei jedem Schritt zunächst vorsichtig umher, so dass wir dem einen oder anderen zerfallenen Möbelstück leicht ausweichen können, und dann haben wir auch schon die Stufen erreicht. Oben angekommen, eröffnet sich endlich die Gelegenheit, meine Schulter zu verarzten. Ich lege mich auf den Rücken und lasse die Prozedur klaglos über mich ergehen, während mein Blick immer wieder zu den gewaltigen Bannern hinüberwandert. Während ich noch darüber nachdenke, welcher Zwergenfürst hier wohl einst residierte (nicht, dass ich sie alle kennen würde, aber die Frage ist dennoch interessant ... finde ich), gelingt es Monalon, meine Schulter ebenso zu richten, wie sie es zuvor schon bei Magnus geschafft hat. Langsam scheint sie wirklich Übung in derlei Dingen zu bekommen. Was nur, wenn sie selbst mal schwer verletzt wird? Daran will ich jetzt gar nicht denken, außerdem fühle ich mich schon wieder sehr viel besser, und da sollte ich mich doch nicht in derart trübsinnigen Gedanken verlieren!
„Sag mal, Monalon, möchtest Du den Feuerkristall jetzt eigentlich behalten, oder...?“, will ich sie gerade fragen, doch plötzlich blicken mich meine beiden Gefährten äußerst merkwürdig an - fast als würden sie mir nicht mehr so recht trauen! Wortlos gibt Monalon den Stein an an Magnus weiter, der sich dann schweigend der Treppe zur Rechten zuwendet und mit langsamen Schritten hinaufstapft. Monalon folgt ihm sofort, und so tappe ich ein wenig frustriert den beiden hinterher - was war das denn jetzt, bitte schön? Eigentlich ist das doch mittlerweile schon irgendwie 'mein' Stein geworden!
Die Steinstufen sind flach und kurz, eindeutig für Zwerge gebaut - was den Aufstieg natürlich etwas mühsam macht. Der lange Magnus hat es da einfacher, der nimmt einfach bei jedem Schritt zwei Stufen auf einmal! Als wir schließlich oben angekommen sind, stehen wir im Eingang zu einem Raum, der zweifelsfrei eine kleine Bibliothek darstellt. In der Mitte stehen ein großer Lesetisch und mehrere Stühle, an allen Wänden sind große Bücherregale aufgestellt - allerdings sind diese nur äußerst spärlich gefüllt! Am meisten jedoch fasziniert mich ein großer, unbehauener Kristall, der genau in die Deckenmitte eingelassen ist: Er verströmt ein sonderbares Licht, hell wie der Tag, und doch unverkennbar anders. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben: Es fühlt sich an, als wäre dieser Kristall nicht etwa die Quelle des Lichts, sondern würde es von irgendeinem anderen Ort nur weiterleiten... Ich verstehe es nicht. Vielleicht wird Monalon mir das ja erklären können.
Quer im Raum verstreut liegen eine ganze Menge leerer Hüllen für Schriftrollen verstreut, und mir kommt mir der Gedanke, dass wir nun endlich die Möglichkeit haben, die Schriftstücke zu begutachten, die uns die Oger anvertraut haben.