Ich möchte scrandy zustimmen.
Das Spiel wird systemzentriert, wenn die Regeln zu abstrakt sind. Wenn nicht deutlich gemacht wird, welchen Inhalt diese Regeln erzeugen sollen. Beispiel: Kampfsystem, bei dem von Angriff, Ausweichen, Parade, Blocken usw. die Rede ist, aber nicht dargestellt wird, was das eigentlich bedeutet. Spieler, die vom Kämpfen wenig Ahnung haben, sind schlichtweg nicht in der Lage, abstraktes "Angreifen - Verteidigen" mit Inhalt zu füllen. Deswegen bleiben sie auf der Stufe der abstrakten Darstellung ("Ich greife an, hab' ne 5 gewürfelt").
Daraus leite ich probeweise einen Lösungsansatz ab:
Erst der Inhalt, dann die Regel. Das gilt für die Gestaltung von Regelwerken. Nehmen wir an, ich möchte die Fertigkeit "Feilschen" in mein Regelwerk einbinden. Außerdem möchte ich, dass das Feilschen im Spielprozess nicht systemzentriert wird ("Ich feilsche mit dem Händler. Fertigkeit 5, eine 4 gewürfelt." - "Der Händler hat eine 7 im Feilschen, eine 1 gewürfelt. Jo, er gibt nach, 10% Rabatt.") Also fange ich damit an, zu beschreiben, was Feilschen ist, wann und wie es angewendet wird, was dabei entscheidend ist, welche Kniffe es gibt usw. Ein paar Beispiele verdeutlichen das. Und dann unterlege ich diesen Inhalt mit einer Regel. Damit haben die Spieler nicht nur eine nackte Regel zur Hand, sondern einen Inhalt (um den geht es), der zusätzlich mit einer Regel versehen ist, die im Konfliktfall entscheidet.
Etwas sehr ähnliches hat Big Map berichtet: Es gibt zwar die Entfernungsfelder als Regelelement, aber es gibt auch den Inhalt dazu. Und der Inhalt wird in den Mittelpunkt gestellt, die Felder zeigen nur an, wo die Grenzen der Inhaltgestaltung sind.
Diese Ausführungen möchte ich mit einer Behauptung weiter oben verknüpfen. Ich habe postuliert, dass ein Regelwerk zwar Einfluss darauf hat, ob das Spiel systemzentrisch wird oder nicht, dass es aber auch von der Gruppe abhängt. Nehmen wir das abstrakte Kampfsystem als Beispiel: Eine Gruppe, die sich viel mit Kampf beschäftigt, z.B. Schaukämpfer, kann die abstrakten Kampfregeln eher mit Inhalt füllen als eine Gruppe von Spielern, die nichts davon versteht. In beiden Fällen bietet das Regelwerk keine inhaltliche Hilfestellung, aber die Gruppenressourcen als weiterer Faktor können das unter Umständen ausgleichen.
Eine weitere Hypothese:
Je weniger die Zielgruppe mit den Inhalten vertraut ist, die durch eine Regel repräsentiert wird, desto mehr muss der Inhalt von Seiten des Regelwerks erläutert werden. Es ist kein Wunder, dass gerade Kampfsysteme als Beispiele genannt wurden, bei denen das Spiel systemzentriert wird. Wer von uns zivilisierten Fuzzis hat schon Ahnung vom Kämpfen? Zumal vom Kämpfen mit mittelalterlicher Ausrüstung? Unser ganzes Wissen darüber beschränkt sich oft auf wenige Filmszenen, damit kann man nur eingeschränkt darstellerisch tätig werden. Zumal die darstellerische Tätigkeit im Rollenspiel voraussetzt, dass alle Beteiligten das Gesagte verstehen und damit umgehen können. Wenn aber jeder eine eigene intuitive Vorstellung vom Schwertkampf hat, die jeweils auf ein paar Filmausschnitten basiert, ist die Chance, dass dabei ein ausreichender gemeinsamer Nenner (gemeinsamer Vorstellungsraum) zustande kommt, verschwindend gering. Die Regeln bleiben dann der einzige Halt, um Kampfsituationen zu lösen.
Dazu gleich noch eine Hypothese:
Je kleiner der gemeinsame Vorstellungsraum zu einem bestimmten Thema ist (z.B. Kampf), d.h. je weniger Schnittpunkte die Meinungen der Spieler in diesem Thema aufweisen, desto eher wird das Spiel systemzentriert.
Damit rücke ich einen Faktor ins Feld, der völlig unabhängig vom Regelwerk einen Einfluss darauf hat, ob das Spiel systemzentriert wird oder nicht.
Und weil es gerade Spass macht, noch eine (wilde) Hypothese:
Wenn in einem Rollenspielsystem (Regeln + Hintergrund) zu einem bestimmten Themenfeld (Kampf, Intrigen, Magie usw.) die Regelbeschreibungen mehr als 30% des Inhalts ausmachen, dann ist das Spielen mit diesem Regelwerk prädestiniert für systemzentrisches Spiel.