Noch ein paar Minuten, dann wird Paruline zu Baptiste gerufen. Schon zum Mittag durfte sie ihm als Vorkosterin dienen, und bereits dort wirkte er zu gleichen Teilen fröhlich und aufgeregt… er fand sogar ein, zwei nette Worte, die er Paruline gegenüber äußerte.
Am Ende des Essens, noch vor dem abschließenden Likör, den der Kalif sich immer gönnt, erging sich der Kalif in unklaren Andeutungen.
„Heute abend werden wir wichtige Gäste empfangen, meine Liebe. Ich möchte, daß Du eines Deiner Lieder für sie singst, das wird die richtige Einstimmung auf unser neues Vorhaben sein. Und wenn es gelingt, wirst Du noch wertvoller sein, als heute…“
Paruline ist zu lange Dienerin gewesen, als dass sie es gewagt hätte, ungefragt zu reden, doch bis zu diesem Moment blieb das dumpfe Gefühl einer Bedrohung in ihr zurück, dem Nachgeschmack des vergorenen Lärchenbluts ähnlich, das die Sklaven von Lord Orleander häufig als einzige Speise bekommen.
Diese Gedanken nehmen die Zeit an, in der Paruline in die aufwändigen Kleider gekleidet und nach Art der ammenitischen Kurtisane geschminkt wird. Schließlich steht sie hinter dem hellen Seidenschirm auf der Bühne, die der Kalif in seiner Tafelhalle bauen ließ. Sie nimmt auf dem Hocker Platz und greift nach der ammenitischen Harfe. Das Instrument sollte ihr Halt geben, doch auch nach all diesen Jahren fehlt der vertraute Schwung der khaleanischen Leier.
Während sie die Harfe leise nachstimmt, nimmt Paruline wie immer die Stimmung ihres Publikums auf, dass trotz der sanften Klänge des Instruments keine Notiz von der Sklavin nimmt. Sie hört den Kalifen, der wie immer wenn er Plauderlaune vortäuscht mit Carlo und Raúl – dem Koch und seinem Zwillingsbruder, dem Vorkoster – ein angeregtes Gespräch über den Inhalt seines Weinkellers führt.
Außerdem sind drei weitere Gäste anwesend: Alina von Ruman, begleitet von einem eigenen Vorkoster; eine Frau namens Ysabel, die von Ariana bedient wird; und ein weiterer Mann, dessen Stimme Paruline bisher nicht gehört hat. Er spricht laut und bestimmt, wie jemand der es gewohnt ist, Befehle zu geben. „Mein Kalif, ich danke Euch für dieses ausgezeichnete Mahl. Vielleicht erlaubt Ihr mir, Euch eine Kiste maldorischen Brandys zu schenken, die wir gemeinsam probieren?“ Der Kalif antwortet ungewohnt … weich und entgegnet mit einem „Sehr gerne, General Lavelle. Doch auch ich habe noch etwas vorbereitet, daß uns den Abend versüßen soll. Eines meiner besten Stücke, will ich meinen. Und da es – sollten wir erfolgreich sein – in naher Zukunft keinen Nachschub mehr geben wird, soll diese Vorführung die Unternehmung Blätterfall segnen.“
Das ist das Stichwort. Zwei Lakaien betreten die Bühne und tragen den Seidenschirm zur Seite. Die Gäste und der Kalif sehen die Sklavin, hinter ihr ein Hausdiener de Maires, der ihr hin und wieder Wasser reicht. Paruline weiß, daß ihre Vorgängerin auf dieser Bühne ihre Abschlußvorstellung gegeben hatte, weil der Kalif mit ihrem Vortrag nicht zufrieden gewesen war. Wenn man es wußte, konnte man noch die dunklen Flecken auf dem Podest erahnen…
Paruline wirft einen flüchtigen Blick auf das Publikum und verharrt einen Augenblick bei Ysabel, deren Gesicht starr vor Schreck auf die Sklavin auf dem Podest gerichtet ist, ganz so als hätte die Ammenitin einen Geist gesehen. Und auch Paruline spürt eine vage Vertrautheit im Schimmern der Haare und in den grünen Augen mit den blauen Sprengseln…