Parulines Kleid war durch das Unterholz zerrupft, und ihre parfümierten Haare waren voller Blätter und Zweige, aber sie war dennoch verdammt glücklich als sie über den heimatlichen Boden schritt. Es schien fast so, als hätte der Wald sie nie vergessen und sie schon erwartet. Fröhlich lachend rannte sie die Hügel hinauf um das Gras unter ihren nackten Füssen zu spüren, rollte die andere Seite des Hügels hinab und blieb dann sitzen, um die frische Luft des Landes der Khale zu atmen, die so anders ist als die der Ammenistadt, die fast so verdorben und tiefschwarz wie die Seelen ihrer Einwohner ist.
Ihre natürlichen Instinkte führten sie ihrem Stamm entgegen, und trotz der Unwegsamkeit des Dschungels schien sie geradezu zu fliegen. Schließlich veränderte sich die Umgebung um sie herum, und das grün wurde noch intensiver, das Licht noch gedämpfter, und gedimmte, für das nicht hierher gehörende Auge unsichtbare Pfade aus Mondlicht überlagerten die Trampelpfade der Tiere...
* * *
Die junge Sängerin saß am Feuer und lauschte aufmerksam den Worten ihres Gegenübers. Das Feuer spiegelte sich in den beiden Broschen, die Bluse und Rock zusammenhielten - eine einfache Bekleidung, aber die Bekleidung aller khaleanischen unverheirateten Frauen. Das von ihm ausgehende Licht erstreckte sich an ihr vorbei an die dicht stehenden, urtümlichen Mondbäume und verschluckte sich im Unterholz und den Blätterkronen.
Der letzte Mondbaum von ganz Khale fiel vor 200 Jahren den Äxten von Plünderern aus Quek zum Opfer. Die Krieger des Hirschkopfstammes spalteten allen den Schädel, aber es konnte diese Pflanze nicht retten. Es konnte die Pflanze nicht in Khale retten, besser gesagt - aber hier in der grünen Welt überlebt sie und gedeiht durch die Erinnerung und Legenden, wie auch so manches andere.
"...und so wie es sich damals begab mit der Blutpest, so wiederholt es sich heute." beendete der Mann ihr gegenüber seine Geschichte.
Der unkundige Betrachter würde in ihm einen Dreißigjährigen sehen, mit einem altmodisch aber zeitlos schön wirkendem Bart, dem gestählten Körper eines Kriegers und einem treuen, starken Breitschwert an der Seite mit antikem Zierrat.
Paruline ist aber keine unkundige Betrachterin - sie weiß dass Cedric der Starke, Bezwinger der Blutpest und Töter des Drachen vom Quell des Uisge Màere (wie der Maire vor dem Sieg der Ammeni hieß) eigentlich schon seit mehr als 300 Jahren tot sein sollte.
Cedric legt ihr eine Hand auf die Schulter.
"Mein Kind, nun weißt du was geschehen ist, wie deine Ahnen die Blutpest besiegt haben und wohin man mit welchen Waffen reisen muss, um sie aus dieser Welt zu bannen. Wirst du gleich aufbrechen?"
Paruline schüttelt den Kopf - nicht energisch und ruckhaft, aber entschieden und standfest.
"Ich kann nicht zu Speer und Schild greifen - mein Stamm ist auf meine fruchtbaren Lenden angewiesen um zu überleben, und wenn ich durch das Schwert des Feindes sterbe wird kein Nachkomme da sein um mein Leben, meine Taten und mein gutes Werk zu besingen.
Außerdem ist mein Werk auf der Welt ebenso getan wie deines, und ich bin des Daseins dort unten müde."
Sie pausiert einen Moment.
"Zwar werde ich hierbleiben und mein Leben still und sanft als gute, treue Stammesfrau verbringen ohne jemals wieder einen Fuß auf Nah zu setzen - aber andere Leute werden mein Wissen und mein Werk weitertragen, und wer weiß, vielleicht werden sie meinen und deinen Ruhm mehren und sicherstellen, dass wir auch in 300 weiteren Jahren weiterhin besungen und nicht vergessen sind."
* * *
Ferdinand war abends in seinem Gemach zugange. Mit dem Licht des Mondeinfalls und vielen glänzenden und funkelnden Kandelabern gegen die Dunkelheit gewappnet blättert er wieder und wieder durch die Berichte seiner Untergebenen zur Blutpest, zum Zustand Arianas und der vielen anderen alltäglicheren Projekte, Spionagen und Intrigen, mit denen sich ein führendes Mitglied eines führenden Handelshauses herumzuschlagen hat. Die restlichen Dinge sind in jenem oder diesem Zustand, vieles Früchte tragend, weniges offensichtlich fehlgeschlagen und das meiste noch in der Schwebe, aber zu seinem Hauptproblem gibt es bisher weder handfestes noch erfreuliches - kein Wunder, wenn Arpok erst heute darauf angesetzt wurde. Und auch kein Wunder wenn am gleichen Tag Paruline entlief und so sein wertvollstes Tauschgut gegen das Wissen des Generals entfleucht ist.
Plötzlich zieht vom offenen Fenster her ein Windhauch in den Raum, und ein seltsamer, würziger Geruch von zerriebenen Nadeln eines exotischen Baumes wird von ihm mitgetragen. Hätte Ferdinand sich je selbst intensiver mit Giftpflanzen befasst, anstatt seine Untergebenen darauf anzusetzen, dann wüsste er nicht nur dass es der charakteristerische Duft des Mondbaumes ist - er wüsste auch dass der letzte auf Nah vor 200 Jahren fiel.
Noch ehe er weiß was los ist raschelt es im Baum gegenüber dem Fenster, und eine schlanke dunkle Silhouette hebt sich vom vollen Mond ab als sie vom Ast springt und exakt auf der Fensterbank landet. Ein bläulicher, feiner Schimmer geht von ihr aus, der nicht menschlicher Natur sein kann.
Sie rutscht von der Fensterbank, fängt sich graziös auf und tritt vor. Ihre Schritte sind gelassen, aber angespannt, ähnlich wie bei einer Raubkatze die ihr Revier patrouilliert und noch nicht weiß ob es heute Spaziergang, Spiel, Jagd oder den letzten Kampf gibt.
Als sie ins Licht tritt ist mehr zu erkennen. Sandbraune, dünne Zöpfchen umwogen sie bei jedem Schritt, und ihre Kleidung beschränkt sich auf einen aus Schilf geflochtenen Bikini. Die helle Haut und die spitzen Ohren verraten dass es eine Elfe sein muss. Die rituelle Bemalung auf ihrem Körper weist die Frau als jemanden aus dem Land der Khale aus, der weder auf der Jagd noch auf Kriegszug ist, aber auf Späheinsatz - mit der Option jederzeit das eine oder das andere daraus zu machen.
"Du bist Ferdinand? Ferdinand de Maire?"
Sie schleicht um den Mann an seinem Schreibtisch herum und taxiert ihn dabei, ähnlich wie die Wildkatze den Palmmarder betrachtet während sie überlegt ob er schmackhafte Beute - oder würdiger Gegner - oder Grund zur Flucht ist.