- Der Charakterbau: Individualisierung über Edges und Stufen (oder vielleicht eher ein Mittelding aus Stufen und Kaufsystem?). Das erfordert auf jeden Fall eine Umgewöhnung - ich weiß nicht, ob ich vielleicht auf Dauer damit zurecht käme. Desweiteren suggeriert mir das starre Charaktersystem eine "Endlichkeit" des Charakters, was bei mir automatisch dazu führt, dass ich den Charakter und seine Entwicklung durchplane.
Die Charaktere bei SW sind NICHT "endlich". Es gibt keine "Obergrenze", keinen Level 20 (3E), keinen Level 30 (4E), keinen Grad 15 (Midgard), usw., wo man seinen gesamten "Lernplan" vom ersten XP bis zum letztmöglichen Stufenanstieg durchgeplant haben müßte.
Zum einen ist das Aufsteigen im Legenden-Rang (ab 80 XP) NACH OBEN OFFEN.
Unsere Fantasy-Kampagne hat aktuell Charaktere mit über 160 XP - und die sind zu KEINEM Zeitpunkt langfristig vorgeplant gewesen, da sich im Laufe der gespielten Abenteuer immer wieder NEUE Anforderungen und NEUE Interessensgebiete für die Charaktere ergeben hatten. - Man braucht bei SW eben KEINEN optimierten "Character Build", wie er endlose Threads zu D&D 3E füllt. - Man muß sich nur beim Aufstieg entscheiden, was man an "Portion" Kompetenzzuwachs im Moment gerne hätte. - Man KANN optimieren, was sich aber in nur wenigen, voneinander abhängigen Edges äußert. - Niemand MUSS optimieren.
Feedback, welches ich von relativ neu bei D&D 3E eingestiegenen Spielerinnen bekommen habe: Bei Savage Worlds muß man wenigstens seinen Charakter nicht von Stufe 1 bis 20 durchplanen, um mit den anderen, erfahreneren Spielern überhaupt mithalten zu können. Hier versuchen einen die Mitspieler nicht ständig zu drängen, den eigenen Charakter doch so oder so und mit der Prestigeklasse und dem Zauber usw. zu optimieren. - Diese Spielerinnen fühlten sich bei 3E unter "Optimierungsdruck" seitens des Regelsystems und der Mitspieler gestellt. - Der fällt bei SW weg. Da spielt man "einfach so".
Zum Aufstieg/Level-Up: Auch bei GURPS und anderen Punkte-Kauf-Systemen kommt für einen Charakter mal der Zeitpunkt, wo er eine Fertigkeit steigern oder einen Vorteil hinzuerwerben möchte. - Da SW nicht so feingranular ist, sind diese Zeitpunkte gröber und der Kompetenzzuwachs kommt in einer entsprechend gröberen "Portion". - Aber auch bei GURPS wird manch ein Rollenspieler vorausplanen wollen, damit sein Charakter all das kann, was er sich vorgestellt hat. Das ist bei SW nicht anders. - Und wer bei GURPS NICHT vorausplant, sondern das nimmt, was ihm gerade gefällt, der kann das auch bei SW. - In beiden Fällen ist der Charakter kompetenter geworden. Im einen Fall auf ein längerfristiges Ziel auf eine Vision hin, im anderen nach aktueller Lust und Laune und Lage der Dinge.
Ich sehe nicht, daß das Level-Up-Aufstiegssystem bei SW irgendwo Einschränkungen in einer Form macht, die ein KLASSEN-System mit sich brächte. - Hier sollte man schon deutlich unterscheiden. Vielfach, so meine Erfahrung, beruht die Abneigung gegen Stufensystemen eigentlich eher auf einer Abneigung gegen KLASSEN-Systemen, die enge Vorgaben machen, was man pro Stufe überhaupt lernen kann.
Auch Midgard hat Stufen(Grade), aber man kann jeweils (mehr oder minder) frei lernen (mehr oder minder, weil Midgard ein recht rigides Klassensystem hat). - SW kennt Ranks und mehrere Level-Ups pro Rank. Aber es schreibt NIEMANDEM vor, was auf welchem Rank zu lernen ist. - Und bei SW steigt man im Schnitt jede zweite Spielsitzung einen Level-Up auf. Somit ist hier ein KONTINUIERLICHES Lernen eingebaut. Es gibt keine wochenlangen Spielsitzungen, in denen man nur tausende XP akkumuliert, um dann endlich irgendwann mal einen Stufenanstieg in die nächste Stufe einer Klasse umzusetzen, der dann auf einmal, also ausgesprochen diskontinuierlich, gleich ein dickes Paket an neu gelernten Fähigkeiten mit bringt.
- Rohgerüst - fast überall wird berichtet, dass man SW nicht einfach so spielen kann, sondern es anpassen muss, Trappings bilden usw. Ich halte das für absolut zentral, und soweit ich verstehe werden offiziell diese Trappings eigentlich nur für Magie vorgesehen. Für mich müssten diese Trappings ganz klar im Vordergrund stehen, ich verstehe jedenfalls nachdem ich mich mehr mit den Trappings beschäftigt habe, wie wichtig die mir eigentlich sind - und in anderen Systemen, die eben keine Rohgerüste sind, sind die "Trappings" ja jeweils mitgeliefert (DSA: Gebote der Götter, Artus-Sage: ritterliche Tugenden usw., banales Beispiel, aber mir scheint, dass Trappings ALLES sind, wenn ich möchte, dass mein Charakter auch Farbe hat).
Du vergleichst zum einen Rollenspiele für EINE KONKRETE SPIELWELT, wie z.B. DSA oder Pendragon. Hier ist das Regelwerk direkt mit den Gegebenheiten der Spielwelt verwoben. Die "Färbung" der Regeln ist "werksseitig voreingestellt" und kann nur mit Mühe geändert werden. - Klar kann man mit solchen Regelwerken auch andere Settings bespielen, aber hier muß man die Original-Settinginformation herausschneiden und dann den Regelkern transplantieren. Das ist sehr aufwendig und geht meist nicht ohne Verbiegen des Originals. (Das Original liefert einen Schraubendreher, man bräuchte für das neue Setting aber einen Inbus-Schlüssel.)
Ein GENERISCHES Regelwerk kommt OHNE SPIELWELT daher. Es wird "ohne Anstrich" geliefert. - Und nicht nur das: Es kommt in manchen Teilen als BAUKASTEN, wo man sich ENTSCHEIDEN muß, ob man lieber Kreuzschlitzschrauben oder Inbus-Schrauben verwenden möchte. - Das sind nicht nur Trappings, sondern - und SW sagt dies KLAR UND DEUTLICH im Spielleiterteil - das sind NOTWENDIGE ANPASSUNGEN, um überhaupt irgendein Setting mit Savage Worlds spielen zu können.
Ein neues Setting mit SW zu spielen ist wie die NEUINSTALLATION eines Betriebssystems auf einer ganz neuen Rechnerplattform. Man muß hierzu gewisse Informationen haben über die neue Plattform (z.B. gibt es Magie, wie sieht die Technologie aus, welche Fertigkeiten werden hier gebraucht bzw. sind überflüssig, welche Vorteile/Nachteile kann es überhaupt auf dieser Welt geben, braucht es komplett neue Elemente wie neue Skills, Edges, Hindrances, Powers, Monster, Spielercharakterrassen, usw.?). Diese Setting/Plattform-Informationen verwendet man, um dem "geschmacksneutralen" Grundregelgerüst das Setting-FLEISCH zu verpassen, daß man damit überhaupt spielen kann.
Diese Fragestellung hat man bei JEDEM generischen Rollenspielregelsystem. Ob man Fate oder BRP oder D20 Modern SRD oder GURPS oder andere generische Regelsysteme nimmt: OHNE SETTTING KEIN SPIEL.
So gesehen finde es NICHT gerechtfertigt einem GENERISCHEN Regelsystem wie Savage Worlds zum Vorwurf zu machen, daß es ohne Setting daherkommt und man es anpassen muß. - Das ist der SINN eines generischen Regelsystems!Savage Worlds kauft man, weil man damit eines der vorgefertigten Savage-Settings spielen will - in diesem Fall ist die Anpassungsarbeit für den Spielleiter schon erledigt! Oder man kauft es, weil man SELBST ein Setting mit Savage Worlds erschließen möchte - in diesem Fall WILL man ja die Anpassung BEWUSST selbst in die Hand nehmen. - Ein Mittelding ist die Verwendung einer der zahlreichen Conversions, wo jemand anderes den größten Teil der Anpassungshandreichungen bereits getan hat.
Wenn man mal gelernt, wie man generische Regelsysteme (egal welches davon) VERWENDET, dann stellt sich die im zitierten Abschnitt geäußerte Fragestellung überhaupt nicht.
Zu Trappings: Trappings sind PROMINENT im Powers-Kapitel. Aber gerade im - wie ich finde - für den Spielleiter, der ja ein Setting adaptieren muß, wenn er nicht eines der vorgefertigten Settings spielen möchte, ausgesprochen WICHTIGEN und NÜTZLICHEN Spielleiterkapitel wird direkt vorgeschlagen, wie man die Trapping-Idee bei Setting-Adaptionen eben auch auf andere Spielregel-Elemente anwenden kann.
Und das ist ja auch eine VERDAMMT GUTE IDEE.
Ich hatte z.B. bei meiner Babylon-5-GROPOS-Runde keine Lust lauter NEUE Spielwerte für die ganzen Waffen und Ausrüstungen auszudenken. Das macht MIR keinen Spaß (anderen vielleicht schon). - So habe ich einfach die Waffen aus Tour of Darkness genommen, ihnen einen anderen Namen verpaßt und sie als "Plasma-Waffen" und dergleichen bezeichnet. - Paßt. - Sie erfüllen auch mit anderem Namen und denselben Spielwerten ihren Zweck, daß sie Leute töten können.
Zur "Farbe" des Charakters: Wenn Du schreibst, daß Deinem Eindruck nach "Trappings alles sind, damit Dein Charakter auch Farbe hat", dann stellt sich erst einmal die Frage, was Du alles unter "Farbe" verstehst. - Ich kann, da ich hier gerade schreibe und nicht auf Deine Antwort warten möchte, solange es mir "in die Tastatur fließt", erst einmal MEINE Sicht auf "Farbe" eines Charakters geben:
Ein Charakter bekommt Farbe durch sein Charakterkonzept (welches bei SW ja über Common Knowledge besondere Spielrelevanz bekommt). Das unterscheidet schon mal einen freigelassenen Ex-Gladiator von einem Karriere-Zenturio einer einflußreichen Senatoren-Familie, auch wenn sie dieselben Wert in Fighting haben mögen.
Dann bekommt er Farbe durch seine Hindrances. Die Nachteile, und vor allem deren konkrete Ausprägung, sind nicht einfach nur blasse Tünche, sondern kommen im Spiel ja in entscheidenden Situationen zum Tragen. Ein Lawman im Weird West mit Code of Honor hält sich an das "Law of the West", wonach man einem Gegner z.B. nicht in den Rücken schießen darf, usw. - Ein Indianerkrieger mit Code of Honor ist Mitglied einer der Krieger-Gesellschaften seines Stammes und hat keinerlei Probleme damit einem Gegner in den Rücken zu schießen. Jedoch wenn er diesen Gegner als seinen Coup zählen will, dann muß er ihn erst vorher mit seinem Coup-Stick berührt haben, damit er auch mit einem Schuß in den Rücken seinen Mut beweisen konnte. Derselbe Nachteil, aber unterschiedliche PRAKTISCHE Auslegung und ganz unterschiedliche Komplikationen, die dieser Nachteil für den Charakter mit sich bringt.
Die Fertigkeiten und die Ausprägung, WAS diese Fertigkeit im Rahmen des Charakterkonzepts für den Charakter bedeutet, ist ein weiteres Mittel zur "Farbgebung". In einem High-Tech-Setting kann Lockpicking das Umgehen von elektronischen und mechanischen Sicherungsmechanismen sein. Es kann aber auch das Hacken von gesicherten Bereichen im Cyberspace bedeuten. Ein Charakter, der als Einbrecher konzipiert ist, der aber vom Hacken keine Ahnung hat, muß somit persönlich nah ran an die Sicherungsmechanismen, um sie auszuschalten. Ein Charakter, der als Hacker konzipiert ist, muß eigentlich seinen Arsch nicht bewegen, während er in die kritisch gesicherten Data-Warehouses von Großkonzernen "einsteigt". Das Charakterkonzept bestimmt hier, in welcher Ausprägung ein und derselbe Skill zur Anwendung kommen wird.
Edges sind natürlich DIE PROMINENTESTE Individualisierungsmöglichkeit bei SW. Und zwar OHNE von Trappings Gebrauch zu machen unterscheiden sich die Charaktere schon allein aufgrund ihrer Edges. Es gibt VIEL MEHR Edges als man selbst weit in den Legendary Rank lernen könnte, so daß man kaum einmal zwei Charaktere mit gleicher Edge-Konstellation finden wird - diese hätten dann ja auch DAS IDENTISCHE Charakterkonzept, so daß sich die Spieler eventuell hätten absprechen sollen, ob sie wirklich BEIDE die 1:1-Kopie des anderen haben wollen (es kann sogar eine richtig coole Sache sein, wenn sie TATSÄCHLICH gleiche Konzepte haben - die Rivalitäten, die dabei aufkommen WERDEN, lassen schon spannende Charakterinteraktion erwarten).
Powers sind natürlich sowohl bei der Wahl der ART der übernatürlichen Fähigkeit schon einmal regeltechnisch unterschieden (und haben je nach Art ja auch ihre besonderen Regeln - siehe Rückschlag, Hirnbrand, Sündigen, Fehlfunktionen usw.). Dann kommt die Auswahl der konkreten Powers. Es gibt immer MEHR Powers, als man auch bis weit in den Legendary Rank lernen kann, so daß hier allein schon die Unterscheidung, der STIL des Charakters deutlich wird. Artillerie-Magier, Beherrschungs-und-Beeinflussungs-Psioniker, Speedster-Superheld, Rocketeer-Weird-Scientist, Natur-Priester/Druide. Und dann natürlich - auch wieder vom Charakterkonzept und der Art der übernatürlichen Kraft IN DER SPIELWELT(!) abhängig: die Trappings. Hier fließt natürlich die Spielwelt mit ein. In einer Welt wie 50 Fathoms ist die Magie entlang der klassischen vier Elemente ausgerichtet. In einer anderen Spielwelt ist sie auf das Beherrschen von Runen ausgerichtet. In einer weiteren Spielwelt ist sie völlig frei wählbar, mit einer Tendenz zu funkelnden, weithin sichtbaren Zaubereffekten in bestmöglicher Computergraphikqualität.
Ausrüstung. Klar. Seit D&D-Urzeiten gibt es immer Charaktere, die sich mehr über das, was sie HABEN definieren, als über das was sie SIND. - Also statt Krangor der Gladiator, statt Krangor der Nordlandbarbar, statt Krangor der Starke, eben Krangor, der Meister der Schwarzen Runenklinge oder Krangor, der Herr der Wilden Bestien. - Ausrüstung, wozu ich auch dressierte Tiger oder bißfreudige Reitechsen zähle, hat schon immer zur "Farbgebung" bei Charakteren beigetragen. Und diese Ausrüstung wird natürlich auch durch ihre Ausprägung gestaltet. - So wird der ehemals einer reichen Plantagenbesitzerfamilie entstammende, gepflegte Glücksspieler eben einen versilberten Colt mit Perlmutt-Griffschalen führen, während der desillusionierte Deserteuer aus der US-Armee einen alten ramponierten Armee-Revolver führt, den er dem Offizier abgenommen hat, der ihn am Desertieren hindern wollte. - Beide haben dieselben Spielwerte. Das ist "Farbe".
Wenn ich von MEINER Sicht auf "Farbe" bei Charakteren ausgehe, kann ich Deine Darstellung im oben zitierten Beitrag nicht nachvollziehen.